Unser Buchtipp
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Eine schnittige Angelegenheit© Enrico Andreas BrodbeckEs war lange nach High Noon und der Sonnenstrahlen Widerstände warfen lange Schatten auf den staubigen Gehweg. Willi steuerte auf die einladende Türöffnung eines Gebäudes zu, in deren Mitte der Türrahmen zwei geschwungene Pendeltürchen hielt. Langsam schlenderte er auf sie zu, drückte beide auseinander und blieb dann erst einmal stehen. Mit blinzelnden Augen spähte er in das Innere der Räumlichkeit und sein Blick tastete die Konturen des Bildes ab, das sich nur langsam formierte. Einladend sah dieser Salon nach dem ersten Eindruck nicht aus. Wahrscheinlich hatte er schon erfolgreichere Jahre erlebt, doch nun nagte unerbittlich der Zahn der Zeit an ihm. In Hinblick auf nachfolgende, modernere Coiffeursalons ähnelte dieser eher einer ausklingenden Ära. Die Einrichtung in Eiche dunkel gehalten, weiße eingelassene Form- Keramikbecken mit messingfarbenen Armaturen und an den Wänden große Spiegel, über denen Leuchtstofflampen verdeckt angebracht waren. Das vielfältige Handwerkszeug zur Ausübung der gestaltenden Arbeit war wohl sortiert an seinem Platz. Weiter hinten, im linken Bereich des Raumes, waren Kabinen mit Vorhängen, so dass man das Geschehen dahinter nicht eindeutig verfolgen konnte. Der Laden sah ordentlich aus und macht den Eindruck selten anwesender Kundschaft. Willis Blick streifte einen Garderobenständer, an dessen Haken Klemmleisten mit Zeitungen hingen. Neben dem Röhrenradio auf einer Vitrine, dessen Abstimmungsauge grünlich leuchtete, waren die Zeitungen ein zusätzlicher Beitrag zur Unterhaltung der Kundschaft, in dieser eher nüchternen wirkenden Szene. Hinten rechts in der Ecke vor einem Waschbecken erblickte er seinen Erzfeind Emil Neugebauer, der auf einem Kinderdrehstuhl saß und für eine Haarschneideprozedur vorbereitet war. In der zurückliegenden Zeit waren die beiden oftmals beim Spielen aneinander geraten und hatten sich derbe gerauft um ihre Kräfte zu messen. Als Sieger ist keiner von ihnen hervorgegangen. "Der ist mir ebenbürtig", sinnierte Willi für sich und während sein Blick weiter die Situation einfing, formten sich seine Mundwinkel zu einem leichten Grinsen. "Arme Sau", dachte er, "hat es dich also auch erwischt." Emils Gesicht sprach Bände und zeigte dem Betrachter ein Bild von Trotzigkeit und Wut. Die Anwesenheit seiner Mutter machte die Situation für ihn noch brisanter, denn eigentlich war diese Prozedur reine Männersache. Bevor Willi den Rest der Einrichtung begutachten konnte, schubste ihn sein Vater in die Räumlichkeit und eine prägnante Geruchsmischung bestehend aus Aftershave, Haarspray und Wasserstoffperoxyd griff seinen Geruchssinn an. "Nicht in der Tür stehen bleiben Junge, setz dich dort auf einen der Stühle und sei brav. "Tach, Jupp, wie immer?", kam es wie selbstverständlich aus dem Mund des Figaros und zeugte von der Bekanntheit des Kunden. "Tach, Alfons, sicher wie immer, Facónschnitt kurz aber heute im Doppelpack!" Willis Vater nahm eine Zeitung vom Ständer und setzte sich neben seinen Filius, während Alfons ohne große Unterbrechung geschickt seiner Arbeit nachging. "Jungfernschnitt?", fragte er spitzfindig und verfolgte die Reaktion im Wandspiegel. "So kann man das auch nennen", gab Willis Vater zu verstehen ohne jedoch die Zeitung dabei zu senken. Die Situation war überschaubar ruhig und gelassen. Erst als die Bedienstete, ein Fräulein mit dem wohlklingenden Namen Erika, aus einer der Kabinen kam und sich der Hilflosigkeit von Emil annahm, kam Unruhe auf. Die nun folgende Szene war für Willi neu, denn in so einer peinlichen Situation hatte Willi seinen doch eher robusten Erzfeind noch nie gesehen. Emil Neugebauer, seines Zeichen ein gestandenes junges Mannsbild, war sich nicht zu schade und heulte Rotz und Wasser, um der drohenden Gewissheit eines bevorstehenden Haarschnittes doch noch zu entgehen. Mit dieser Masche wollte er Mitleid bei den vermeintlich weichen Gemütern der Damen erregen, aber die Unnachgiebigkeit seiner Mutter triumphierte über seine stümperhafte Vorgehensweise. Ihr Wille war Gesetz und sollte tunlichst von Fräulein Erika in die Tat umgesetzt werden. In den letzten Wochen hatten die Haare von Emil eine beachtliche Länge erreicht und machten es ihm leicht beim Spiel "Cowboy und Indianer" in die Rolle des Häuptlings "Winnetou" zu schlüpfen. "Der Junge sieht doch verboten aus", gab seine Mutter mit rüdem Unterton zu Verstehen und rechtfertigte sich somit in Richtung der noch anwesenden Kunden. Erika hatte ein sonniges Gemüt und die Gabe der Trotzigkeit einiger Kinder den Gar auszumachen. Auch Emil verfiel zunehmend ihrem Scharm und ehe er sich versah, lag seine schöne "Winnetou"-Matte auf dem vermeintlichen Felde der Ehre. Das Aussehen seiner neu gestalteten Frisur näherte sich der Perfektion eines gelungenen Haarschnittes und die damit verbundene Vorstellung seiner Mutter. Ponny nachschneiden, Nacken mit der Maschine ausdünnen und zu guter Letzt um die Ohren herum die Haare stutzen. Ein Hauch von Friedfertigkeit überlagerte die Betriebsamkeit im Salon, wurde aber plötzlich durch einen Schnäuzer gestört, der aus Emils Mund entfleucht war. Entsetzen zeichnete sich auf dem Gesicht von Willi, der das Geschehen mit Argusaugen verfolgte. Obwohl er sich schon oftmals das Knie aufgeschlagen hatte, hatte er nie zuvor Blut so reichlich fließen sehen. Der Atem stockte ihm, was dem Geschehen dienlich war denn Emil schien nicht mitbekommen zu haben, dass seine Ohrmuschel Ort eines kleinen Missgeschicks war. Erikas flinke Schere hatte den oberen Rand der Ohrmuschel ohne nennenswerten Widerstand sauber durchtrennt. Sei es nun die aufkeimende Tapferkeit eines kampferprobten Kriegers oder die Anwesenheit des Erzfeindes, Emil verharrte regungslos. Für einen Moment schien es, als stünde die Zeit still. Doch Eile ward geboten, denn der Blutfluss bildete mittlerweile einen markanten Fleck auf dem Fußboden, der den Betrachter des Geschehens auf wenig Gutes schließen ließ. Mit der Leichtigkeit eines Wiederholungstäters zückte Erika ein Fläschchen aus ihrem Kittel, auf dem in großen Lettern "AULAN" stand. Mit geübten Handgriffen und Hansaplast hatte sie die Situation schnell wieder bereinigt, was bei der Mutter jedoch nicht unmittelbar für Wohlbefinden sorgte. Mit meisterhafter Fertigkeit beendete Erika ihr Kunstwerk und entließ Emil in die Obhut der Gesellschaft die durch ein paar Kunden im Laden vertreten war. Ohne ernstzunehmende Regung rutschte Emil vom Drehstuhl. Das Gesicht seiner Mutter war vom Schreck der vorangegangenen Szene noch gezeichnet. Das störte Emil aber nicht im Geringsten. Er steuerte zielstrebig auf Willi zu, der ihn mit einem verlegenen "Hey" begrüßte. "Na du Glücksrabe", entgegnete ihm Emil spöttisch mit einem breiten Grinsen auf dem Mund, "nun ist es an dir und ich als dein Freund werde dir aus sicherer Entfernung Beistand leisten." Ein ungutes Gefühl keimte in Willi auf, als er auf dem heruntergedrehten Kinderdrehstuhl Platz genommen hatte und Fräulein Erika ihm freudestrahlend einen Umhang überstreifte. Eine situationsbezogene Frage formierte sich indes in seinem Kopf, während sich Erika für die bevorstehende Prozedur fertig machte: "Zahlt man Trinkgeld im Voraus oder erst später?" Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
Ein haariges Lesevergnügen
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