Unser Buchtipp
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An den Haaren herbeigezogen© Birge LaudiDas vorgegebene Thema, meine Damen und Herren, liebe Leser und auch weniger liebe, ist wie Sie wissen, das menschliche Haar. Ich werde versuchen, dieser Thematik gerecht zu werden, indem ich Ihnen eine Geschichte erzähle. Meine Damen und Herren, geneigte Hörer, Leser und Schreiber, diese Geschichte, ich fühle mich verpflichtet, es zuzugeben, ist bis zu einem gewissen Grad an den Haaren herbeizogen. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. Und von Haaren handelt sie im weitesten Sinne allzumal. Sie werden sich nun fragen, ist die Geschichte tatsächlich passiert oder ist sie pure Fantasie. Ich kann nur mit 'Ja und Nein' antworten. Denn in jeder Geschichte, die gewaltsam zu einem Thema hingebogen wird, ist immer ein Körnchen Wahrheit enthalten. Dieses Körnchen zu finden, müssen Sie sich allerdings selbst bemühen.
In meiner Geschichte spielen zwei Personen mit, eine Geschichte und ein Computer, sozusagen alle in der Hauptrolle. Zunächst einmal darf ich Ihnen die Personen vorstellen. Da haben wir einen Mann, ein wahrhaft stattliches Mannsbild mit Bart und Halbglatze, einen waschechten Wissenschafter. Mir sei die Bemerkung erlaubt, dass auch nur ein Mann den geforderten Mut aufzubringen vermag, über Haare oder auch keine zu forschen. Nun, dieser Mann, der die Herausforderung angenommen und sich der Haarforschung ergeben hat, ist einfallsreich - was will man auch anderes erwarten! Einer seiner Einfälle war die Einrichtung eines sicheren Platzes im weltweiten Netz und der Weg durch dieses Netz endet logischerweise auf einer Festplatte seines Computers. Dorthin kann jedermann, den des Nachts ein Traum ins Reich der Haare oder anderer Absonderlichkeiten entführt hat, diesen des Morgens auf den Weg durchs www schicken. Und das tut so manch einer oder eine. Und damit, meine Damen und Herren, bin ich bei der zweiten Person unseres haarigen Dramas. Ich spreche hier von einer ältlichen, um nicht zu sagen alten Person, die nachts nicht mehr gut schläft und die Träume durch Gedankenspiralen und Spintisierereien ersetzt. Diese hinwiederum verhelfen ihr zu manch einer Geschichte, die sie am Morgen flugs zu Papier bringt. Nein, natürlich nicht. Papier ist out, Computer ist in. Sie tippt also ihre Geschichten ordentlich - oder sollte ich des Themas wegen haarklein erörtert sagen? - in den Computer. Eine der nächtens spintisierten Geschichten will ich Ihnen heute nicht vorenthalten und vor allem nicht, was dann mit dieser geschah. Es folgt nun, wie bereits eingangs in Aussicht gestellt, nach der kurzen Beschreibung der beiden Personen die angekündigte Geschichte. Sie trägt den Titel:
Ein Vogelnest am Platz der himmlischen Freude
Da war ein gewissenhafter Polizeiobermeister, in der Abkürzung auch als POM bezeichnet, der in seiner Freizeit ebenso gewissenhaft die Wälder durchstreifte auf der Suche nach Pilzen. Zur Entlastung der Haushaltskasse wie auch aus echter Leidenschaft. Eines Tages geriet POM Alois Selbiger, wie sein voller Name lautete, tief im dunklen Forst auf einen Platz himmlischer Freude für einen passionierten Pilzsucher. Hier standen brauner Kopf an braunem Kopf knackig gesunde Steinpilze, unbelästigt noch von Wurm und Schnecke. Auf allen Vieren kriechend sammelte der Polizeiobermeister sie in seinen Korb und mitten zwischen den braunen Köpfen lag unschuldig und wohlgeformt ein leeres Vogelnest. POM Selbiger nahm es staunend in die Hand und legte es dann zu der ergiebigen Pilzernte in den Korb. Seine Kinder würden sich bestimmt über den naturkundlichen Fund freuen. Die Kinder freuten sich, doch das Interesse an dem leeren Vogelnest erlosch allzu rasch und Alois Selbiger legte es zu seinen Akten auf den Schreibtisch. In den Akten aber ruhte ein ungelöster Fall. Eine junge Frau war vor einigen Tagen unter mysteriösen Umständen verschwunden. Die Suche nach der Vermissten war bisher ergebnislos geblieben, was auf haarsträubende Fehler der Polizei zurückzuführen sei, sagten die Angehörigen der Frau. Das wurmte den POM Selbiger. Brütend saß Herr Selbiger an seinem Schreibtisch, die Sonne warf einen goldenen Strahl auf das Vogelnest und da sah er es: Aus dem sorgsam zusammengewirkten Gras- und Moosgeflecht, stach ein mittelbraunes Haar hervor. Mit einer Pinzette befreite der gewissenhafte und einfallsreiche Polizist das Haar aus dem Vogeleigenheim und ließ dann seine Gedanken schweifen. Wie kam ein Haar in den Wald? Wie auf seinen Steinpilzplatz? Oder hatte der Vogel das Haar sogar von weit her mitgebracht? Letzteres erschien dem POM unwahrscheinlich. Er griff nach der Akte der Vermissten und suchte nach ihrer Beschreibung: Alter 30, Größe 1.75 m, Gewicht 65 kg, Haarfarbe mittleres Braun. Ha, mittleres Braun! Wie das im Vogelnest verarbeitete Haar! POM Selbiger rief bei der Familie der Gesuchten an und bat um ein Haar aus deren Kamm oder Bürste und als man ihm dieses in seinem Dienstzimmer auf den Tisch gelegt hatte, da verglich er Farbe und Konsistenz. Sie waren identisch und er schickte daraufhin beide Haare zur molekulargenetischen Untersuchung. Was er erhofft, trat ein. Die beiden Haare stammten vom gleichen weiblichen Kopf und somit von der vermissten jungen Dame. Logische Schlussfolgerung für den findigen POM: Sie musste sich mit hoher Wahrscheinlichkeit im Wald der Steinpilze, vielleicht gar auf dem Platz der himmlischen Freude aufgehalten haben. Es war ein schwerer seelischer Kampf, den POM Selbiger auszufechten hatte. Welcher Pilzfreund verrät schon einem anderen, wo die schönsten Pilze wachsen? Doch Dienst ist Dienst und über die Schwammerln wollte er jetzt nicht weiter nachdenken. Mit leiser Trauer führte er die Kollegen an den Platz, wo das Vogelnest gelegen hatte. Die Mannschaft schwärmte aus und bereits nach kurzer Suche hörte man erfreute Rufe durch den Forst schallen. In einer winzigen Hütte, in der die Forstleute einige Geräte verwahrten, saß die Gesuchte an einen Pfosten gefesselt und mit verbundenen Augen. Sie wimmerte leise vor sich hin und um Haaresbreite wäre ihr das Herz stehen geblieben, als die Türe zur Hütte so plötzlich aufgerissen wurde. Das mittelbraune Haar fiel ihr wirr in die Stirn und war von Schweiß verklebt. Als ihr POM Selbiger als erste Handlung und noch vor der Befreiung aus der Fesselung ein Haar ausriss, stieß sie einen spitzen Schrei aus und dann sank sie ohnmächtig zu Boden. Nachdem die junge Dame ärztlich bestens versorgt in einem sauberen Krankenhausbett ihre Schreckenszeit mit Hilfe eines Psychologen aufzuarbeiten begann, brachte ihr POM Alois Selbiger neben der Nachricht, der Täter sei gefasst, ein in Zellophanpapier verpacktes und mit einer roten Schleife versehenes Vogelnest. "Das, meine Liebe", sagte er, "das hat Ihnen das Leben gerettet". Dann ging er in den Wald zum Platz der himmlischen Freude, erntete daselbst noch ein paar Pilze und gedachte voll Dankbarkeit des kleinen Vogels, der einst in den Wipfeln über ihm sein Nest gebaut hatte.
Nach dem glücklichen Ende der dramatischen Suche nach einer Vermissten kommt nun, wie ich Ihnen eingangs versprochen habe, auch ein Computer ins Spiel.
Frohgemut schickte die alte Dame ihre Geschichte auf den Weg durch das weltweite Netz und da sie nie mehr etwas von ihrer Geschichte hörte, nahm sie an, sie habe sich, wie man sich gut vorstellen kann, im www verirrt. Wahrscheinlich, so dachte die Verfasserin, taumelt die Geschichte über fremden Kontinenten durch den Äther und findet nicht den Weg zu dem Haarwissenschaftler, der sich so nach haarigen Geschichten verzehrte. Die frohgemute Schreiberin konnte nicht wissen, welch dramatischen Lauf das Schicksal nahm. Doch mir ist das ganze Ausmaß unglücklicher Verkettungen bekannt. Ich werde es Ihnen, liebe Leser, Denker und Mitfühler nicht vorenthalten.
'Das Vogelnest am Platz der himmlischen Freude' erreichte ohne Umwege durch fremde Kontinente seinen Bestimmungsort, die Festplatte des wissenschaftseigenen Computers. Dort nistete es sich ein, machte es sich gemütlich zwischen einer großen Zahl von anderen Geschichten und Nachrichten, und wurde langsam unter der Last der vielen erwünschten oder auch verabscheuten Nachrichten zugemüllt. Natürlich spreche ich jetzt nicht mehr von dem Nest des Vogels, sondern von der Geschichte über das Nest des Vogels. Doch das werden Sie sich schon gedacht haben. Die Vogelnestgeschichte stöhnte und ächzte unter der Last all der anderen elektronischen Nachrichten, die pausenlos hereingeschwirrt kamen und dann passierte es: Die Geschichte brach in ihre Einzelteile auseinander. Und weiter und weiter quoll die Menge der Nachrichten herein und Stunde um Stunde schwoll die Festplatte unter dem Druck von Millionen Buchstaben an. Sie beulte sich aus, wurde rund und prall und dann kam es so, wie es kommen musste: Mit einem lauten Knall platzte die aufgequollene Festplatte und die Buchstaben ergossen sich in wüstem Durcheinander über den Boden der haarwissenschaftlichen Schreibstube. Von dem lauten Knall alarmiert stürmte der Wissenschaftler vom Frühstücksraum kommend in sein Büro und blieb von Entsetzen gepackt mitten zwischen den knöcheltief wabernden Buchstaben stehen. Um Haaresbreite hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre kopfüber in die zertrümmerten Geschichten und Meldungen gestürzt und darin ertrunken. Während er sich mit Erstaunen, ja, man muss sagen, mit einer gewissen Faszination die Bescherung besah, schlich sich mählich und von ihm selbst unbemerkt ein irrer Schimmer in seine Augen. Bei dem Starren auf die Buchstaben aber blieb sein Blick an einem einzelnen Haar hängen, das aus der wirren Masse herauslugte. Mit einem tierisch anmutenden Aufschrei stürzte er sich auf das Haar und zog es aus der quirligen Buchstabensuppe. Er zog und zog und an dem Haar hingen wie Perlen an einer Schnur alle die Buchstaben, die vom Vogelnest auf dem Platz der himmlischen Freude berichteten. Unter hysterischem Gelächter zog der Wissenschaftler die Geschichte an dem mittelbraunen Haar Buchstabe für Buchstabe und Zeile für Zeile zu sich heran. Er hielt die Geschichte, die an diesem einen und einzigen Haar hing und nur haarscharf dem Untergang entkommen war, noch immer fest an seine Brust gepresst, als er bereits von zwei kräftigen Pflegern in eisenhartem Griff in die Aufnahmestation der Psychiatrie bugsiert wurde. Dort verbrachte der Wissenschaftler viele Tage und Wochen damit, gewissenhaft Buchstabe für Buchstabe von dem Haar abzustreifen und zu Wörtern und schließlich zu ganzen Sätzen zusammenzubauen.
Meine Damen und Herren, ich will es Ihnen erlassen, die Geschichte vom Vogelnest erneut zu erzählen, und zwar so, wie sie nach dem Restaurierungsversuch des irre gewordenen Wissenschaftlers nun lautet. Ich bitte Sie lediglich: Denken Sie mit Wohlwollen an alle an der Geschichte Beteiligten, an den Wissenschaftler, die alte Dame, die Geschichte vom Vogelnest und den unglücklichen Computer mit der geplatzten Festplatte. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
Eingereicht am
Ein haariges Lesevergnügen
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