Fußballgeschichten
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© Dr. Ronald Henss Verlag
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Kurzgeschichten - Erzählungen - Geschichten - rund um das Thema Fußball
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Oli, der Zweite © Michael Birken Tschuldigung. Auch wenn es hier nicht um die WM geht, handelt es sich jetzt trotzdem um realen Fußball. Ich war nämlich einmal Torer bei der Armee. Nicht bei der Bundeswehr, sondern bei der NVA (Nationale Volksarmee der damaligen DDR). Ich war in einer großen Kaserne stationiert, in der es allen Scheiß wie Sturmbahn und so weiter gab. Als Gefreiter mit dem Bandmaß (Tage-Abwärtszähler) in der Hosentasche, wurde ich plötzlich von einer Minute zur anderen versetzt. Ich wurde zu einem ganz kleinen, abgelegenen Stützpunkt gebracht, in dem meine beruflichen Fähigkeiten gefragt waren, die ich auch einigermaßen hatte. Es gab dort mehr Offiziere als wehrpflichtige Soldaten. Eigentlich gar keine Soldaten, denn wir waren zwei Gefreite. Ich wurde bei meiner Ankunft von einem älteren Major empfangen, der lächelnd zu mir sagte: "Bürgen? Hier gibt es keinen Frühsport, hier hast du deine Ruhe. Du gehst am Morgen auf Arbeit und arbeitest. Und wenn um viere Feierabend ist, ist Feierabend." Das hörte sich freilich gut an. Kein witzloser Frühsport? Kein witzloser Gefechtsalarm? "Wieviel Tage hast du noch?", fragte der Major. Hoi. Ich war verunsichert. Ein hochrangiger Offizier fragte mich so etwas? "Na los, Bürgen, zeig mir dein Bandmaß!" Und so tat ich es. Es war ein kleines Mini-Scheißhäuslein aus Sperrholz mit Herzchen in der Tür, welches ich mir einmal gebastelt hatte. "Aha, Bürgen, noch achtundachtzig Tage. Wegstecken!" "Was?" Ich konnte das nicht fassen. Bandmaße durfte man nie hervorholen und zeigen, die wurden sonst sofort konfisziert und vernichtet. "Wegstecken! Bürgen, es wird hier zwei Mal in der Woche Fußball gespielt. Das ist besser als jeden Tag Frühsport, oder?" Er lächelte mich wieder an. "Fußball?" Dieser Mann war mir vollkommen sympathisch geworden. "Das ist schön." "Stimmt! Und jeder spielt mit! Auch du!" "Hä? Genosse Major, ich bin fußkrank und kann gar nicht rennen, wenn ich ..." "Fußkrank? Dann gehst du eben ins Tor! Hähä." Der Major lächelte mich wieder an. "Da musst du nicht so viel rennen ..."
Der Diensgradhöchste in diesem Stützpunkt war ein Oberst, der aber trotzdessen dem zwei Dienstgrade niedrigeren Major unterstand. Und dieser Oberst musste dem Befehl des Majors folgen, ebenfalls Fußball zu spielen. Er spielte von sich aus gern Fußball, auch ohne Befehl. Wenn er den Befehl zum Fußballspielen verweigert hätte, wäre gar nichts gewesen. Eigentlich war das ja alles nur Spaß und sollte dazu dienen, dass niemand erinrostet, wie der Major meinte, der aber selbst nicht mitspielte und als lächelnder Zuschauer am Spielfeldrand stand. Dieses Spielfeld war viel kleiner als das eines richtigen Fußballplatzes, die Tore höchstens vier Meter breit und die Elfmeterpunkte wurden ungerechterweise nur eingeschätzt, wie ich es später zu spüren bekam. Gut. Das erste Spiel sollte beginnen. Ich stand in meinem Tor und war aufgeregt und ängstlich wie ein Sparschwein, vor dem ein Hammer liegt. Von meinem gegnerischen Torwart wusste ich, dass er Feldwebel war. Er stand auch in seinem Tor. Und die Aufgabe der Torwarte war es, vor Spielbeginn die Mannschaften zusammenzustellen. Davon hatte ich nichts gewusst. Zwölf Spieler standen zu Auswahl. Mein gegnerischer Torer wählte als erstes den Oberst. Nun war ich dran. Ich wählte den einzig anderen Gefreiten, der außer mir dabei war. Er hieß Gerhard. Das ging dann hin und her, bis zwei Sechsermanschaften gebildet waren. Ich geriet nahezu in Panik, als eine Trillerpfeife ertönte. Aha, der Major am Spielfeldrand war also nicht nur Zuschauer, sondern auch Schiedsrichter, ohne sich großartig zu bewegen allerdings. Ich hatte noch nie in meinem Leben Fußball gespielt, als Kind manchmal mit herumgebolzt, aber das war ja nur unbedeutender Unsinn gewesen. Und nun stand ich im Tor und hatte es mit erwachsenen Männern zu tun, mit Offizieren und Unteroffizieren. Ein Fähnrich war auch dabei. Und Gerhard in meiner Mannschaft spielte gar nicht schlecht, wie ich es einschätzte. Aber die anderen ... Oje ... Ich, als absoluter Laie, sah, dass sie fußkranker zu sein schienen als ich. Die Gegner liefen wie die Wiesel, meine Jungs gaben sich bis auf Gerhard wie Pilzsucher. Und es konnte nicht ausbleiben, dass ich dass erste Tor hereingedrückt bekam. Das hatte mir ein Unteroffizier angetan. Das zweite ein Offizier, das dritte der Fähnrich. Die Reihenfolge kann anders gewesen sein; jedenfalls war Gerhard drauf und dran, auszurasten. Er wurde von den fünf Blindschleichen als Kapitän anerkannt und sie kamen daher um zwei Prozent mehr in Bewegung. Und endlich, nachdem es 1:7 stand, weil Gerhard ein Tor geschossen hatte, verloren seine Jungs ihre Leck-mich-Mentalität und begannen damit, allmählich zu stürmen. 2:7. 3:7. Dann 3:8. 3:9. 4:9. 5:9. Ein dramatisches Spiel. Trotz des jämmerlichen Spielstandes, setzte ich auf Gerhard. Er war meine Hoffnung. Er enttäuschte mich auch nicht, denn es stand schon bald 6:9. Und nun passierte etwas, wovor sich jeder Torhüter sicherlich am meisten fürchtet. Da hatte doch ein Spieler meiner Mannschaft einem gegnerischen ein Bein gestellt, worauf unverzüglich ein Pfiff aus einer Trillerpfeife ertönte. Das war der Major gewesen, der nun ein Elfmeter befahl. Er lächelte zu mir, weil ich nun ausbaden sollte, was ein anderer ausgefressen hatte. Dieses sichere Tor wollte der Oberst schießen. Ich hatte ja keine Chance, das wussten alle. Das war reine Formsache. Man hätte diesen Elfmeter auch weglassen und gleich 5:10 sagen können. Der Elfmeterpunkt lag bei fünf, sechs Metern vor meinem Tor. Der Oberst legte sich den Ball zurecht, ging ein paar Schritte zurück, während alle Spieler seinem Tun gebannt zusahen, dann nahm er Anlauf und der Ball kam wie ein Hammer auf mein Tor zugeflogen. Und ich hielt. Der Oberst sah mich fassungslos an, alle anderen auch, der Major lächelte nicht mehr und Gerhard bekam einen Lachkrampf. Die einfachsten Bälle hatte ich aus Schusseligkeit und Unvermögen an mir ins Tor vorbeihoppeln lassen, aber diesen Hammer hatte ich gehalten. Wir verloren trotzdem 7:17. Bei den späteren Spielen war das nicht anders. Wir verloren immer haushoch. Aber immer dann, wenn ein Elfmeter auf mein Tor und mich angesagt war, was nicht selten vorkam und welches prinzipiell der Oberst schießen wollte, machte er immer denselben Fehler: Er schoss direkt auf Mann, nämlich auf mich. Diese Bälle hielt ich nicht wie Oli, mir wäre es auch vollkommen egal gewesen, wenn der Oberst ein Tor geschossen hätte; diese Elfmeter hielt ich reflexartig, um mich vor diesen Geschossen zu schützen. Heute kann ich behaupten, dass ich derzeit besser als Oli war, weil es da noch gar keinen Oli gab. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art nur mit Zustimmung der Rechteinhaber. |
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