Unser Buchtipp
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Nostalgie© Martin Braun"Um drei Uhr können Sie Ihre Bilder und den Befund abholen!", sagt die Arzthelferin und wendet sich wieder ihrem Computer zu. Nicht nur, dass ich eine Stunde auf die Magnetresonanz gewartet habe, jetzt geht auch noch eine weitere Stunde mit dem Warten auf die Ergebnisse drauf. Kurzfristig entscheide ich mich, die Zeit in einem naheliegenden Café bei einem Verlängerten und dem Schmökern in einer Tageszeitung zuzubringen. Nach kurzem Fußmarsch erreiche ich den Bahnhofsplatz, wo sich auch das Kaffeehaus befindet. Eine etwas veraltete Aufschrift auf der anderen Seite des Platzes erregt meine Aufmerksamkeit. Die Schriftart der verwitterten Emailbuchstaben ist mir unbekannt. Sie kündigen an, dass dort ein Herren- und Damenfriseur seinem Geschäft nachgeht. Heute Morgen erst hat mir meine Frau die Notwendigkeit eines Haarschnitts nahegelegt. So könnte ich die Wartezeit sinnvoll verkürzen und vielleicht geht sich ja trotzdem noch ein Kaffee aus. Ich drücke die schwere Glastüre auf. Sofort umgibt mich ein Hauch von Nostalgie und ich fühle mich wie in einer Originalkulisse eines "Conny und Peter"-Films. Die kunststoffbeschichteten Kästchen, die altgedienten, durchgesessenen Drehstühle mit rotem Kunstlederbezug, die Flasche Pitralon mit dem völlig vergilbten Firmenaufkleber, die nur mehr aufgrund ihrer Form als solche zu erkennen ist, sowie die Fläschchen mit Brillantine und Nussöl, die zum Verkauf feilgeboten werden und denen nachträglich ein Etikett mit Euro-Preisen verpasst wurde, ergeben ein homogenes Bild. Wie alt mag diese Einrichtung wohl sein? Mein Gefühl würde das Montagedatum in einem Jahrzehnt ansiedeln, als Freddy Quinn noch die heimischen Hitparaden anführte und ein Motorroller ein übliches Fortbewegungsmittel war. Alles, wirklich alles hier ist stimmig! Es scheint von einem übereifrigen, um nicht zu sagen pedantischen, Regieassistenten zusammengetragen und stilvoll in Szene gesetzt worden zu sein. Jeden Moment erwarte ich, dass ein Regisseur "Action!" schreit, ein Kamerateam hervorspringt und mit den Dreharbeiten beginnt. Das Friseurgeschäft ist in zwei Einheiten geteilt. Die rechte Hälfte ist für Herren und die linke nur für Damen. Trennung, wo Trennung sein muss! Der Friseur sitzt, vertieft in seine Zeitung, in einem der Drehstühle und wartet auf Kundschaft. Nicht, dass der Kunde auf einen Haarschnitt zu warten oder sogar einen Termin mit dem Coiffeur zu vereinbaren hat, nein, hier wird noch auf Laufkundschaft gewartet. Er ist groß gewachsen. Seine grauen Haare und sein Gesicht verraten mir, dass er schon lange, sehr lange in diesem Geschäft Haare schneidet. Mittlerweile bin ich in der Mitte des Herrensalons angelangt und werde durch die Frage "Was kann ich für Sie tun?" gestoppt. "Ich hätte gerne einen Haarschnitt!" Meine Antwort hat ihn mehr überrascht als ich erwarte. Abrupt legt er seine Zeitung zur Seite, springt von seinem Stuhl hoch und weist ihn mir zu. Vorerst werden keine weiteren Fragen gestellt. Er weiß eben, dass Männer nur wegen dem Schneiden der Haare zum Friseur gehen und nicht, um sich diese dort waschen oder gar föhnen zu lassen! Sofort, nach dem ich Platz genommen habe, legt er mir den beim Haaresschneiden üblichen Poncho über und betätigt mehrmals das Fußpedal für die etwas träge pneumatische Höhenverstellung des Drehstuhls. Gerade als etwas Ruhe in mir einkehrt, werde ich doch mit einer Frage konfrontiert. Ich erkläre ihm kurz, wie ich meine Haare geschnitten haben möchte und mich beschleicht der Verdacht, dass der Meister eigentlich schon ein klares Bild vor Augen hat und es sich eher um eine rhetorische Frage handelt. In Gedanken kehre ich zurück zu den schönen und wilden 60er Jahren, wie sie mir in diversen Spielfilmen aus dieser Zeit vorgegaukelt werden. Plötzlich fällt mir ein, dass ich üblicherweise wenig Geld mit mir herumzutragen pflege und dass ein Friseur in der Stadt wahrscheinlich mehr verlangen wird, als dies bei uns zu Hause üblich ist. Noch dazu kann ich weit und breit keine Bankomatkasse erspähen. Ich greife nach meinem Portemonnaie, öffne es und nur ein kleiner Zehn-Euro-Schein lächelt verschmitzt heraus. Verlegen grinse ich den Friseur an, der argwöhnisch meinen plötzlichen Aktivismus beobachtet hat. Meine Frage, ob es sich mit dem Geldschein wohl ausgeht, wird mit einer Mine, die sich am bestem mit dem Sprichwort "Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach!" beschreiben lässt, beantwortet. Dazu nickt er wohlwollend und setzt seine Arbeit fort. Aus einer Lade kramt er eine üppig proportionierte Haarschneidemaschine hervor, wie sie wahrscheinlich nur mehr in Museen zu finden sein wird. Sie ist fast nur mit beiden Händen wirklich gut zu bedienen. Von Ergonomie und Akku keine Spur! Als das Gerät schon nach kurzer Scherzeit seltsam anmutende Geräusche von sich gibt, befällt mich schon wieder ein Gefühl und zwar dieses Mal jenes der Beklommenheit! Was wäre, wenn die Maschine gerade jetzt, wo nur die linke Seite meines Kopfes rasiert ist, in den wohlverdienten Ruhestand treten würde? Mit einem kleinen Pinsel bringt er die Geräuschkulisse jedoch wieder auf das Ausgangsniveau zurück. Erst jetzt fällt mir auf, dass keine blechern klingende Beschallung aus einem Lautsprecher zu hören ist, wie es heute nur allzu oft üblich ist, sondern nur das sanfte Surren eines Ventilators im hinteren Teil des Ladens sowie das Krächzen der Schneidemaschine. Diese fügen sich harmonisch in das Meer der Ruhe ein. Auch der Meister lässt sich auf keine gezwungen wirkende Kommunikation während seiner Arbeit ein. Kein Gespräch über das Wetter, den bevorstehenden Jackpot im Lotto, die neue Regierung oder sonstige unnötige Tagesthemen trüben die Stimmung beziehungsweise fordern meinen aktiven und passiven Wortschatz heraus. Ich kann mich ruhig und gelassen seinen Händen hingeben. Mein Verdacht bestätigt sich nun. Der Herr der Schere hat schon ziemlich konkrete Vorstellung, wie ich aussehen werde, wenn ich sein Geschäft wieder verlasse. Dies deckt sich zwar nicht hundertprozentig mit meinen Vorstellungen, aber eigentlich es mir auch egal. Schlussendlich soll man(n) danach halt wieder etwas manierlicher aussehen! Mittlerweile ist die Qualität meines Haarschnittes nicht mehr von der Elektroantiquität abhängig. Wir sind bereits zu Stufe 2 übergegangen und das Bearbeiten des Scheitelbereichs mit einer Schere beginnt. Den Schärfezustand dieser kann ich äußert gut an meinen Haarwurzeln fühlen. Ich bewundere seine handwerklichen Fähigkeiten. Im Nu hat der das Haupthaar gekürzt. Er beginnt etwas Rasierwasser aus einer kleinen, mit etlichen Beulen versehenen, silberfarbenen Blechdose, vergleichbar mit einem überdimensionierten Salzstreuer auf meinen Haaransatz und meinen Nacken zu sprühen. Was hat er jetzt vor? Er hält meinen Kopf ziemlich fest mit der einen Hand. Mit der anderen und einem, aus seiner Tasche hervor gekramten Rasiermesser versucht er, meinen linken Ansatz auszurasieren. In Punkto Schärfe wird seine Schere nur noch von diesem Messer übertroffen. Eigentlich müsste jetzt, dem Gefühl nach zu urteilen, mein Ohr fehlen. Ich beginne über die Nummer des Rettungsnotrufes nachzugrübeln. Zwischenzeitlich fasst er den Beschluss, sich nach jahrelanger guter Zusammenarbeit von seiner Rasierklinge zu trennen und diese durch eine neue zu ersetzen. Mein Ohr ist noch dran. Ich sehe es im Spiegel. Er rasiert mich fertig. Danach beginnt er mit einer Rundbürste mein kurz geschorenes Haar kräftig zu striegeln, um mich von den vielen kleinen Härchen zu befreien, die mir den Rest des Nachmittags durch "Sticheleien" aus dem Hemdkragen heraus verderben würden. Die Kopfhaut ist nun kräftig durchblutet und fühlt sich angenehm an. Der Stuhl plumpst in seine Ausgangsstellung zurück und ich werde abrupt aus meinem trancheähnlichen Zustand des Wohlbefindens zurückgeholt sowie an die, üblicherweise am Ende einer solchen Dienstleistung stehende, Geldübergabe erinnert. Erstaunlicherweise kostet die Haarbehandlung geradewegs neun Euro und neunzig Cent. Ich drücke ihm meinen Zehner in die Hand. Er bedankt und verabschiedet sich rasch, klettert auf den Stuhl und widmet sich wieder seiner Zeitung. Ausgangsposition. Auch ich sage ihm und seinem Laden ein lautes und ein innerliches "Auf Wiedersehen!" Der dumpfe Knall als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, katapultiert mich zurück ins einundzwanzigste Jahrhundert. "Für den Eintritt in eine längste vergangene Zeit waren diese zehn Euro wirklich nicht viel und einen Haarschnitt bekam ich noch gratis dazu!", denke ich zu mir, als ich Richtung Kaffeehaus trotte. Die Kopfhaut ist noch immer wohlig warm.
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Ein haariges Lesevergnügen
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