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Fußballgeschichten
© Dr. Ronald Henss Verlag
Kurzgeschichten - Erzählungen - Geschichten - rund um das Thema Fußball

Die Geisterstadt

© John Pearl

Man schrieb das Jahr 2006. Es war ein zur Neige gehender Sommertag wie er im Juli nicht besser hätte sein können. Die Sonne hatte den ganzen Tag ihr Bestes gegeben. Die Straßen waren staubig und die Bäume am Rand lechzten nach Wasser. Aber der letzte Regen war schon vor vielen Tagen gefallen und es sah nicht so aus, das in den nächsten Tagen eine Änderung zu erwarten wäre, denn die wenigen Wölkchen am Himmel machten keine großen Anstrengungen sich weiter zu bewegen. Die Luft lag still wie unter einer Käseglocke. Es war Sonntagabend. Die Sonne hatte ihr heutiges Werk fast vollbracht und näherte sich langsam aber sicher dem Horizont.

Noch war die Stadt voller Leben. Die Menschen eilten geschäftig durch die Straßen, bummelten durch die Läden oder hielten einfach nur ihre Füße in die vielen Springbrunnen, welche hier reichlich vorhanden waren. Autos fuhren durch die Straßen, Fahrradfahrer klingelten, Mopeds schlängelten sich durch den Verkehr. Alles war wie immer.

Und doch sollte etwas in dieser Stadt geschehen, etwas das hier noch nie passiert war, ein Ereignis das auch in den Seelen der Menschen die hier später leben werden, einen nachhaltigen Einschnitt hinterlassen wird. Die älteren, die es in wenigen Stunden miterleben, werden dann der jüngeren Generation, die jetzt noch vor dem Unfassbaren verschont bleiben, davon erzählen.

Noch wusste es niemand. Doch wenn man sich einige Gesichter, der jetzt noch fröhlichen und unbeschwerten Menschen näher ansah, erkannte man eine leichte Sorge und Unbehagen hinter dem lächeln. Bei einigen machte sich eine Ahnung breit und verursachte ein unwohliges Gefühl in der Magengegend, das auch bei noch so viel Ablenkung nicht weichen wollte. Es begann eigentlich schon vor Wochen und wer die Anzeichen richtig deuten konnte, hätte wissen müssen, welches Schicksal nun seinen Lauf beginnen würde.

Bruno Netzschke saß zu diesem Zeitpunkt im Flugzeug. Drei Wochen Urlaub lagen jetzt hinter ihm. Er hatte eine herrliche Zeit. Man konnte so richtig abschalten und an nichts anderes denken als an die eigene Erholung. Es sich mal gut gehen zu lassen, den ganzen Tag in der Sonne liegen, im Meer baden, sich selbst zu verwöhnen.

In Kenia war es schön. Er dachte zurück an die Sieben-Tage-Safari, die Fahrten mit dem Jeep durch die endlosen Weiten Afrikas und die vielen Tiere die er hatte filmen und fotografieren können.

Es war keine billige Reise, aber er konnte es sich leisten. Geld war reichlich vorhanden, musste er doch nur sich selbst versorgen. Er hatte eine gut bezahlte Arbeit, keine Familie, keine Kinder und nur eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung am Rande der Stadt.

Er drehte den Kopf zur Seite und schaute aus dem Fenster. Der Landeanflug hatte vor wenigen Minuten begonnen. Die Details der unter ihm liegenden Landschaft waren immer besser zu sehen. Diese Gegend erkannte er schon von oben, flog er doch oft von hier in die verschiedensten Länder der Erde, um die Welt kennen zu lernen. Bruno flog nicht unbedingt gerne, aber um hier weg zu kommen gab es eben keine andere Möglichkeit. Jedes Mal hatte er einen Kloß im Hals, wenn er sich dieser, für ihn unbegreiflichen Technik, auslieferte. Und so hatte er auch heute mit viel Mühe, dank seiner Gedankenkraft, das Flugzeug mehrere Stunden in der Luft halten können um jetzt sicher zu landen. Die Landung gelang, und Bruno war froh wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Er blickte auf seine Armbanduhr, eine teure Funkuhr von Junghans. 20.15 Uhr, fast auf die Minute pünktlich gelandet, freute er sich. Ganz entspannt konnte er jetzt seine Koffer in Empfang nehmen, sie in seinem Auto verstauen, das er auf dem Parklatz des Flughafengeländes geparkt hatte und die Heimreise antreten. Bis zu seiner Wohnung sind es etwa 25 Autominuten.

Er fuhr jetzt den Parkplatz hinaus, gewährte mehreren Taxis, die die angekommenen Fluggäste nach Hause transportieren wollten, die Vorfahrt, stellte die Klimaanlage ein und lehnte sich genüsslich in das Polster.

Während der Fahrt ließ er die letzten drei Wochen noch einmal an seinem geistigen Auge vorbeiziehen, ohne sich dabei sonderlich auf den Verkehr zu konzentrieren. Die Filme, die er mit seiner Kamera gemacht hatte, würde er gleich auf den Computer überspielen um diese am Montag bearbeiten zu können. Ebenso die Fotos seiner Digitalkamera. Die wollte er sich gleich ansehen und sofort zu einem Internetanbieter zum ausdrucken schicken.

Bruno lächelte vor sich hin und schaute versonnen aus seinem linken Autofenster zu der gerade untergehenden Sonne. Welch ein Anblick. Glutrot ging sie unter und erleuchtete die wenigen Wolken am Horizont in ebensolcher Farbe. Faszinierend war es und irgendwie auch unwirklich. Bruno legte den linken Ellenbogen auf die Türverkleidung gegen das Seitenfenster, umfasste lässig das Lenkrad und setzte mit der rechten Hand die Sonnenbrille auf. Er schaute wieder nach vorne um sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Doch etwas war jetzt anders. Es war nicht das gewohnte Bild, das er jetzt vor sich hatte, wenn er von seinen Reisen nach Hause fuhr. Obwohl alles an seinem Platz war, die Häuser, die Bäume, die Straßen und die flachen Hügel links und rechts von ihm, war irgendetwas nicht in Ordnung. Er hatte es bis dahin nicht gemerkt, weil er nicht aufmerksam genug durch die Straßen fuhr. Aber jetzt war er hellwach, vollster Konzentration. Das Lächeln war völlig aus seinem Gesicht verschwunden. Stattdessen hatte sich sein Mund leicht geöffnet und hätte sich darin eine Zigarette befunden, wäre diese heraus gefallen. Er griff nach der Sonnenbrille und legte sie wieder zurück auf das Armaturenbrett.

Die Geschwindigkeit seines Autos drosselnd, blickte er sorgfältig nach rechts und links. Schließlich hielt er an und stieg aus dem Wagen. War er noch vor einer Viertelstunde gemeinsam mit einigen Autos vom Flughafen losgefahren, so stand er jetzt völlig allein auf der Straße. An sich ist so etwas nichts ungewöhnliches, aber hier an dieser Stelle ist sonst immer Verkehr. Viele Menschen sind hier normalerweise unterwegs. Aber jetzt? Niemand zu sehen. An der Ampel etwas weiter vorn spielen die Lichter mit sich alleine. Dort stand nicht einmal ein Auto, das auf "Grün" wartet. Bruno dreht sich um, blickt in alle Richtungen, geht zu Kreuzung, horcht aufmerksam nach allen Seiten und überlegt. Schließlich hebt er den Kopf und schnuppert vorsichtig in der Luft. Nein, kein ungewöhnlicher Geruch, der auf einen Virus hindeutet. Bruno schüttelt den Kopf. Quatsch, Viren riechen kann man gar nicht. Er wollte lächeln, aber die Sorge um die Geschehnisse, die während seiner Abwesenheit in dieser Stadt seinen Lauf genommen hatten, ließen ihn wieder sein sorgenvolles Gesicht aufsetzten. Menschenleer war diese Stadt. Aber es fehlten nur die Menschen. Die Vögel auf den Bäumen zwitscherten wie eh und je.

Es fing jetzt an, langsam dunkel zu werden und Bruno setzte sich wieder in den Wagen, um seinen Weg fort zu setzten. Doch er fuhr nicht mehr weit. In einer Kneipe in der Nähe seiner Wohnung brannte Licht. Hier würde er erfahren können, was mit seiner Stadt geschehen war.

Er fasste zögernd an die Tür. Würde er jetzt etwas Schreckliches sehen? Menschen, dahingerafft, von einer nie da gewesenen Katastrophe? Er nahm allen Mut zusammen, drückte die Tür auf und trat ein. Zwei Augenpaare starrten ihn an. Das mussten der Wirt und seine Frau sein. Die beiden und auch die ganze Inneneinrichtung machten keinen besonders guten Eindruck. Schlichte und abgenutzte Tische und Stühle standen hier herum, die Gardinen nicht sonderlich gepflegt und noch uralte Dielung auf dem Boden.

Bruno, nun aber doch froh darüber, überhaupt wieder Menschen zu sehen, murmelte ein "Guten Abend" und setzte sich an einem der Tische. Immer noch unruhig, bestellte er sich einen Kaffee und ließ seine Blicke unaufhörlich über die Inneneinrichtung hin und her wandern. Was sollte er jetzt machen? Die beiden Wirtsleute standen hinter dem Tresen und starrten ihn wortlos an. Diese Situation hatte etwas Unheimliches an sich. Bruno fühlte sich nicht wohl auf seinem Stuhl, nestelte an seiner Kaffeetasse und blickte ständig aus dem ungeputzten Fenster. Was war nur passiert? Draußen bewegte sich einfach nichts und in der Gaststube standen nur die Wirtsleute und rührten sich nicht. Hatte doch ein Virus die Menschheit infiziert und die Beiden dort vorne waren die letzten Überlebenden. Sie waren bestimmt schon angesteckt und mussten jeden Moment umfallen. In der Gaststube war es drückend heiß. Bruno lief nicht nur deswegen der Schweiß den Rücken hinunter. Sehnsüchtig blickte er wieder zum Fenster, in der Hoffnung irgendetwas Lebendes zu sehen.

Ein Blick auf die Uhr: 21.54 Uhr. Sollte er jetzt die ihn quälenden Fragen stellen? Die Beiden musterten ihn immer noch von oben bis unten mit durchdringenden Blicken. Bruno nahm alle seine Kraft zusammen, richtete seinen Blick auf den Mann, öffnete den Mund und …

... draußen erhob sich von einer Sekunde zur anderen Ohrenbetäubender Lärm. Bruno sprang vom Stuhl, stürmte vor die Tür, während die Wirtsleute regungslos verharrten und blieb unvermittelt stehen. Auf den Straßen war wieder Leben, und was für ein Leben. Autos hupten, Menschen tanzten und schwenkten die Deutschlandfahne. Bruno verstand die Welt nicht mehr und versuchte zwischen dem Getöse herauszuhören was die Menschen so in Aufruhr brachte.

Und dann vernahm er das für ihn Unfassbare: Deutschland ist gerade Weltmeister geworden, mit 3:1 gegen Brasilien.

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