Unser Buchtipp
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
Wunschträume© Hannelore SagorskiLange blonde Haare habe ich mir schon als Kindergartenkind gewünscht. Schließlich wollte ich Prinzessin werden, und in Märchenbüchern hatten fast alle Prinzessinnen lange blonde Haare. Ich glaubte fest daran, eines Tages würde die gute Fee erscheinen und nach meinem größten Wunsch fragen. Dann würde ich sagen: "Lange blonde Locken". Für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis mein größter Wunsch in Erfüllung gehen würde. An einem verregneten Nachmittag, wir kamen mit unserer Gruppe gerade vom Spielplatz, zeigte Jonas plötzlich mit dem Finger auf mich und rief lachend: "Guckt mal, die Lena hat Spaghetti-Haare!" Alle Kinder lachten, tanzten um mich herum und riefen immer wieder im Chor: "Lena hat Spaghetti-Haare." Tränen schossen mir in die Augen. Ich wollte nur noch weg und lief in unseren Waschraum. Ganz vorsichtig wagte ich einen Blick in den Spiegel. Was ich sah war schrecklich. Jonas hatte Recht. Lange dünne Fäden hingen triefend an meinem Kopf herunter. Ich wünschte mir meine Fee herbei, die mir endlich meine blonden Locken schenken sollte. Dann würde es auch keiner mehr wagen, über meine Haare zu lachen. Aber es kam keine Fee. Als ich mich umdrehte, stand Jonas vor mir und murmelte etwas von Entschuldigung. Aber ich wollte keine Entschuldigung. War traurig und verletzt, wütend auf Jonas, der ja dafür gesorgt hatte, dass alle anderen Kinder über mich lachten. Dafür sollte er büßen. Ich holte kurz aus und verpasste ihm einen Schlag auf die Nase. Gerade in diesem Moment betrat unsere Betreuerin den Raum und wurde Zeuge meines Schlages. Jetzt ging der Ärger erst richtig los. In unserem Kindergarten galt eine Regel: Es wird niemals geschlagen. Es folgte eine längere Belehrung, und zur Strafe musste meine Mutter mich sofort abholen. Keine Frage, warum ich geschlagen hatte. Auch zuhause hieß es nur: "Ab auf dein Zimmer, da kannst du über dein Verhalten nachdenken." Ich dachte nach, war mir aber keiner Schuld bewusst. Die Spaghetti-Haare hatten mich tief verletzt. Allein der Gedanke daran trieb mir die Tränen in die Augen. An diesem Augenblick war ich wohl das einsamste Mädchen auf der Welt. Am Abend betete ich, es möge doch endlich die gute Fee kommen und mir meine langen blonden Haare schenken. Der erste Weg am nächsten Morgen führte mich zum Spiegel. Die Enttäuschung war groß, meine Haare hatten sich nicht verändert. In Gedanken hörte ich schon die anderen Kinder schreien: "Spaghetti-Lena, Spaghetti-Lena"! Aber es kam alles ganz anders. Im Kindergarten begrüßten mich alle wie immer, aber ich konnte nicht freundlich sein. Der Spott über meine Haare saß einfach zu tief. Allein setzte ich mich auf eine Bank, starrte auf meine Füße und verfluchte Jonas, der ja meine Spaghetti-Haare erfunden hatte. Kurze Zeit später setzte er sich zu mir, hielt mir einen Lolly vor die Nase, und fragte: "Wollen wir uns wieder vertragen?" Ich schaute ihn wütend an und schüttelte den Kopf Er holte einen zweiten Lolly aus der Tasche. Mein Interesse war geweckt, und ich schaute genauer hin. Colalollys - die lutschte ich besonders gern. Beim dritten Lolly konnte ich nicht mehr widerstehen. Wir rannten zusammen raus, kletterten ins Baumhaus und lutschten gemeinsam unsere Lollys auf. Das war unsere Versöhnung, und Jonas wurde einer meiner besten Freunde. Auch nach der Kindergartenzeit verloren wir uns nicht aus den Augen. Wir gingen auf die gleiche Schule, trafen uns im Sportverein und gingen später sogar auf das gleiche Gymnasium. Für mich war der Sport sehr wichtig geworden. Er machte mich selbstbewusst. Gelegentliche Hänseleien wegen meiner Haare konnten mir nichts mehr anhaben. An Feen glaubte ich schon lange nicht mehr, und doch träumte ich gelegentlich noch von langen, blonden Haaren. Wobei mir bewusst war, dass dieser Traum niemals in Erfüllung gegen würde. Dann kam unser Lehrer eines Tages mit einem Mädchen in die Klasse und sagte: "Ich habe euch eine neue Mitschülerin mitgebracht" Dabei schweifte sein Blick durchs Klassenzimmer und blieb an mir hängen. "Lena, du kümmerst dich die erste Zeit um Desiree." Ich hörte diese Worte wie durch eine Nebelwand, war geschockt. Dieses Mädchen hatte das, was ich mir immer gewünscht habe. Lange blonde Locken, bis zur Hüfte, ein Traum. "Das Leben ist ungerecht", dachte ich. "Jetzt muss ich mir jeden Tag das anschauen was ich mir immer gewünscht habe." Wie eine kleine graue Maus fühlte ich mich, als Desiree sich zu mir an den Tisch setzte. Nein, ich wollte mit diesem Miststück möglichst wenig zu tun haben. Deshalb beschränkte sich meine Unterhaltung auch nur auf das Notwendigste. Desiree suchte allerdings meine Nähe, konnte ich nicht verstehen, da ihr doch alle hinterherhechelten. Vor allen Dingen die Jungs. Ich ließ sie aber immer wieder abblitzen. Eines Tages nahm Jonas mich zur Seite, und fragte: "Was hast du eigentlich gegen Desiree!?" Was sollte ich antworten? Ihre Haare, der lacht mich doch aus. "Weiß nicht", antwortete ich kurz. "Aber ich", kam es zurück. Ich musste lachen, konnte mir nicht vorstellen, dass Jonas meine geheimsten Gedanken errät. "Ihre Haare", sagte Jonas mit ernster Mine. Erst wollte ich weglaufen, aber dann sagte ich: "Ja, es sind ihre Haare. Solange ich denken kann, habe ich mir Haare gewünscht, wie Desiree sie hat. Das Leben ist einfach grausam." Während ich sprach, liefen ein paar Tränen über mein Gesicht. Jonas nahm mich einfach in den Arm, und sagte: "Haare sind doch nicht alles, der Mensch dahinter ist doch viel wichtiger." Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht auf so viel Verständnis von Jonas. Am Abend dachte ich noch mal über unser Gespräch nach. Mir wurde bewusst, wie fies ich zu Desiree war. Deshalb lud ich sie ein, mit mir und ein paar Freunden am Wochenende auf die Kartbahn zu kommen. Wir waren alle gut drauf, drehten unsere Runden. Desiree war noch nie auf einer Kartbahn, fuhr sehr vorsichtig. Ich war schon ein geübter Fahrer, deshalb kam es vor, dass ich sie überrundete. Jedes Mal wenn ich an ihr vorbei fuhr, winkte sie mir lächelnd zu. Plötzlich wurde ich vom Personal von der Bahn gewunken. Es musste etwas passiert sein. Ich dachte sofort an Desiree und lief auf der Bahn zurück. Hinter der Kurve sah ich sie liegen. Als ich näher kam, sah ich ihre weit aufgerissenen Augen, und ihre Haare waren einfach abgerissen. Blut sickerte unter ihrem Helm hervor und verteilte sich am Boden. "Die ist hin", hörte ich eine Stimme hinter mir. "Nein, helft ihr doch!", schrie ich. Jonas packte mich am Arm, und zog mich von der Unfallstelle weg. Ich schaute ihm in die Augen, sah, dass er weinte, und wusste, Desiree ist tot. "Warum?", fragte ich unter Tränen. Jonas konnte mir nur stockend antworten, aber ich hab es begriffen. Ihre langen Haare hatten sich in der Hinterachse verfangen und aufgewickelt, dadurch wurde Desiree vom Kart geschleudert und zog sich einen Genickbruch zu. So stand es später auch im Polizeibericht. Ihre wunderschönen langen Haare wurden ihr zum Verhängnis, und ich werde mir nie im Leben wieder lange Haare wünschen.
Eingereicht am
Ein haariges Lesevergnügen
|
© Dr. Ronald Henss Verlag Home Page