Unser Buchtipp
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
Der Perückensammler© Katharina BritzenImmer tauchte sie unvermittelt, unangemeldet, gänzlich unerwünscht auf. Ab diesem Moment mutierten die Nächte zu Albträumen. Er knipste das Licht an und fühlte sich wie in einer Zwangsjacke. Das ganze Zimmer schien in dieses Bernsteingold getaucht; Wände, Decken, Möbel, Teppich ... Die Gespenster der Vergangenheit hatten ihn eingeholt, bedrängten ihn, sich auf den Weg machen. "Verdammt", fluchte er, "die Zeiträume werden immer kürzer." Zum wievielten Male eigentlich? Er brauchte nicht zu grübeln, nur im Schrank nachzuzählen. Unschlüssig durchforstete er seine Papiere. In welche Rolle sollte er schlüpfen? In die des Priesters? In die des biederen Bankers? In die des Obdachlosen? Wie viele Rollen hatte er während der Jahre schon ausprobiert? Viele. Wäre mal an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Aber was? Er blickte sich in seiner Wohnung um in der Hoffnung, aus irgendeiner Ecke Inspiration zu erfahren. Aber wenn er sich so umsah, diese nullachtfünfzehn Einrichtung in Buche-Nachbildung mit Drucken von Hundertwasser, plagten ihn Zweifel. Wie anders dagegen sein Elternhaus, einst erbaut von Großvater Arthur, dessen Namen er auch trug. Ein Haus aus der Gründerzeit; ausgestattet mit wertvollen Möbeln, Bildern, einem echten Van Gogh, Kristall und versilberten Accessoires. Seine Großmutter war eine leidenschaftliche Sammlerin Meißener Porzellans gewesen. Um die Herkunft des Fabergé-Ei, des kostbaren Bernsteinanhängers seiner Mutter und des russischen Samowars aus purem Silber auf Großvaters massigem Schreibtisch rankten sich Legenden, zu denen auch die Version gehörte, beides seien Geschenke Alexander III. an seinen Großvater, einem ehemaligen Bankier, der den Zar bei finanziellen Transaktionen erfolgreich beraten hatte. Tante Lydia hatte beharrlich getönt, der Anhänger stamme aus dem Bernsteinzimmer. Großvater schwieg und hatte das Geheimnis mit ins Grab genommen. Zu den Erinnerungen an seinen Großvater gehörte dessen Gejammer, wenn er hochbetagt in seinem Lehnstuhl hockte, die Zeitung aufgeschlagen und mittels Monokel, eine Brille lehnte er ab, die Nachrichten studierte und dabei auf Artikel über die Sowjetunion stieß: "Alles, alles ist diesen verdammten Bolschewiki in die Hände gefallen. Alles." Nach dem Tod seiner Mutter hatte er das Haus verscherbelt, den Großteil des Erlöses in einer Schweizer Bank deponiert, eine Wohnung in Luzern gekauft und dieses mit den exquisiten Antiquitäten ausgestattet. Käufer für den Rest fand er im Internet. Um seinen Lebensunterhalt brauchte er sich dank der Weitsicht seines Großvaters keine Sorgen zu machen. Die Wohnung in Luzern diente ihm als Rückzugspunkt und Arbeitsplatz. Hier knotete er Haare zu Perücken, eine Profession, die er sich selber beigebracht hatte. Seine Bleibe im Plattenbau hatte er unter falschem Namen und der Anonymität wegen gewählt. Von hier aus begab er sich stets auf die Suche; klapperte wie getrieben tage-, wochen-, manchmal monatelang Großstädte im In- und Ausland ab. Hatte er sie aufgespürt, dieses Haar in natürlichem Bernsteingold, gefärbt wäre nie in Frage gekommen, heftete er sich an ihre Fersen und fand erst nach getaner Arbeit seinen Frieden. Zumindest für einige Zeit. In Arthurs Rückblende pendelte der Bernsteinanhänger mit der eingeschlossenen Assel am Dekollete seiner Mutter. Ihr Haar schimmerte im gleichen Ton des Schmuckstückes. Schloss er die Augen, fühlte er sie, ihre ausladenden Brüsten, die sie so gerne an ihm rieb und die er - der kleine Arthur - immer streicheln durfte; oft von ihr dazu aufgefordert wurde: "Deine kleinen Patschhändchen dürfen fester drücken, richtig kneten, Arthur. Tut Mami nicht weh." Und sie presste seine Hände auf ihren Busen. Die Affären seines Vaters häuften sich. Kam dieser des Nachts nicht nach Hause, flüchtete sie trostsuchend in ihres Kindes Bett. Mit nichts bekleidet außer Nachthemd und Bernsteinanhänger, offenem bernsteinfarbenem Haar und nach dieser Mischung aus Moschus und Veilchen duftend. Er war neun, als sie seine Knabenhand das erste Mal unter dem Plumeau dirigierte. Fragen erstickte sie mit einem Kuss, und die schleimige Nässe ihres Körpers stieß ihn ab und zog ihn gleichzeitig an. Doch ihre Guten-Morgen-Küsse schmeckten seitdem nach Fondant-Kringel, überzuckert, synthetisch, nach zu viel künstlicher Süße, und nachmittags fuhren sie zu Lindners Spielwaren, wo er sich nach Lust und Laune bedienen konnte. Spaß bereiteten ihm die Spielsachen nicht, und meist zerdepperte er sie. Zum Zeitpunkt seiner Pubertät und den ersten verräterischen Spuren in der Unterwäsche zog seine Vater endgültig aus, und reichte die Scheidung ein. Ab dieser Zeit lockte sie: "Beweis deiner Mami, dass du ein richtiger Mann bist, Arthur." Er bewies es, sooft sie es wünschte, bis er sich das erste Mal verliebte und sich ihr verweigerte. Einer Furie gleich stürzte sie sich auf ihn, zerkratzte ihm das Gesicht und Arme, während sie hysterisch schrie und sich das Haar raufte: "Du gehörst mir, mir ganz allein" und drohte, sich auf der Stelle umzubringen. Die Spitzen der Schere waren aufs Herz gerichtet. Ihr Einfallsreichtum in punkto Suizid-Methodik kannte keine Grenzen. Narben an ihren Handgelenken, eine Anzahl von Schlaftabletten im Medizinschrank, die eine ganze Kleinstadt hätte versorgen können, bis hin zur Drohung, sich von der Balkonbrüstung zu stürzen oder ins Wasser zu gehen. Sein mit Ach und Krach geschafftes Abitur und das vermasselte Kunststudium gingen auf ihr Konto, denn sie hatte seinerzeit verhindert, dass er ins Internat kam, der einzigen Möglichkeit, ihr zu entkommen. Ihre Obsession auf den Tod wurde ihr schließlich zum Verhängnis, aber noch über ihren Tod hinaus blieb Arthur an sie gekettet. Vom Wohnzimmer schlich er ins Schlafzimmer, dann von der Küche ins Badezimmer zurück in sein Arbeitszimmer, blieb vor der Jugendstilvitrine, in seinen Augen einzig passender Rahmen für die Sammlung. Hier versagte die Inspiration nie. Fünfzehn waren es im Laufe der Jahre geworden. Fünfzehn bernsteinfarbene Perücken auf weißen Porzellanbüsten, die einander auf den ersten Blick wie ein Ei dem anderen glichen, aber bei näherem Betrachten doch minimale Unterschiede, Farbnuancen aufwiesen. Er öffnete die Tür der Vitrine, entnahm ihr seine erste Trophäe, sozusagen sein Gesellenstück, eine Perücke auf Büste mit goldfarbenem Bernsteinanhänger, riss dieser ein graues Haar aus und presste zwischen den Zähnen hervor: "Wann lässt du mich endlich in Ruhe, Mutter? Ich hasse dich." Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
Ein haariges Lesevergnügen
|
© Dr. Ronald Henss Verlag Home Page