Unser Buchtipp
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Die Tarnkappe© Mara TrevekWie ein Faden abgerissene Nähseide lag das hellbraune Haar auf dem Kopfkissen. Ute seufzte, klaubte es mit den Fingern auf und betrachtete es. "Wieder eins weniger", dachte sie. Und dann, wie jeden Morgen vor dem Spiegel, das gleiche Spiel: Mit langsamen Bewegungen, vorsichtig, damit nicht noch mehr Haare ausfielen, zog sie die weiche Babybürste durch ihr Haar. "Wie Wollmäuse", dachte sie oft, wenn sie versuchte, die Flusen in eine Frisur zu verwandeln. Überall schimmerte die blassrosa Kopfhaut durch. Mit dem Stielkamm verteilte Ute die einzelnen Strähnen gleichmäßig über die kahlen Stellen. Anschließend besprühte sie das Gebilde von allen Seiten mit Haarlack. "Für feines Haar" stand auf der Sprayflasche. Für spinnwebfadendünnes Haar gab es leider nichts. Nach dieser Prozedur wagte Ute kaum noch, den Kopf zu bewegen. Ein Windhauch würde genügen, um das klebrige Gespinst zu zerstören, das an karamellisierte Zuckerwatte erinnerte. Auf dem Weg zum Büro kam sie bei ihrem Frisör vorbei. "Sie haben eben sehr feines, weiches Haar", sagte er immer und zuckte mit den Schultern, wenn sie mit schlaffen Strähnen den Salon verließ. "Fein und weich", das klang natürlich besser als "dünn" und "schütter". Seit einigen Tagen konnte Ute nicht an dem Frisiersalon vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben. Im Schaufenster waren weiße Schaumstoffköpfe mit den herrlichsten Perücken ausgestellt: sonnigblonde, langfließende Haare, die mattgolden schimmerten, ein nugatbrauner, kesser Bob mit Pony, vamprotes Haar, das in unbekümmerten Wellen das Gesicht umspielte. Doch vor allem eine Perücke hatte es Ute angetan: Korkenzieherlocken, schwarz glänzend wie Rabengefieder, die in einer üppigen Mähne bis auf die Schultern fielen. Diese Locken umgarnten sie jedes Mal aufs Neue, sodass sich ihr Blick darin verfing. Jemand, der solche Haare hatte, musste temperamentvoll sein, übermütig, voller Lebensfreude - genauso, wie Ute gern wäre. Schließlich konnte sie nicht mehr widerstehen und kaufte die Perücke. Der Frisör lächelte verständnisvoll, während er den weißen Schaumkopf mit den prachtvollen schwarzen Locken vorsichtig in die Hutschachtel packte, und Ute hasste ihn dafür. Sie konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Mit zitternden Händen öffnete sie die Schachtel. Doch als sie endlich vor dem Spiegel stand, um die Perücke aufzusetzen, wagte sie kaum hinzuschauen. Sie holte tief Luft und trat einen Schritt zurück. Ihr stockte der Atem. In herrlicher Fülle umschmeichelten Locken ihr Gesicht. Die Ute, die ihr gegenüberstand, war sie, und doch war sie es nicht. Es war die Frau, die sie wäre, hätte sie nicht diese dünnen Haarsträhnen, sondern Locken im Überfluss. Ein Funkeln ließ ihre wässrigen Augen wie Aquamarine aufleuchten und ein Hauch von Röte überzog ihre gipsweißen Wangen. "Heute tu ich's", dachte sie, "heute gehe ich hin." Aber was zog man zu einer solchen Gelegenheit an? Das Lurextop war zu weit ausgeschnitten, man sah ihre Schlüsselbeine scharfkantig hervorstehen. Eine weiße Bluse wirkte zu bieder. Ute entschied sich für einen schwarzen Hosenanzug mit einem weinroten Seidenshirt. Prüfend betrachtete sie das Spiegelbild. An wen erinnerte diese Frau sie bloß? Sie lächelte sich zu - und da wusste sie es: an Sita mit den herrlichen schwarzen Haaren, die niemals schüchtern gewesen war, Sita, die immer und überall im Mittelpunkt gestanden hatte. Ute kramte in ihrem Badezimmerschrank. Irgendwo hatte sie noch ein paar Schminkutensilien. Als sie Make-up aufgetragen und sich die Lippen dunkelrot angemalt hatte, sah sie ihrer früheren Klassenkameradin noch ähnlicher. Dennoch zögerte sie. Sollte sie das wirklich tun? Schließlich war sie nicht mehr die Jüngste. Sie blickte auf ihre Füße und entdeckte einen kleinen Fleck auf den Lackschuhen. Sie bückte sich und rieb mit einer Fingerkuppe darüber. Die Locken fielen nach vorn, streichelten ihr Gesicht, berührten ihre Lippen. Ute richtete sich auf. Ihr Entschluss war gefasst. Eine Welle verbrauchter Luft schlug ihr aus dem Lokal entgegen, als sie die Tür aufdrückte. Bis auf die Tischlampen mit den grünen Lampenschirmen und der Diskokugel gab es kaum Lichtquellen. Wenige Paare schoben sich über die Tanzfläche in der Mitte des großen Raumes. Die meisten Gäste saßen allein an den Tischen. Eine Art gespannter Erwartung lag über der Szene. Ute fand einen freien Platz, strich die schwarzen Locken aus ihrem Gesicht und blickte sich um. Sie beobachtete einen Mann, dessen Finger sich um ein Bierglas krallten. Eine junge Frau starrte auf das altmodische Telefon, das vor ihr stand, als könnte sie mit ihrem Blick den roten Knopf zum Leuchten bringen. Ute wusste genau, wie sie sich fühlte. So wie sie sich selbst noch gestern, ohne die schwarzen Locken, gefühlt hatte. Doch die Perücke machte alles anders. Sie war wie eine Tarnkappe, die die alte Ute verschwinden ließ. Sie bestellte Rotwein. "Bitte sehr", sagte der Kellner, der ihr das Glas brachte. Sie nickte und lächelte ihm zu, doch sein Blick glitt über sie hinweg. In diesem Augenblick hörte sie ein Klingeln. Der Knopf an ihrem Apparat flammte auf. Mit ungelenken Bewegungen nahm sie den Hörer ab. "Hallo", sagte eine männliche Stimme. "Hallo." Sie hätte es gerne wie Sita gesagt, ein bisschen heiser, vielversprechend, doch sie brachte nur ein Flüstern heraus. "Ich tanze nicht gern", klang es an ihr Ohr. "Ich hoffe, Sie auch nicht." Ute schüttelte den Kopf. Dann wurde ihr bewusst, dass sie ein Telefongespräch führte, und sie hauchte: "Ich auch nicht." "Darf ich an Ihren Tisch kommen?", fragte der Anrufer. "Ja, bitte." Sie legte auf. Ihr Herz begann hart zu klopfen. Wenn sie doch charmant wäre, sprühen würde von Geist und Witz ... Ein Herr näherte sich ihrem Tisch. Ein Bild von einem Mann. Typ Latin Lover. Ute atmete kurz und flach. Sie würde es nicht schaffen, ganz bestimmt nicht. Ein solcher Traummann würde sich niemals für sie ... Der Latin Lover warf einen kurzen Blick auf sie und ging vorbei, auf den Ausgang zu. Ute stieß die Luft aus, die sie unwillkürlich angehalten hatte. "Guten Abend. Mein Name ist Schaller. Jürgen Schaller." Ute wusste nicht, ob sie erleichtert sein sollte oder enttäuscht, als sie den Mann mittleren Alters mit Bauchansatz sah, der vor ihrem Tisch stand und eine knappe Verbeugung andeutete. "Schiewitz", antwortete sie. "Aber bitte, nehmen Sie doch Platz." Sie schauten sich an. "Sieht eigentlich ganz sympathisch aus", fand Ute. Der Mann schien Ähnliches zu denken. Zumindest, wenn sie seinen Blick richtig deutete. Er lächelte. "Nett hier, finden Sie nicht?" Ute nickte. Sie schaute sich um. Ihr fiel nichts, aber auch gar nichts ein, was sie sagen konnte. Schaller anscheinend auch nicht. Er räusperte sich. "Sind Sie öfter hier?" "Zum ersten Mal." "Ich auch!" Ute war froh, dass sie wenigstens etwas gemeinsam hatten. Sie warf ihren Kopf mit den schwarzen Locken in den Nacken. "Sie haben wunderschöne Haare", stellte Jürgen Schaller fest. "Danke", antwortete Ute automatisch. Das Wort setzte sich plötzlich quer und schnürte ihr die Kehle zu. Sie nahm einen Schluck Wein. "Vielleicht könnten Sie mir ein paar davon abgeben?", scherzte er und deutete auf seine ausgeprägten Geheimratsecken. Ute wollte lächeln, aber ihr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. "Stimmt etwas nicht?" Schaller blickte sie beunruhigt an. "Nein, nein, alles in Ordnung!" Doch im Grunde war nichts in Ordnung. Eine Fremde saß hier an diesem Tisch, die eine entfernte Ähnlichkeit mit Sita hatte, und Jürgen Schaller schaute diese Fremde an, während er mit Ute sprach. "Entschuldigen Sie mich", murmelte sie und eilte in den Waschraum. Dort riss sie sich die Perücke vom Kopf, stopfte sie in eine große Plastiktüte und wusch die Schminke ab. Als sie wieder herauskam, war Jürgen Schaller verschwunden. Ute trat auf den Kellner zu. "Ein Glas Wein", sagte sie und kramte nach ihrem Portemonnaie. Der Kellner schaute sie verdutzt an, dann lächelte er ihr zu. "Möchten Sie bestellen?" "Nein. Bezahlen." Nun schien der Kellner verwirrt. "Ein Glas Rotwein", erklärte sie und zeigte auf den Tisch, an dem sie gesessen hatte. "Möchten Sie für die Dame bezahlen?", erkundigte er sich. Ute zögerte kurz, dann nickte sie. Der Kellner schaute ihr in die Augen. "Das macht vier Euro vierzig." Sie senkte die Lider. "Fünf", murmelte sie und hielt ihm einen Zehneuroschein hin. "Herzlichen Dank." Mit den Fingerspitzen berührte er leicht ihre Hand, als er ihr das Wechselgeld gab. Ute steckte es hastig in die Tasche und floh zum Ausgang. "Kommen Sie noch mal wieder?", rief er ihr nach. "Ich glaube nicht." "Auf Wiedersehen!" Doch das hörte Ute nicht mehr.
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Ein haariges Lesevergnügen
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