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Wenn man mit 20 keine Haare mehr hat© Martin LindnerAm Anfang leugnet man es. Man will einfach nicht wahr haben, dass die Haare nach hinten zurückweichen, man beim Gel in die Haare reiben immer weiter mit den Händen nach hinten fahren muss. Auch die einzelnen Haarsträhnen, die nach dem Haarewaschen als untrüglicher Beweis am Badewannenboden kleben, ignoriert man. Die wachsen schon nach. Es ist ganz normal, dass man beim Haare waschen Haare verliert, beim Kämmen Haare im Kamm stecken bleiben, und nach dem Aufstehen ein paar Haare vom Kissen nicht mit aufstehen. Die wachsen nach. An diesen unerschütterlichen Glauben hält man ganz fest, bis man einfach irgendwann die Augen nicht mehr verschließen kann, bis man sich eingestehen muss, dass man an der gefürchteten Alopecia, Haarausfall, leidet. Ich hätte es vielleicht mit Ende zwanzig oder dreißig akzeptiert, hätte mich dann dem Schicksal so vieler Männer gebeugt. Aber mit siebzehn! Das war unfair, schrecklich, ein kleiner Weltuntergang. Irgendwann hat mich meine Mutter gefragt, ob mir die Haare rausfallen. Die Worte waren wie ein Stoß mit einem Baseballschläger für mich. Mein Vater, der selbst einen hässlichen Hubschrauberlandeplatz auf seinem Kopf mit sich herumträgt, hätte ihr nämlich gesagt, dass sie mal darauf achten solle. Und dann hätte sie heute Abend die Haarsträhnen in der Badewanne liegen gesehen. Sie kam auf mich zu und wollte mit ihrer Hand über meinen Kopf fahren. Ich drängte sie noch zurück, aber schließlich ergab ich mich. Sie fuhr mir etwas ruppig über die Stirn und sagte: "Doch, es sieht ganz so aus, als ob du Haarausfall hast. Ach du Armer." Sie wollte mich drücken. Ich entwand mich ihren Armen und lief nach oben in mein Zimmer, knallte die Tür. Ich schmiss mich auf mein Bett und steckte den Kopf ins Kissen. Das war ja alles so peinlich! Bald darauf kam meine Mutter. Ich hielt das Gesicht noch immer ins Kissen gedrückt. Sie sagte zunächst nichts. Vielleicht spürte sie, dass sie mit jedem Wort des Trostes, das sie an mich richten würde, eine kleine Explosion bei mir auslösen würde. Stattdessen sagte sie nur: "Ich habe dir deine Krankenkarte und zehn Euro rausgelegt. Du solltest morgen mal zu Doktor Heisenkrat gehen." Dann schloss sie die Tür hinter sich. Ich blieb mit meinem Kopf im Kissen liegen. Am nächsten Tag ging ich gleich nach der Schule zu unserem Hausarzt. Er hat meine und die Diagnose meiner Mutter bestätigt. Wir saßen uns im Sprechzimmer gegenüber, ich, der mit jedem Tag weniger Haare auf dem Kopf hatte, und er, vierzig, mit seinem üppigen, schwarzen, perfekten Haar, als er die gefürchteten Worte sagte, vor der sich jeder Mann fürchtet wie der Teufel vor der Sonntagspredigt: "Ja, Sie leiden unter Haarausfall. Das ist aber keine Seltenheit. Haarausfall setzt häufiger in jüngeren Jahren ein. Mit Anfang zwanzig ist dann schon das meiste passiert." Er sagte es kalt, ohne Betonung, ohne Mitgefühl. Aber er wusste ja auch gar nicht, wovon er sprach. Er hatte noch sein wunderschönes Haar, sein Statussymbol, seine Erfolgsgarantie in allen Lebensbereichen. "Kann man etwas dagegen tun?", fragte ich. Er schüttelte nur mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf. Nein. Ich starrte ihn noch immer an, wartete auf erlösende Worte, wie ein Apostel. Dann sah er mich an, seufzte, und erklärte: "Manche Männer schwören auf Zink, und kaufen das massenweise, aber ich halte die Erfolge für fragwürdig. Außerdem ist Zink nicht gerade billig. Es gibt auch Tabletten auf dem Markt, aber davon bekommt man Brüste und eine hohe Stimme." Die letzten Worte piepste er, in der höchsten Tonlage, die er schaffte. Er war unsensibel. Er hielt es vermutlich für eine Lappalie, etwas, das ganz unwichtig war. Haarausfall- pah! Was war das schon im Vergleich zu Aids, Krebs und Gelbfieber? "Außerdem sind sie viel zu teuer", fuhr er fort. "Fast zweihundert Euro für noch nicht einmal hundert Tabletten. Geben Sie das Geld lieber für schönere Dinge aus." Ich starrte ihn noch immer an, als hoffte ich auf ein Wunder. "Da kann man nichts machen. Das ist erblich. Wenn Sie wollen, können wir noch Morgen früh eine Blutprobe nehmen, um auszuschließen, dass es etwas Ernstes ist." Er schlug sich auf die Oberschenkel. Das Zeichen, das die Sprechstunde für mich vorüber war. Ich reichte ihm die Hand, wie betäubt. Um auszuschließen, dass es etwas Ernstes ist?! Haarausfall war etwas Ernstes, verdammt noch mal! "Wie Max Mutzke", sagte er noch zum Abschluss. "Der hat auch keine Haare ist erfolgreich." Nur mit dem Unterschied, dass Max Mutzke Selbstbewusstsein hat, etwas, das mir fehlt, fügte ich schweigend hinzu, lächelte aber. Mir war gar nicht nach Lächeln zumute. Ich ging den Korridor entlang zum Ausgang. Eine ältere Frau saß auf einem Stuhl neben der Tür, und wartete, dass sie aufgerufen wurde. Ich denke, sie sah die Tränen, die sich in meinem Augenwinkel sammelten, als ich die Tür öffnete, und schnell wieder hinter mir schloss. Die arme Frau dachte wahrscheinlich, ich litte an einer unheilbaren Krankheit. Und- dem war ja auch so. Haarausfall war tatsächlich eine unheilbare Krankheit. Wieder zu Hause machte ich den Computer an und ging ins Internet. Wenn der Kerl in Weiß mir nicht helfen konnte, dann vielleicht dieses Wunderwerk der Menschheit. Ich tippte "www.google.de" ein. Der Cursor im Feld blinkte, wartete auf die Eingabe, dass sich die Maschine mit seinen acht Milliarden URLs in Gang setzte. Ich tippte "haarausfall" ein. Wow! Zwei Millionen Treffer! Haarausfall musste eine Volkskrankheit sein. Sehr schnell fand ich, was ich suchte. Viele Produkte wurden gleich auf der ersten Seite angeboten, die Haarausfall den Gar ausmachen sollten. Also klickte ich eine der Internetseiten an. Die Verbindung wurde aufgebaut. Ein Professor aus China pries sein Produkt an. Eine Flasche mit einer Flüssigkeit, die Haare innerhalb weniger Wochen wachsen lassen sollte, besonders in den Geheimratsecken an den Schläfen, also genau das richtige für mich. Ich las mir die Details zu dem Produkt durch, aber stutzig machte mich, dass nach jedem kurzen Absatz ein dicker blinkender Button auf der Seite auftauchte, der mich aufforderte, das angebliche Wundermittel zu bestellen. Mir kam die Sache nicht geheuer vor, unseriös. Zum Spaß klickte ich auf das Bestellformular, um zu gucken, wie viel für die Flasche verlangt wurde. 70 Euro! Aber dafür sollte die Flasche für einen ganzen Monat reichen. Als Zusatz, wenn man gleich bestellte, bekam man noch eine zweite Flasche gratis dazu und einen Kamm, der im Dunkeln leuchtete. Ich fühlte mich verarscht, und zog einfach den Stecker aus der Dose, ohne mich vorher abzumelden. Der Bildschirm wurde im Nu schwarz. Dem Internet und den Produkten, die darin zum Verkauf grassierten, konnte man so wenig Glauben schenken wie einem Politiker, der das Ende der Staatsverschuldung versprach. Doktor Heisenkrat hatte wohl Recht. Es schien wirklich nichts zu geben, das sicher helfen konnte. Er musste sich da auskennen, schließlich hatte er ja studiert- hoffte ich zumindest. Das Internet bot einem eine endlos weite Produktpalette an, von dem sich eine Lüge hinter der nächsten in den Vordergrund drängte. Ich hätte wahrscheinlich gar nicht lange zu suchen brauchen, und ein virtueller Verkäufer hätte mir einen magischen Radiergummi für 100 Euro angeboten, mit dem man nur jeden Abend beim Zähneputzen (um Zeit zu sparen) ein bisschen an den betroffen Stellen herumrubbeln musste, und die Haare würden wieder sprießen wie das grüne Gras im Sommer; als Gratisgeschenk bekäme man dann vielleicht eine Perücke- haha! Frustriert und wütend machte ich mich auf in die Stadt. Ein bisschen in Büchern stöbern und danach eine oder zwei Kugeln Eis essen. In der überfüllten Stadt kamen mir Menschen entgegen, wie jedes Mal. Nur diesmal guckte ich mir nicht die hübschen Frauen an und schätzte ihre Körbchengrößen, sondern ich schaute mir die Männer an, genauer gesagt, ihre Haare. Ich beneidete die Haarpracht von Altersgenossen, die ihre Haare in schwindelerregende Höhen hochgegelt hatten, so wie ich es früher auch immer getan hatte, mich aber jetzt nicht mehr traute, sah alte Männer mit Vollglatze, Männer im Durchschnittsalter, die mit Stringlatze herumliefen oder einer runden Glatze auf dem Hinterkopf, wie bei einem Mönch, Männer, deren spärliches Haar im Wind wehte und Männer, die versuchten, ihre schwindende Haarpracht durch eher ungelungenes Scheiteln der Seitenhaare zu kaschieren. Mir kam auch ein Mann entgegen, der seine hinteren Haare oberhalb des Nackens zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte; auf dem Oberkopf hatte er fast überhaupt keine Haare mehr. Das war ein Mann, dachte ich mir, der sich weigerte, seine Kahlheit zu akzeptieren und hartnäckig an frühere Zeiten, als sein dicht blühender Haarschopf wahrscheinlich von jeder Frau beneidet wurde, festhielt. Der Schlag traf mich aber, als ich einen Jungen sah, nur ein paar Jahre älter als ich. Er hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf. Mir wurde übel. Ich schüttelte den Kopf und verschwand in die Stadtbibliothek, um meine Augen hinter dicken Buchseiten zu vergraben. Dennoch, als ich in der grünen Sesselcouch saß, glitten meine Augen wie automatisch immer wieder über den Bücherrand nach oben, wenn ich merkte, dass jemand an mir vorbeilief. Gott sei Dank traf man in einer Bibliothek deutlich mehr Frauen als Männer an, sodass ich hier einigermaßen zur Ruhe kommen konnte. Schließlich lieh ich mir ein paar Fantasy-Bücher aus und fuhr zurück nach Hause. Das Eis hatte ich vergessen. Aber mir war auch gar nicht danach zu mute. Ich schaltete den Fernseher ein, und auf dem Programm lief gerade Werbung. Ein Haarwasser wurde angepriesen, das Haarausfall aufhalten konnte, sagten zumindest 84% der Befragten, die das Mittel verwendeten, so die Reklame. Die 84 blähte sich dabei ganz dick auf, nahm beinahe den gesamten Bildschirm ein. Ich glaubte den 84 Prozent, nahm einen zehn Euro Schein aus der Schublade in meinem Zimmer und radelte zum Drogeriemarkt. Es war merkwürdig, aber irgendwie fielen einem bestimmte Werbebeiträge erst auf, wenn man sie brauchte. Noch vor ein paar Wochen hätte ich noch nicht einmal zugehört, wenn der Werbesprecher etwas von Haarstärkemitteln und erstaunlichen 84 Prozent geredet hätte. Genau so wenig wie mich jetzt Beiträge für spitzenklassigen Babybrei interessierten, konnte sich das auch vielleicht in ein paar Jahren ändern- obwohl, welche junge Frau mochte schon einen Mann ohne Haaren auf dem Kopf haben. Das wäre, wie wenn sich ein kleines Mädchen eine Barbiepuppe ohne deren wunderschönes, langes, goldenes Haar kaufen würde. Haare- die standen für Gesundheit, Erotik und Energie. Mit Glatze brachte man doch nur alte Männer oder Krebspatienten in Verbindung, die scheußliche Chemotherapien über sich ergehen lassen mussten. Bald kam die Ernüchterung. Das Produkt wirkte nicht. Ich gehörte nicht zu den 84 Prozent, die wahrscheinlich alle Angestellte des Unternehmens waren, das dieses Produkt vertrieb. Jedes Mal, wenn ich mir das Haarwasser ins Haar schmierte, hatte ich nachher die Hände voll mit meinen Haarleichen, weil das Wasser so klebrig war. Richtig eklig; und gestärkt hatte es die Haarwurzeln überhaupt nicht, obwohl ich schon drei Flaschen verbraucht hatte. Voller Frust nahm ich eine Flasche zur Hand, und wählte die Info-Hotline, die auf der Rückseite abgedruckt war. Eine freundliche weibliche Stimme meldete sich. Ich sagte, dass mir aus Versehen nach dem Baden eine Flasche mit dem Haarmittel aus der Hand gerutscht sei und sich über meinen Penis ergossen hätte. Und jetzt würden mir lauter Haare aus dem Schwanz wachsen. Dann legte ich auf, ohne ihr Möglichkeit zu geben, zu antworten. In diesem Moment hasste ich meinen Vater. Von ihm hatte ich diese scheußliche Krankheit geerbt. Wenn er wusste, wie sein Kind leiden würde, hätte er sich gar nicht fortpflanzen dürfen. Mir fiel ein, dass mein Opa auch nur wenige Haare hatte, als er starb. Ich konnte mich nicht erinnern, ob er früher vielleicht volles Haar gehabt hatte, oder es bei ihm auch schon in frühester Jugend angefangen hätte. Vielleicht beschuldigte ich meinen Vater ja zu unrecht. Schließlich verlor er seine Haare erst, nachdem ich auf der Welt war. Weil ich ihn so häufig rasend machte, dass er sich die Haare rausriss, wie er früher immer sagte. So etwas würde er heute nicht mehr sagen. Da ich das Telefon in der Hand hatte, beschloss ich, mal wieder meine Oma anzurufen, die in Schlesien wohnte, und die ich deshalb nur zwei Mal im Jahr besuchte. Aber telefonieren taten wir jede Woche, oder wenigstens alle zwei Wochen. Zuerst sprachen wir über dieses und jenes, was im Dorf so los war, in dem sie lebte; dabei erzählte sie mir, dass sich ein Mann aufgehangen hatte und es deshalb Probleme gäbe, weil die Kirche einen Selbstmörder nicht auf geweichtem Boden beerdigen lassen wollte, und deswegen wurde es jetzt so dargestellt, dass er psychisch schwer krank war bla bla bla… Schließlich erzählte ich ihr von meinem Haarausfall. Sie war zunächst erstaunt, sagte, dass so junge Männer wie ich doch keinen Haarausfall bekämen. Doch, sagte ich, sogar häufiger als Männer im mittleren Alter, wie Doktor Besserwisser mich belehrt hatte. Dann fragte ich sie, ob bei Opa auch das mit dem Haarsausfall schon so früh eingesetzt hätte. Nein, antwortete sie bestimmt, erst in viel späteren Jahren. Bei ihrer Hochzeit hatte er doch noch ganz fülliges Haar. Jetzt kam mir das Hochzeitsporträt in den Kopf geschossen, das im Wohnzimmer bei meiner Oma über dem alten Kamin hing. Es war ein gemaltes Bild, da zu dieser Zeit noch keine Farbfotos möglich waren. Ich dachte immer, es wäre ein Foto, bis meine Oma mir einmal erzählte, wie sehr sie sich darüber geärgert hätte, dass der Maler sie mit schwarzem Haar gemalt hatte, obwohl sie damals doch dunkelbraunes hatte. Auf diesem Bild sah man meine Oma und meinen Opa ab der Brust dargestellt, mit Mitte zwanzig, sie trug einen schönen weißen Schleier, bei ihm sah man den Krawattenknoten und den oberen Teil seines dunklen Anzugs. Und er hatte volles schwarzes Haar. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Was für ein Pech! War ich der einzige in der Familie, bei dem sich der Haarausfall schon so früh zeigte. Das nannte ich Ungerechtigkeit pur. Meine Oma versuchte mich noch zu trösten, sagte, dass einen Menschen die inneren Werte ausmachten, und nicht sein Äußeres. Ich stöhnte, hörte gar nicht mehr hin. Wenn einen Menschen wirklich nur seine inneren Werte ausmachten, wieso sah man auf den Fotos in den Modekatalogen oder auf den riesigen Werbetafeln dann nur makellose Models, anstatt Menschen, die sich auf der ganzen Welt ehrenamtlich für den Kampf gegen Armut, Hunger etc. einsetzten. Was für eine Augenwischerei und dummes Gefasel! Ich beendete das Telefonat schnell, und beschloss, erst wieder in drei Wochen anzurufen, oder vier. Friseurbesuche wurden zum Albtraum. Es war mir unangenehm, wenn meine Friseurin, zu der ich schon seit vielen Jahren ging, und die mich sogar mit Namen kannte, mir die Haare schnitt. Besonders vorne, wo sie die Haarsträhnen immer ein paar Mal hintereinander zwischen Zeige- und Mittelfinger fassen musste, um einen gleichmäßigen Schnitt hinzubekommen, reichte ihr jetzt ein einziger Griff, und schon war oberhalb der Stirn alles fertig. Ich schämte mich; es war mir peinlich. Meine Mutter, die auch zu ihr ging um sich die Haare machen zu lassen, erzählte ihr von meinem Problem. Die Friseurin sagte, sie hätte es bemerkt, aber vielleicht sei das nur der Schulstress oder es hätte mit irgendwelchen Medikamenten zu tun. Ja, erzählte mir meine Mutter, hätte sie darauf erwidert, weil ich zu der Zeit, als die Haare anfingen, mir herauszufallen, doch diese schwere Grippe gehabt hatte und Tabletten nehmen musste. Vielleicht würde mit der Zeit alles wieder gut werden. Nein, dachte ich mir, sagte es aber nicht. Irgendwann war man es einfach Leid, sich an jeden dünnen Strohhalm festzuklammern. Ich beschloss, den Friseur zu wechseln. Nicht, weil mir die Friseurin unsympathisch war, sondern weil- ach, ich weiß es nicht. Es war mir einfach unangenehm. Das Haarewaschen jeden Morgen vor der Schule war mir immer mehr ein Graus. Man spürte die unbarmherzig fortschreitende Kahlheit, wenn man sich das Haarshampoo in die Haare einmassierte. Nach dem Waschgang mochte ich gar nicht in den Spiegel schauen. Die Haarsträhnen hafteten dann eng aneinander, sodass man weite Flächen der roten Haut darunter sah. Glücklicherweise wurden die Haare schön locker, nachdem sie trocken waren, und ich verteilte sie so auf dem Kopf, dass man möglichst keine kahlen Stellen wahrnahm. Ich hoffte, die Klassenkameraden hatten noch nichts gemerkt, aber wenn, hätte mich wahrscheinlich sowieso keiner darauf angesprochen. Manchmal hatte es Vorteile, Einzelgänger zu sein. Nach dem Haare waschen war ich jetzt auch schlau genug, die Wanne ordentlich mit dem Duschkopf abzuspritzen, damit meine Mutter nicht wieder "fündig" wurde, wenn sie die weiße Porzellanoberfläche nach verräterischen Haarsträhnen absuchte, um mich danach auszufragen, wie viele Haare ich verlor, wie es mir ging und was ich dagegen unternahm, und dabei immer wieder aus zusammengekniffen Augen prüfend über meine Stirn zu gucken. Dann wurde ich aggressiv, beschimpfte sie sogar, und sie erwiderte nur, dass sie sich Sorgen machte und mir helfen wollte. Sie begriff einfach nicht, dass ich nicht darüber sprechen wollte. Das war für mich so, als fragte sie mich über mein Sexualleben aus. Man konnte als junger Mann einfach nicht offen darüber sprechen. Es würgte einem die Kehle zu und man wollte am liebsten die Flucht ergreifen; man fühlte sich dafür verantwortlich, irgendwie schuldig. Es war ein Tabu. Niemals würde ein Mann mit einem anderen, der an dem gleichen Problem litt, von Angesicht zu Angesicht darüber sprechen. Es schien wie ein ungeschriebenes Gesetz zu sein. Aber an dieses Gesetz hielten sich unweigerlich alle Männer. Testosteron war das Teufelswort, wie ich in zahlreichen Internetrecherchen herausfand. In normalen Mengen sorgte das Hormon dafür, dass ein Junge zum Mann wurde. Es förderte die Spermienproduktion in den Hoden, den Bartwuchs, Schamhaarwuchs und das Muskelwachstum. Zu viel davon verursachte aber Haarausfall, weil der Körper Testosteron in DHT verwandelte, auf das manche Haarwurzeln überempfindlich reagierten. Dadurch schrumpften sie und verkümmerten. Also, meine Schlussfolgerung, da ich nur so vor DHT sprühte, war ich männlicher als meine anderen Klassenkameraden, die leider nicht unter einem schwindenden Haaransatz litten. Fragte sich dann nur, warum ich nicht die Figur eines Adonis hatte und im Sportunterricht immer einer der letzten war. Ich fühlte mich von meinem Testosteron verarscht. Die vielen Bilder im Netz, die ich von Männern mit ihren Glatzen sah, verursachten bei mir Widerwillen. Haarausfall sah so hässlich aus. All die Kopfhaut, die unter dem lichter werdenden Haar hervortrat- grausig. Ich hatte auch im Internet die Annonce eines Tätowierers gesehen, der anbot, die Kopfhaut in der Farbe der noch verbliebenen Haare zu tätowieren, sodass man den Haarausfall nicht mehr sah. Ich fragte mich nur, wie das dann aussehen sollte, wenn der Kunde nach einer Zeit überhaupt keine Haare mehr hatte. Ganz zu schweigen davon, dass es wohl alles andere als schmerzlos war, sich durch die empfindliche Kopfhaut stechen zu lassen. Aber Menschen kamen in ihrer Verzweiflung wohl auf die absurdesten Ideen. Dann klickte ich ein Forum an, das meine Sicht der Dinge veränderte, und damit meine triste Welt, in die ich mich in den letzten paar Monaten eingemauert hatte, aufhellte. Menschen aus ganz Deutschland unterhielten sich über Haarausfall. Viele von ihnen waren selber von dem Fluch betroffen, aber es gab auch einige, die - zumindest bisher - davon verschont geblieben waren. Auch Frauen und Kinder nahmen an der schriftlichen Diskussion teil. Ich las die verschiedensten Stellungnahmen. Ein Mann, der behauptete, er sei dreißig, schrieb: "Haarausfall hat mein Leben verändert. Und zwar im Positiven. Meine alte Freundin hat mich verlassen, nachdem ich ihr meine Sorgen erzählte. Sie hatte kein Verständnis, wollte nicht mit einem "Glatzkopf" den Rest ihres Lebens verbringen. Noch am selben Abend traf ich in der Bar (ich muss gestehen, ich bin dort hingegangen, um meinen Frust zu ersaufen) den wundervollsten Engel, der mir bisher begegnet ist. Sie half als Kellnerin aus, wir kamen ins Gespräch- und es hat sofort gefunkt!!! Bei ihr spürte ich, was ich bei meinen bisherigen Freundinnen nie gespürt hatte, weil mir ihre Reize wahrscheinlich total die Birne verdreht, mich blind gemacht hatten: Intelligenz, echte Lebensfreude, Charisma. Sie ist mein Engel, und hat mir total das Herz verdreht, sodass es den lieben langen Tag nur noch hin und herschunkelt. Mittlerweile sind wir verheiratet, haben ein Baby. Und, was soll ich sagen: Es ist dem stolzen Papa wie aus dem Gesicht geschnitten, nicht zuletzt wegen der prächtigen Glatze… [Dahinter erschien ein gelber Smiley, der mit dem Auge zwinkerte]" Ich musste lächeln. Ein anderer Beitrag von "Supermann", so der Nickname, lautete: "Freut mich für dich, dass du deine Herzensdame gefunden und mit ihr einen Stammhalter gezeugt hast. Kannst du mir aber vielleicht die Telefonnummern von deinen alten Freundinnen geben, die, die gut ficken können aber Null Hirn haben. Ich brauche dringend Testpersonen für den neuen unsichtbaren BH, den ich entwickelt habe." Jetzt schrie ich vor Lachen. "Supermann" war eine richtige Spaßkanone. Ein Mädchen schrieb in dem Forum: "Ich mag meinen Papi mit seinem Bowlingkugelkopf. Da kann ich mit ihm super spielen, ohne dass er meckert, dass ich ihm die Frisur kaputt mache." "Mein Freund mag mich, wie ich bin, auch wenn mir mit vierzig die Haare auszufallen beginnen. Glaubt mir, ihr nörgelnden Männer, wir Frauen haben es da viel schwerer als ihr Testosteronbullen. Wir stehen nämlich ständig im Schatten von Claudia Schiffer und Heidi Klum. Ich werde mir demnächst eine Perücke kaufen. Mein Freund sagt, er liebt mich wie ich bin, würde mich auch lieben, wenn ich aussähe wie Homer Simpson. Hoffentlich wird er mir jetzt nicht schwul. So einen Schatz wie ihn findet man nicht so häufig auf der Straße. Zur Sicherheit habe ich ihm schnell den Verlobungsring umgeschnallt. [Ein grinsender Smiley] Übrigens: Ich finde Männer ohne Haare supersexy. Seht euch nur Bruce Willis, Vin Diesel, Zinedine Zidane, Andre Agassi oder Michael Jordan an." "Ich hätte nichts gegen einen Michael Jordan im Bett", schrieb GayWitch. "Ich stehe auf lange Pralinen. Und damit meine ich nicht Jordans Körpergröße. [Ein Smiley, dessen Hand sich verdächtig hoch und runter bewegte, blinkte unter dem Textfeld auf]" "Du bist total versaut, GayWitch", mahnte ihn Prof. DoItRight zur Ordnung. "Außerdem sprechen wir hier nicht über Penisgrößen. Du bist im falschen Forum." MenEater loggte sich ein und schrieb: "Bei Michael Jordan kann man doch nicht unterscheiden, was haarloser Kopf und was haarlose Eichel ist. Die haben beide bestimmt den gleichen Umfang." Während Prof. DoItRight versuchte, MenEater und GayWitch die Sexphantasien aus den Gedanken zu treiben, loggte ich mich ein, und schrieb meinen Beitrag; ich offenbarte mein Alter und stellte dar, wie ich bisher mit meinem Problem umgegangen bin, sagte sogar offen, dass ich meine Familie hasste, weil sie mir den ganzen Müll an Genen vererbt hatte, mit denen ich jetzt kämpfen musste. Prof. DoItRight schrieb mir in dem Forum: "Kleiner, lass den Kopf nicht hängen. Ich habe sogar noch weniger Haare zu bieten als Homer Simpson, bin aber kein unglücklicher Mensch. Es wäre doch eine verdammt armselige Welt, wenn jeder nur auf Schönheit bedacht wäre, und menschliche Werte überhaupt nichts mehr zählten. Es gibt Menschen, die unfair sind, dich vielleicht sogar selber für deinen Haarausfall verantwortlich machen, und dich schief angucken werden, aber Himmel- Scheiß drauf! Du hast zwar weniger Haare als sie, aber mehr Verstand. Es kann nicht jeder auf der Welt so schön sein wie ein Top-Model. Wir sind alle Individuen. Das macht unsere Welt doch aus. Haare entscheiden nicht darüber, wer du bist. Jeder von uns ist einzigartig und etwas besonderes. Es gibt so viele Männer, und auch Frauen, die wenig oder keine Haare haben, aber man lernt es zu akzeptieren und damit zu leben. Du sparst sogar Zeit, wenn du dir morgens nicht mehr die Haare waschen und dich kämmen musst ;-) Nein, Spaß beiseite. Kleiner, ich wünsche dir viel Glück und Stärke. Denk daran, dass es Menschen da draußen gibt, die mit viel schlimmeren Schicksalsschlägen fertig werden müssen. Meine Schwester beispielsweise ist im Winter beim Schlittenfahren gegen einen Baum gekracht; sie wird nie wieder laufen können. Und ich habe auch noch nie von jemandem gehört, dass er weniger Chance im Beruf gehabt hätte, weil er weniger Haare hat als ein anderer Bewerber. Hauptsache du schaffst einen guten Schulabschluss. Glaub mir, der Rest kommt schon von alleine. Und vergiss nicht: Je weniger Haare, desto mehr Kopf hat man. [Unter seinen Text hatte er ein Bild vom glatzköpfigen Shakespeare in seinen besten Jahren eingescannt]" Die Worte rührten mich. Während ich mir die Tränen aus den Augen wischte, ließ es sich GayWitch nicht nehmen, auch noch seinen Senf dazuzugeben, und verfasste: "Hauptsache, mein Junge, du hast einen großen Schwanz. Der Rest kommt, wie unser Moralapostelchen schon gesagt hat, ganz von allein." Wieder stritten sich Prof. DoItRight und GayWitch miteinander, und ich hielt mich zurück zu schreiben, dass ich wohl eine Attraktion wäre mit meinem Schwanz voller Haare. Den Witz hätte wahrscheinlich keiner verstanden.
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Ein haariges Lesevergnügen
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