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Fußballgeschichten
© Dr. Ronald Henss Verlag
Kurzgeschichten - Erzählungen - Geschichten - rund um das Thema Fußball

Genau so wie früher!

© Jo Häselbarth

Mittlerweile habe ich es aufgegeben, die Jahre seit Tommys Verschwinden zu zählen. Gleich dem, wie sehr es mich immer wieder berührt, zu erfahren, dass man irgendwen, irgendwo, seit irgendwann vermisst! Ist ja auch egal, wie oft sich seitdem jener seltsame Tag wiederholte. Tommy ist und bleibt verschwunden, nachdem er einfach so gegangen, abgeschirmt vom wuchernden Dickicht des Waldes - auf nimmer Wiederkehr ...

Tommy avancierte sogleich nach seinem frühzeitigen Sprung in die erste Männermannschaft unumstritten zum besten Mittelfeldspieler der Liga! Er war der lebende Beweis dafür, dass man nicht unbedingt ganz nach oben schauen muss, will sich das Fußballerherz an filigranem Ballzauber erfreuen. Einer, für den das Spiel mit dem Ball einfach alles bedeutete, der es perfekt kontrollieren konnte und es gelebt hat, wie kaum ein zweiter unserer viertklassigen Kategorie. Und doch schien sich nicht einer dieser immer wieder auftauchenden Späher auf ihn zu konzentrieren. In meinen Augen glich dies einer Tragödie, denn im Gegensatz zu mir hätte Tommy garantiert im Profilager bestehen können. Dabei war und ist er mit Sicherheit nicht der einzige Ausnahmespieler, welcher umjubelt und doch verloren in niederen Ligen für Furore sorgt(e). Aber so läuft das eben auch im Fußball. Ganz genau nicht anders als sonst in Welt, wo sich eben nur sehr wenigen alle Tore öffnen. Dabei ist das Fußballspiel nun aber sicher kein Faktor, den die Welt zum Atmen braucht, oder?

Jedenfalls hat Tommy genau diesen Faktor zum Atmen gebraucht, wenn sich ihm auch niemals die Türen zu höheren Offerten öffnen wollten. Nicht einzig besagte Späher verkannten lange seine patente, wie menschliche Größe. Auch das Leben fernab des grünen Rasens stellte ihm so manches Mal ein Bein. Warum das so war, frag ich mich bis heut vergebens. Gewiss stellte Tommy keinen Adonis dar und kam auch nicht gerade sehr anziehend herüber mit seiner oberflächlich erscheinenden Art, der knochigen Statur, dem zottelig blassroten Kurzhaarschnitt und den vielen kleinen Narben im Gesicht. Außerdem hat man ihn ganz selten einmal in "normalem Klamotten" daher kommen sehen. Jogginganzug oder Arbeitskluft, etwas anderes schien er nicht zu besitzen. Dabei wusste ich sehr wohl, dass dies nicht so war. Der stetige Frohmut in seinem Gesicht jedoch stellte diese "erträglichen Makel" meiner Meinung nach spielend leicht in den Schatten - was die weibliche Zunft indes wohl nicht so sah. Bei uns in der Mannschaft allerdings galt er als das Nonplusultra! Schon beim Training und erst recht im Spiel, das er mit scheinbarer Leichtigkeit dirigierte, ging fast nichts an ihm vorbei. Besonders in kritischen Phasen richteten sich unsere Blicke mehr auf ihn als auf den Coach. Hier war der einzige Ort, an dem er so richtig aus sich heraus gehen konnte, an dem man seine Stimme so recht wahrnehmen konnte. Unwillkürlich zeugte ihm jedermann Respekt ab, selbst wenn seine Ideen fehlschlugen. Für uns Spieler war er der wahre Spielführer, wenngleich Franko die Binde bis zur Fußballerrente gepachtet zu haben schien. Meine Leidenschaft für den Fußball erblühte an Tommys Seite immer wieder aufs Neue. Es war einfach faszinierend, wie er es verstand, sich selbst und die halbe Truppe auf dem Feld in einen echten Rausch zu versetzen - dabei kannte ich es gar nicht anders von ihm, standen wir doch schon seit der Kindheit in unbelasteter Kameradschaft miteinander auf dem Platz. Von Anfang an war es an dem gewesen, dass ich hitzköpfig (wenn auch weniger verbal) versuchte, die Bälle rein zu machen, während Tommy hinter mir gelassen (dafür um so verbaler) mit dem Ball zu zaubern und zu dirigieren verstand. Unsere Wesensarten ließen es hierbei partout nicht zu, dass wir jemals ernsthaft aneinander gerieten, was ja unter den besten Freunden vorkommen soll! Nicht einer hat mir später die Bälle so butterweich zum Torschuss präsentiert, mit nicht einem habe ich später auf dem Rasen so problemlos harmoniert - bis zu jenem absonderlichen Tag, der Tag, der so vieles veränderte! Mein Gott, wie oft hab ich mich seitdem gefragt, warum der Herrgott ihn denn nicht einfach seinen Weg gingen ließ? Sah dieser denn nicht die fremden, wachsamen Augen, welche sich plötzlich von Spiel zu Spiel inniger auf seinen Ballzauber richteten?

Unser Boss auf dem grünen Rasen fügte sich fast willenlos in die Rolle eines unermüdlichen Knechtes, fand er sich daheim auf dem elterlichen Hof wieder. Zwei von seinen drei älteren Brüdern hatten sich frühzeitig aus dem Staub gemacht und führten mit Frau und Kindern ein ruhiges Dasein in einem der Nachbarorte. Der Älteste hingegen, welcher dem Alkohol hoffnungslos verfallen, sorgte störrisch dafür, dass Tommy neben seinem Job in der hiesigen Landmaschinenschlosserei noch genügend Plage auf dem Hof blieb. Der alte Herr, von den Leuten seit jeher nur "Sichelgustav" genannt, war ein ewig altbackener Knurrhahn, wie man ihn sich ungeselliger nicht hätte vorstellen können. Das einzige, was Tommy von ihm geerbt zu haben schien, war dieselbe strikte Abneigung jeglichen Alkoholgenusses gegenüber. Das gutmütige wiederum hat ihm allein seine Mutter, die von ganz oben nahe der dänischen Grenze stammt, mit auf den Weg gegeben. Eine schöne Frau mit pechschwarzen Haaren und ebensolchen Augen, die sich stets erhaben und leichtfüßig wie eine mondäne Prinzessin über ihre triste Fügung zu erheben schien. Niemand hätte geglaubt, dass dies die Frau vom "Sichelgustav" sei! Noch heute fristet sie, wenn auch seit einigen Jahren allein mit ihrem alkoholkranken Sohn, ein deprimierendes Dasein auf dem so langsam verkümmernden Anwesen. Ungerührt hatte damals immer die Familie auf die bescheidene Berühmtheit ihres jüngsten Sprosses reagiert. Nicht einer von denen interessierte sich auch nur annähernd für unseren Sport. Reichlich sonderbar fand ich es schon, wie auffällig sich Tommy von seiner eigentümlichen Sippe abhob - und trotzdem nicht im Traum daran dachte, sich sein eigenes Terrain zu schaffen…

Eines Tages, am Vorabend vor einem wichtigen Pokalspiel, überfiel mich meine damalige Freundin vor der Haustür mit der Hiobsbotschaft, dass sich der Tommy bei der Arbeit daheim schwer am Kopf verletzt haben solle! Eine ganze Weile lang soll er ohnmächtig vor einer der Scheunen gelegen haben, ehe der alte Herr ihn entdeckte. Der Krankenwagen hatte für höllische Aufregung in unserem sonst so verträumten Stadtteil gesorgt, während ich auf dem Heimweg von der Arbeit wie so oft im Feierabendstau steckte und von alledem nichts ahnte. Freilich ein Heidenschock bei uns allen. Die Leute waren auf den Straßen zusammen gerannt und ließen ihrer Betroffenheit freien Lauf. Dabei wusste man nicht im Entferntesten, ob und wie schlimm es um ihn bestellt sei. Es gab eben nicht einen Menschen weit und breit, der Tommy nicht mochte! Nur mit Mühe konnte mich meine Freundin davon abhalten, sogleich zu ihm in die Klinik zu fahren. Das Pokalspiel haben wir natürlich haushoch verloren.

Beim ersten Besuch im Krankenhaus erlangten wir zunächst den entlastenden Eindruck, dass es gar nicht so schlecht um Tommy bestellt war, wie wir alle angenommen hatten. Beinahe so, als wäre kaum etwas geschehen, konnte man sich fast normal mit ihm unterhalten - wenn ihm auch der gewohnte Frohsinn reichlich Mühe kostete. So planten wir direkt am Krankenbett gar schon wieder für den nahen Saisonabschluss mit ihm. Unser beider Blicke jedoch waren sich selbst in diesem Unsinn einig wie immer. Obwohl wir von den Pflegern und Ärzten nichts Eindeutiges erfahren konnten, glaubten auch ich mich sicher, dass er nichts Ärgeres als eine schwere Gehirnerschütterung davon getragen hatte. Tommy selbst konnte sich partout an nichts erinnern, was ja auch völlig normal war, wie ich es schon einmal gelesen hatte. Damit verflog die erste große Aufregung mit dem aufmunternden Wink zum Abschied quasi wie von selbst - bis mich wenige Tage später bei einem alleinigen Besuch die Realität unverhohlen heimsuchte:

Mein treuer Freund erschien mir so verdreht und fern, als wäre er inzwischen in eine völlig andere Haut geschlüpft! Ich erstarrte nicht einzig ob des bestürzten Anblicks, vielmehr deshalb, in keiner Weise vorgewarnt gewesen zu sein. Wie ein Häufchen Elend kauerte Tommy weltabgewandt allein und einsam in diesem leblos grellen Krankenzimmer. Flimmernd hell einfallende Sonnenstrahlen blendeten seine blinzelnden Augen, dem er schier hilflos ausgesetzt schien. Abwesend wie ein verdrossener, seniler Greis döste er auf diesem entsetzlichen Krankenbett vor sich hin - nur der bleiche Kopf lugte wie versteinert unter dem blassweißen Bettzeug hervor. Er, der er noch Tage zuvor als eleganter Athlet leichtfüßig rasant über den Rasen fegte! Mitleid und noch mehr Wut keuchte schwermütig aus meiner Kehle. Doch war ich es von je her gewohnt, meine Emotionen geschickt im Zaume zu halten. Ich schützte ihn erst einmal vor den schwelenden Sonnenstrahlen und stammelte dann mit zittriger Stimme irgendetwas Belangloses dahin, zugleich registrierend, dass ich ihn somit niemals aus dieser furchtsamen Lethargie erwecken konnte. Die bis dahin schrecklichsten Augenblicke meines Lebens. So tief in sich vergraben, so fahrig und angstvoll anmutend - das war nicht mehr der Tommy, wie ich in von Kindheit an kannte! Was nur war in den Tagen zuvor mit ihm geschehen? Ich verstand die Welt nicht mehr, ich verstand plötzlich überhaupt nichts mehr! Als ich (als wollte ich ihm in aller Verzweiflung einen Rettungsring zuwerfen) versuchte, in unserer alt gewohnten Art mit ihm zu scherzen, wandte er sich panisch ab, mit den Blicken trotzig das grelle Sonnenlicht suchend. Doch ich ließ nicht ab von seinen Augen, die sich Tränen unterlaufen röteten, während sein gestählter Körper fröstelnd zu zittern begann. Machtlos musste ich erkennen, wie unglücklich Tommy in seiner neuen, fremden Welt war, die ihn so rabiat überwältigt! Es war nicht einzig das Entsetzen, welches ihn mir so unsagbar fern erschienen ließ - es war vielmehr diese unabsehbare Distanz, die sich urplötzlich und unaufhaltsam zwischen ihm und mir und allem bisher gewesenem gedrängt ...

Wieder gab man mir keinerlei Auskunft. Eines jedoch wusste ich fortan schmerzlich zu deuten, nämlich dass es weitaus schlimmer um Tommy stand, als ein jeder bis dahin geahnt! Viel später erst konnte ich erfahren, dass selbst die Spezialisten vor einem Rätsel standen. Hatte doch alles zunächst daraufhin gedeutet, dass er nach ein paar Tagen wieder der Alte sein würde, doch dann kam alles ganz anders - und ich, ausgerechnet ich war es, der in dem Augenblick der Verlorenheit bei ihm war. Und nicht nur deswegen musste auch ich derjenige sein, das schwor ich mir, der ihn daraus befreit…

Neben seiner Mutter war ich gewiss der Einzige, dem Tommys Schicksal jeden Tag aufs Neue das Herz aufwühlte. Auf eine ganz besondere Weise fühlte ich mich für ihn verantwortlich. Ich musste ganz einfach für ihn da sein. Eine innere Stimme warf mir immer wieder zu, dass ich es ihm einfach schuldig bin, ja, dass er es ebenso für mich getan hätte! Die Opfer, welche ich dafür brachte, waren nicht gering. So manches wäre auch in meinem Leben anders verlaufen, hätte ich mich ihm nicht so verpflichtet gefühlt. Aber das ist eine Geschichte für sich, eine, die hier nicht hingehört, selbst wenn es ihr noch so sehr gebührt. Kaum mehr in der Lage, sich ohne Hilfe von einem Ort zum anderen zu bewegen, erregte sein Verhängnis allerseits Mitleid oder einfach nur "Interesse"! Zwar war er nie an den Rollstuhl gefesselt, doch musste man ständig mit Blockaden rechnen, die in minutenlang lähmen konnten. Tagtäglich auf den elterlichen Hof zurück gedrängt, an Rückkehr an den Arbeitsplatz nicht im Traum zu denken, war er nun noch mehr als früher der Schroffheit seines Vaters unterworfen, auch wenn dieser sich angeblich ein wenig auf seinen gehandikapten Sohn ein zu stellen versuchte. Ein Grund mehr für mich, ihn so oft es ging, aus jener Unbelebtheit heraus zu holen.

An einem ganz bestimmten Ort fing Tommys erschlafftes Ego bald wieder Feuer, genau so wie früher - auf dem Fußballplatz! Wenn auch nunmehr neben dem Platz, so war er doch hier noch immer einer von uns. Beim ersten mal, dass er wieder zum Training bei uns war, riss es nicht nur mir fast das Herz aus dem Leib, als er völlig ungelenk einem der Bälle hinterher eilte und sein "geliebtes rundes Leder" sodann stolz und glücklich an sich presste. Wie einen kostbaren Juwel hielt er den Ball während der ganzen Zeit fest auf seinem Schoß. Nicht ein Einziger auf dem weiten Trainingsgelände, dem dieser tragisch glückliche Umstand nicht unter die Haut ging. Joki, unsere Keeper bekam einen Weinkrampf. Oswald folgte ihm unauffällig in die Kabine. Es war furchtbar und doch so großartig. Nur hier konnte und mochte sich Tommy wahrhaft geborgen fühlen. Hier zeigte er Emotionen, hier blühte er auf - und hier, nur hier, wurde ihm die Aussicht gewährt, sich in stiller Versunkenheit seiner ureigenen Vitalität zu entsinnen. Hier ließ man ihn ganz mit sich allein und schenkte ihm trotzdem das Gefühl, nicht allein zu sein…

Ich bin bis heute davon überzeugt, dass ich der Einzige war, dem sich Tommy in seiner seelischen Verlorenheit ungeniert anvertraute. Das Reden viel ihm sehr viel leichter, wenn er mit mir allein war, wogegen selbiges anderweitig eher einem stetigen Trachten danach ähnelte, nicht auf zu fallen - was mir Impuls dafür war, dass er tief in seinem Inneren längst nicht aufgehört hatte, an seine "Heimkehr" zu glauben! Manchmal wiederum genügte der nichtigste Anlass und er zog sich postum wieder in diese beängstigend passiven Monologe mit sich selbst zurück. So vergingen Monate, bis ich auf dem Platz wieder zu alter Form auflaufen konnte. Keine Rüffel vom Coach und erst recht kein Gejohle von den Rängen halfen mir aus dem Tief heraus. Seltsam, denn erst nachdem mir die frustrierten Blicke meines besten Freundes im Nacken zu stechen begannen, lief es ruckartig besser. Niemals sonst habe ich so bildhaft erfahren können, dass Fußball auch und vor allem eine Sache des Kopfes ist! Nach jedem Torerfolg ballte ich nun die Faust siegessicher gen Himmel, ehe ich zum traditionell gewordenen Abklatschen in Richtung Bank eilte. Seitdem die Sommerpause vergangen, hatte Tommy hier ganz rechts seinen Stammplatz inne, gleich dem ob Heim oder Auswärtsspiel - wo ihm wie ehrfürchtig stets der erste "Abklatscher" gebührte. Zu jedem Spiel habe ich Tommy daheim abgeholt und ich denke, hätte sich der alte Gustav mir in den Weg gestellt, wäre mir jedes Mittel Recht gewesen, dessen Gebaren als Nichtigkeit zu verkünden.

Fast ein ganzes Jahr war vergangen seit Tommys fatalem Missgeschick. Ende April, ein strahlend heißer Frühlingstag. Wetter, Land und Leute - alles schien sich hoffnungsfroh um unsere Sportanlage, die immer mehr einem unvergleichlichen Schmuckkästchen ähnelte, zu drehen. Selbst wenn es, wie genau an besagtem Tage, wieder einmal gegen unseren ewigen Angstgegner ging, der dieses mal jedoch heftig wie nie vor dem Abstieg zitterte. Stimmung und Laune hätten hoffnungsfroher nicht sein können. Ich konnte mich partout nicht daran erinnern, dass wir uns je so sicher waren, den (sonderbarer Weise einzig gegen uns) verschlossenen Abwehrriegel der "Gelben" zu knacken! Auch wenn das Hinspiel wieder nur torlos geendet hatte. Sogar Tommy, wenn es um seine alten Kameraden ging, voll im Bilde, ließ seinem Optimismus somatisch freien Lauf. Unruhiger und weitaus lebendiger als sonst fieberte er dem Anpfiff entgegen. Überhaupt erschien er mir ungemein verändert an jenem Tage - positiv verändert! Bereits im Auto registrierte ich wie in einem Glücksrausch dieses feurige Funkeln in seinen sonst so wässrigen Augen. All seine Gesten samt dem "rhetorischen Feuerwerk", alles wirkte so, als würde er kurz vor einem sprengendem Aufbruch stehen - doch wie oft schon musste ich diese derben Rückschläge miterleben! Meinen Überschwang versuchte ich rasch zu verdrängen und klammerte mich trotzdem krampfhaft an diese herzerfrischenden Lichtblicke - und ich schwor mir auch dieses mal, gerade heut ein Tor zu schießen und es einzig seiner Genesung zu widmen! Kommen sollte es jedoch ganz anders. Eine Tragödie, ein Aufbruch - wenn ich es nur zu deuten wüsste, oh Mann…

Wie immer, wenn jener Nachbarverein zu uns kam, hatten wir die " Hütte voll". Alles sah auch zunächst danach aus, dass wir unserer Favoritenrolle endlich einmal gerecht werden könnten. Torchance auf Torchance für uns. Ich fast immer mitten drin. Doch die Seuche schien mir urplötzlich wieder am Fuß zu kleben. Die Kugel wollte und wollte nicht über die Linie - bis ihr dies Sekunden vor dem Halbzeitpfiff scheinbar spielend locker in unserem Kasten gelang. Fassungslos trotteten wir in die Kabine, badend in einem Gemisch von Hohn, Gelächter und aufmunternden Gesängen. Ein Spiel, welches man so schnell nicht vergisst, dessen wir ich mir hier schon sicher. Die gegnerischen Fans waren außer Rand und Band. Selten fühlte ich mich dadurch so genervt und dies war echt das einzige mal, wo ich einer Truppe wirklich den Abstieg gegönnt habe - man möge es mir nachsehen.

Die zweite Hälfte, das Elend nahm seinen Lauf. Nicht einmal der Ausgleich sollte uns vergönnt sein, dabei waren wir in allen Belangen mehr als haushoch überlegen! Drei oder viermal mal Pfosten, mindestens ebenso oft knallte der Ball an die Latte - und ich immer wieder mittendrin. Einen tot sicheren Elfer versagt, der eigenen Abwehr flatterten bei den wenigen Kontern die Nerven, die Minuten rasten davon. Solch hochdruckartige Atmosphäre hatte es in unserem "Schmuckkästchen" nie vorher und auch später nimmer gegeben!

Der schwärzeste aller Höhepunkte:

Nicht mal mehr zehn Minuten waren noch zu spielen, als der Spielball unter der Bande hindurch direkt neben dem wie versteinert ausharrenden Tommy über die Tartanbahn trudelte. Kein Balljunge in der Nähe. Ich getraute mir nicht, vor zu denken, was ich kommen sah - doch es geschah wirklich! Tommy sprang auf und eilte mit ungelenken Schritten dem Leder nach, mehr als tausend Augenpaare auf sich gelenkt. Ungesättigt der gegnerische Freudentaumel, nur Atemzüge von ihm entfernt, nahm er sein geliebtes Leder auf, warf es wie einst kurz in die Luft, um es mit seinem starken Rechten zurück in Richtung Rasen zu schießen. Seine Beine jedoch waren ihm noch lange nicht hörig. Wie ein armes Häufchen Elend landete mein treuer Freund, an Maßen noch immer einem Modellathleten gleich, rücklings auf der harten Tartanbahn. Seine langen Beine zappelten Halt suchend wild umher, während der Ball seelenruhig in Richtung gegnerische Bank rollte. Was sich diesem, noch Sekunden zuvor endlos aufgeheiztem, weiten Rund jetzt bot, war der pure Beweis dafür, dass das Ehrenhafte immer dazu in der Lage sein kann, jegliche Niedertracht im Keime zu ersticken. Beinahe so, als hätte der liebe Gott unseren Tommy voraus geschickt, die wilden Gemüter zu beruhigen. Mit einem Schlag wurde es raunend still in der Arena. Dezentes Gelächter wurde in verhaltenen Wellen der Entrüstung erstickt. Ich selbst führte Tommy gemeinsam mit Spielern und Trainern beider Teams, begleitet von rührseligem Beifall, zurück auf seinen Platz. Kaum einer im so plötzlich erkalteten Rund, der Tommys Geschichte nicht kannte - und wer davon noch nicht wusste, der hatte nun auf philanthropische Weise davon erfahren. Scheinbar apathisch hatte Tommy selbst das ganze Szenarium über sich ergehen lassen, dessen Trugschluss mir schon bald schmerzhaft zu denken geben sollte. Lasch plätscherten die letzten Minuten des Spiels dahin. Das Feuer war nun endgültig raus und freilich fuhren die "Gelben" ihren Sieg problemlos heim - abgestiegen jedoch sind sie trotzdem…

Was auf der Heimfahrt im und um meinen Wagen herum vor sich ging, wird mich ganz sicher bis ans Ende meiner Tage begleiten. Tommy war jetzt längst nicht mehr der, der er noch kurz zuvor war! Hätte ich die Chance genutzt, hätte ich mich nicht schwächend leiten lassen von den zermürbenden Rückschlägen zuvor, vieles wäre leichter gewesen.

Auf sein Drängen hin stoppte ich in einer der vielen Einbuchtungen direkt am Wald, unweit seines heimischen Anwesens. Wir schauten uns einen kurzen Augenblick lang auf die in unserer langen Freundschaft gediehene Weise an, beinahe so wie früher! Sein lustiges Grinsen, seine blassklaren Blicke, beinahe so wie früher! Die Art, wie er sich kraftvoll aufrichtete, beinahe so wie früher! Der gedämpfte Klang seiner Stimme, wie sie mir vertraut, wie sie mir Heim gekehrt - genau so wie früher!

'Danke'

'Wofür?'

'Für alles'

Zwei Worte von ihm, eines von mir. Und er verschwand im Dickicht des Waldes, welches ihn nimmer mehr frei gab. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort gestanden bin und auf seine Rückkehr gewartet habe, obwohl ich wusste, dass es nicht geschehen wird. Nichts ward bis zum heutigen Tage von ihm gesehen. Seine Spur verlor sich nahe des elterlichen Anwesens, wo er jedoch ebenso wenig gesichtet. Ungebrochen verwerfe ich den Glauben an seinen Tod. Ich war der letzte, der ihn gesehen, der mit ihm gesprochen hat. Und nur ich habe das Erwachen und den Aufbruch in seinen Augen erkennen dürfen!

Und ich hüte das Geheimnis, welches er mir lange zuvor anvertraut ...

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