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Anders sein

© Victoria Metje


Gekonnt griff sie nach einer weiteren Haarsträhne. In kurzer Zeit verwandelte sie die vorher lange Haarpracht ihrer Kundin, einer Frau mittleren Alters in eine moderne Kurzhaar-Frisur.
Gelegentlich streifte ihr müder Blick den Salon, als würde sie jemanden suchen, jemanden, der für sie vielleicht die Rettung bedeutete.
Sie hatte den Realschulabschluss nicht geschafft, scheinbar aus Mitleid ließ man sie in dem kleinen Friseur-Salon an der Hauptstraße arbeiten, wie sie damals jung und verschüchtert den Laden zum ersten Mal betrat und sich um eine Stelle bewarb. Sie hatten sie zu ihrer Freude genommen und es lief anfangs recht gut. Mittlerweile war sie die Arbeit satt. Nicht, dass sie auf manche Kunden oder Extrawünsche patzig reagierte, nein, sie wirkte stets freundlich, aber man konnte ihr dennoch ansehen, dass sie schon lange keine Freude mehr an der Arbeit hatte.
In letzter Zeit hatte sie ein wenig zugenommen, sie ließ sich regelrecht gehen und fing wieder mit dem Rauchen an. In den Mittagspausen saß sie oft irgendwo in einem Hauseingang nahe des Salons und starrte in der Gegend herum. Scheinbar ohne Ziel ließ sie ihren Blick auf sämtliche Objekte fallen, ohne jedoch wirklich Kenntnis von ihnen zu nehmen.
Sie konnte die Routine ihres Alltags nicht mehr ausstehen, suchte nach neuen Herausforderungen, vielleicht sogar nach einem neuen Job. Bevor sie am Morgen ihre Wohnung verließ, strich sie Stellenangebote in der Zeitung an, meldete sich aber nie.
Wenn wenig Kundschaft im Salon war studierte sie manchmal Modezeitungen und staunte über ausgefallene Entwürfe. Sie war nicht zufrieden mit ihrem Erscheinungsbild und hatte schon lange vor etwas an sich zu ändern. Irgendwann würde sie die Welt einfach mal auf den Kopf stellen, irgendwann würde sie anders sein.
Doch im Moment war sie lustlos und schlapp. Die Beine taten ihr vom vielen Stehen weh und sie frisierte immer und immer wieder den gleichen Personen die Haare. Gelegentlich kam ein junges Mädchen in den Laden, um sich die Haare in den ausgefallensten Tönen färben zu lassen. Irgendwann wollte auch sie sich Strähnchen machen.
Abends, wenn sie nach Hause ging malte sie sich gerne aus, was für Kundschaft sie vielleicht am nächsten Tag haben würde, obgleich sie auch wusste, welche ihrer Stammkunden einen Termin hatten. Sie wurde sehr geschätzt von den Kunden, sie wussten, dass sie etwas von ihrer Arbeit verstand. Sie hatte eben nur die Freude daran verloren.
Einmal griff sie nach der Arbeit zu einer Packung mit roter Haarfarbe. Sie wollte sich rote Strähnchen ins Haar färben. Sie wollte anders sein.
Irgendwann würde sie die Welt einfach mal auf den Kopf stellen, irgendwann würde sie anders sein.

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Ein haariges Lesevergnügen


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