Unser Buchtipp
Rapunzel© Birge Laudi"Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter."Die Mutter las und Annegret und Alois, ihre beiden Kinder, lauschten still dem Märchen. Einst hatten die Geschicht vom Zopf der Schönen aufgeschrieben die Gebrüder Grimm. Annegret, die Göre von acht Jahren, steckte in Gedanken ganz, den einen ihrer Zöpfe in den Mund und knabberte und biss daran herum. "Lass endlich doch dein Haar und beiße nicht daran. In deinem Bauche nämlich", sprach die Mutter, "wächst davon ein dicht Gewirke wie ein Vogelnest und an ihm dran aus deinen Haaren hängt ein Zopf, so wie Rapunzel ihn im Märchen hat. Es wird der Zopf so lang, dass man sein Ende kaum noch finden kann." Doch Annegret, die ungebärdig Maid, verschloss ihr Ohr. Sie hörte nicht auf das, was ihre Mutter mahnend sprach und aß fortan von ihrem Haar. Die Eifersucht auf ihren kleinen Bruder war der Grund, da er der Eltern Liebling war. Voll Glück ward er von ihnen auserkorn zum heiß ersehnten Prinz. In Annegret, dem wilden, hasserfüllten Mädchen, wuchs der Zorn von Tag zu Tag. Sie nagte und sie riss an ihren Zöpfen und verschlang die eignen Haare voll von unstillbarer Gier. Die Hoffnung aber wuchs in ihr, dass sich in ihrem Magen formen mög ein Vogelnest mit einem langen Zopf daran, so golden und so schön wie einstens bei Rapunzel. Den Prinzen sollte er anlocken für die Annegret, aufdass auch sie die Liebe fände, wie ihr Bruder bei den Eltern. In ihrem Bauche wuchs, wie sie gehofft, ein Nest aus ihrem Haar mit einem här'nen Zopf. Der reichte weit hinab ins Dunkel des Gedärms und machte große Pein. Da sprach der Arzt: "In deinem Bauch da liegt ein Bezoar, ein Ball aus deinem Haar, und bald muss der heraus." "Ätsch, ätsch", rief auf und nieder hopsend Annegret zu Alois, ihrem Bruder, "in meinem Bauch da hab ich was, was du nicht hast und das du niemals haben wirst." Und zeigte frech die Zunge ihm und höhnte, als der Bruder darob greinte: "Was soll's schon sein", rief weinend er, "dein Bauch ist doch ein Jahr nur älter als der meine und auch gar nicht groß." "Du kannst ja raten, aber lass dir sagen, was immer auch du meinst, das ist es einfach nicht." "Ach Annegret, sei lieb und spann mich doch nicht auf die Folter, ich bin doch noch so klein und weiß noch nichts. Wenn aber du's mir sagst, dann schenk ich dir mein allerliebstes, teures Kuscheltier." Da lachte Annegret und tanzte vor dem ungeliebten Bruder und sie rief: "Ein Bezoar, und leider weißt du nicht, was dieses ist. Ich werd' es dir nicht sagen." Der Knabe Alois weinte sehr und seine Schwester warf die Zöpfe, die dünner als der Schwanz von Ratten, hin und her und mal nach links und mal rechts und dann mit raschem Schwung vor ihr Gesicht. Von jedem Zopf da steckte sie das End in ihren Mund. Sie biss darauf, und ehe man es sich versah, da schluckte sie das Haar der abgebissnen Enden ihrer dunkelblonden Zöpfe rasch hinunter. "Ich sag's der Mutter," rief da schadenfroh der kleine Bruder, "denn du weißt, du sollst es nicht." Und kaum dass er dies ausgerufen hatte, da krümmte Annegreten sich und unter Schmerzen hielt das ungehorsam Mädchen sich mit Jammern ihren wehen Bauch. Die Mutter, angelockt von dem Geschrei, schnitt flugs der Tochter ab das lange Haar. Das Kind jedoch, die eifersüchtigkranke Annegret, riss sich auch weiterhin mit Ungestüm das Haar von ihrem Kopfe, der bereits an vielen Stellen kahl, ja fast zur Glatze ward. Und eines Tags, da konnte Annegret nichts anderes mehr essen als nur noch ihr Haar, und sie erbrach und eilends bracht die Mutter sie voll Angst zum Arzte der Chirurgenzunft. Der aber sprach: "Lieb Annegret, es ist so weit, nun werde ich den Bauch dir schneiden auf. Der Bezoar, so fürchte ich, wird sonst dein Tod und dieses wollen weder deine Mutter als auch ich." Da weinte Annegret, die Jahr und Tag wie unter einem innern Zwang und fast wie nicht gewollt, das Haar von ihrem Kopfe hatte essen müssen, ob sie nun wollte oder nicht. Behände wühlte mit Skalpell, Pinzett' und Scher', der Doktor in dem Bauch des Kindes. Da lag der Ball aus Haaren in sich eingerollt, kompakt und fest in Annegretens Magen. Er zog und zog und an ihm hing ein langer Zopf wie einstens der am Kopf Rapunzels. Der reichte weit den Darm hinunter. (Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter!). "Man nennt", so sprach der Arzt sodann zur Mutter, als er mit dem Schneiden fertig war, "man nennt das Krankheitsbild auch nach dem Grimm'schen Märchen der Rapunzel. Ein Syndrom, von dem man weiß, dass es bedarf nicht nur des Operierens, wie geschehen, sondern auch, für Annegret die einfühlsame Hilfe über lange Zeit beim Psychologen. Das Kind wird ohne Therapie sonst nie vom Haareessen lassen." Und er gab der Mutter eine Tüte. In der lag noch rot vom Blute, der entfernte Bezoar aus Annegretens Bauch und daran hing der lange Zopf. Da brach die Mutter aus in bittre Tränen, denn sie ahnte wohl, der Grund des ganzen Übels sei zu suchen bei der Familie Umgang dem Kinde. Gehorsam aber bracht die Mutter ihre Tochter dann zur Praxis eines Psychologen und sieh da, nach einem Jahr da ward aus unsrer schlimmen Annegret ein liebes Kind geworden. Sie war geheilt und riss nun nicht mehr an dem Haar und schluckte keines mehr herunter. Der Bruder Alois, nunmehr seines Sieges sicher, weil seine Schwester seither still und brav, sprach rächend, da endlich sie genesen, von Stund an nur "Du dumme Gans Rapunzel." Und er rief voll böser Schadenfreude: "Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter", obgleich man sah, dass keine Rattenschwänze sie mehr trug. Die hatte einstmals, wie wir alle wissen, zum Schutze vor dem Haareessen, die Mutter rasch vom Kopf der Tochter abgeschnitten. Alois aber, einst der brave Prinz, trat an der Schwester Stelle nun und er ward wild und böse. Voll Häme sprach er, dass schon immer er gewusst, die Annegret sei dümmer als das Vieh. "Schau dir doch an", rief Alois keck, "wie unser Kater Friedolin sich putzt und schluckt wie du sein Haar. Er ist bei weitem nicht so blöd und ungeschickt, dieselben anzusammeln in dem Bauche. Schau hin und du wirst sehen, wie er's macht: Er speit den Ball aus seinem Fell ganz einfach aus. Selbst jeder Vogel, der von kleinen Nagetieren lebt und deren Haare unverdaut im Bauche liegen, würgt nach dem Mahl den Haarball wieder aus. Man nennt es das Gewölle. Nicht nötig hat er's, dass ein Arzt ihm schneidet auf den Bauch und holt das Haar heraus. Du siehst, mein holdes Schwesterlein, lern' endlich dein Gewölle auszuspein wie Kater und der Vogel." Nun war es an dem Mägdlein brav, dass heiße Zähren musst es weinen. Wir ahnen es, es werde Arges geben, weil Alois ward viel schlimmer noch, als einstens war die Schwester. Vergeblich fragen wir uns nun, was sind denn Sinn und der Geschicht Moral? Sie bleiben, wie so viele Ding in unsrem Leben, vergraben in dem Lauf der Zeit. Soviel jedoch sei hier verraten: Der Annegret Rapunzelzopf an ihrem Bezoar ging ein in die Geschicht der Medizin. Von Alois, einst dem Lieblingsknaben, spricht heutzutage niemand mehr und keiner weiß, wo er geblieben. Ein haariges Lesevergnügen
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