Unser Buchtipp
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Testosteron© Klaus BuschmeierAls ich in mir den frühen 60er Jahren den Weg auf diese Welt bahnte, war ich nach glaubhaften Aussagen meiner Eltern mit einer dichten schwarzen Matte ausgestattet. Stolz verkündete mein Vater jedem Begutachter der Babybatterie in den Ausstellungsräumen der Säuglingsstation, dass sein Sohn - der mit der schwarzen Matte - auch nicht älter sei, als die haarlosen Winzlinge in den benachbarten Krippen. Ungläubige, zum Teil bewundernde Blicke auf vererbtes Testosteron ließen meinen Vater mit stolzgeschwellter Brust stundenlang im Showroom des Krankenhauses umherwandeln, wartend auf neue Opfer, denen er dieses Abbild seiner Männlichkeit zeigen durfte. Nicht nur, dass meine Haare voll und schwarz waren, gleichzeitig lagen sie, durch eine sich andeutende kräftige Naturkrause, prächtig in Form. In den kommenden Wochen und Monaten waren neben meinem ordentlichen Geburtsgewicht und der Genesung meiner Mutter auch meine sprießenden Hornfäden ein unerschöpfliches Gesprächsthema in der gesamten Verwandt- und Bekanntschaft. Im Laufe der Jugend wechselte meine Haarfarbe von schwarz auf blond. Die Haare zeigten in diesen Jahren einen Wuchs wie Spalierbohnen. Sie drehten sich, just in dem Moment, da sie die Kopfhaut durchbohrten, immer entgegen des Uhrzeigersinns. Machte mir diese Untugend meines Schädelfells durch die Standardfloskeln von Betrachtern meiner Person - "Gott ist der süß!" - anfangs wenig Sorgen, wurde dieser offensichtliche Gendefekt im Laufe des Pubertierens jedoch zunehmend nervig. Der schnelle Rechner unter den Lesern hat natürlich sofort bemerkt, dass meine Pickelpause in den schrillen 70ern stattfand und daher die kurze Lockenfrisur nicht unter einem guten Stern stand. Lang mussten die Flusen sein. So lang wie bei Brian Francis Conolly, dem leider bereits verstorbenen Leadsänger der Sweet. So lang wie die von Ritchie Blackmore oder Jon Lord. Stattdessen sah meine Haarpracht aus, wie die Hornhaube des Hampelmannes von Boney M, bei dem man nie wusste, ob sich unter seinem verfilzten Haarberg noch eine Mütze verbarg. Außerdem fand ich mit meinem haarigen Problem in dieser Zeit wenig Verständnis auf Seiten meiner Eltern, die mit Leitbildern wie Humphry Bogart und dessen "Nacken-frei-Frisur" aufgewachsen sind, und, wie ich heute weiß, meinen Frisör indoktriniert hatten, mich schnell und spiegelfrei zu frisieren und dabei natürlich immer nackenfrei. Der menschliche Geist ist wie Quecksilber und sucht sich seinen Ausweg. Meine Freunde hatten alle lange Haare. Lang und glatt. Meine Idole hatten die längsten Haare und die Glattesten. Chris Roberts? Dauerwelle - igitt. Björn von Abba - zu kurz. Günther Netzer, ja, das war was oder Wolfgang Kleff (wer kennt ihn noch?). Lange Haare waren Widerstand, Rebellion, Coolness und kamen natürlich super bei den meisten Mädchen an. Ich aber nicht. Obwohl ich alles versucht habe. Heimlich bin ich zu einem anderen Frisör gegangen, um ihn zu fragen, ob sich die Struktur und Beschaffenheit der Lockenpracht nicht nach meinen Wünschen verändern ließe. Auch er schien durch meine Eltern beeinflusst zu sein. Er verneinte. Ich ließ mir die Haare wachsen. Anfänglich schien es von Erfolg gekrönt zu sein. Durch das Gewicht der länger werdenden Haardochte fiel die gesamte Masse herab und schien zumindest in meinen Augen irgendwie glatter auszusehen. Hinzukam, dass meine Haaridole alle Mittelscheitel trugen. Kann sich irgendjemand vorstellen, wie ein Afro mit Mittelscheitel aussieht? Verheerend! Selbst wenn ich eine Freundin gehabt hätte, ich hätte sie gar nicht gesehen. Meine Haare umschlossen meinen Kopf wie ein Lampenschirm die Glühbirne. Zumindest konnte man so nicht mehr die wuchernde Akne auf Stirn und Nase erkennen. Zu dieser Zeit hatte ich mir ein Moped zugelegt. Dummerweise hatte ich den Helm gekauft, bevor ich irgendwann zwangsweise (ich sah nichts mehr) zum Frisör gehen musste. Anschließend konnte ich den Helm beliebig um den Kopf drehen. Nach etwa einem Monat passte er dann wieder besser. Ich war, wie viele andere auch, ein Fan von Eastern. Bruce Lee hatte auch längere Haare und ich hatte beim Training mit dem selbstgebauten Nunchaku ein Stirnband um meinen Haarberg gebunden. Meine Haare hatten sozusagen eine Taille. Als meine Schwester mir einmal lachend beim Chaku-Training zusah, kam ich, peinlich berührt, so aus dem Rhythmus des Schwungs, dass mir die Waffe mitten zwischen die kampfbereit gespreizten Beine schlug. Glücklicherweise fiel ich, schmerzhaft am G-Punkt getroffen, auf den Kopf. Die Haare nahmen die meiste Energie des Sturzes auf und ich blieb, bis auf eine längere Atemlosigkeit unverletzt. Vorteilhaft waren die penetranten Locken nur im Schwimmbad. Trotz dauernder Tauchphasen wurden meine Haare nie richtig nass. Einmal schütteln und sie zeigten keinerlei Nässe mehr. Was konnte ich damit anfangen? Nichts, aber immerhin. Meine Schwester, die mich damit aufzubauen versuchte, dass sie permanent behauptete, sie könne viel Geld sparen, wenn sie meine Haare hätte, fand die Sache mit dem Schnelltrocknen aber sehr vorteilhaft. Ich hatte mich in mein Schicksal ergeben. Keine Rebellion mehr. Kein Widerstand und leider auch keine Coolness. So devot schleppte ich mich letztlich zum elterlichen Stasifrisör und bat ihn um Frisur A. Kurz, Kotletten ab, nackenfrei. Ich konnte sein Siegerlächeln spüren. Ich kaufte mir einen neuen Helm, verbrannte mein Stirnband und kämmte die verbliebenen Haarstumpen von nun an mit gespreizten Fingern nach hinten. Die Pickel auf der Stirn trockneten ab, die Haare blieben stets kurz und ich wurde bei einer Sparkasse angestellt. Kurz, ich hatte mich aufgegeben. Als ich Jahre später erneut allen Mut zur Revolution zusammennahm und mir einen Bart wachsen lies, hoffte ich nur, dass dieser nicht auch lockig werden würde. Er wurde es nicht. Ich hatte gesiegt. Nach anfänglich zartem Oberlippenbart suchte ich nun nach Stellen im Gesicht, an dem weitere Haare sprießen konnten. Kinn, Wange, Hals, alles wurde beharrlich behaart. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Doch dieses Glück währte nicht lange. An sehr zentraler Stelle auf meinem Schädeldach machten sich größer werdende kahle Stellen breit. Ich konnte sie anfangs nicht sehen. Ich fühlte sie beim Waschen der Haare. Konnte ich die Stelle zu Beginn des Haarwurzelsterbens noch mit in der Nähe wucherndem Resthaar verdecken, vergrößerte sich der Todesstreifen auf meinem Kopf zunehmend. Es schien ausweglos zu sein, gegen dieses Massensterben anzukämpfen. Ich schluckte dennoch literweise Aminosäuren und Vitamin-B Präparate und versuchte meine Haarzwiebeln mit Sauerstoff zu versorgen, indem ich permanent mein Haar fönte. Letztlich erkannte ich, dass hier kein Kraut mehr wächst. Daher gedachte ich zum jüdischen Glauben zu konvertieren, um mit der Kippa die haarlose Stelle zu schließen. Der Gedanke an schmerzhafte Eingriffe im Intimbereich, als Nebeneffekt der Konvertierung, ließen mich diesen Gedanken jedoch schnell wieder verwerfen. Für eine Perücke ist der Kahlschlag noch zu klein. Ich versuche ihn jedoch zu so gut es geht zu verheimlichen. Dieses gelingt mir aufgrund meiner Körpergröße bislang ganz gut. Nicht mal mehr im Restaurant setze ich mich hin. Auf Rückfragen des Personals schiebe ich immer ein schweres Rückenleiden als Grund vor, mir doch einfach den Teller in die Hand zu geben. Wo ist eigentlich das ganze Testosteron hin, welches mir mein stolzer Vater in die Wiege gelegt hat? Mittlerweile bin ich selber Vater geworden. Habe eine Tochter bekommen. Sie hatte bei der Geburt schwarzes, volles und langes Haar. Mit einer leichten Naturkrause. Süß! Inzwischen ist mein Testosteron 15 Jahre alt, heißt Melanie und hat langes blondes Haar. Hätte ich nur mein Stirnband noch - ich würde es ihr schenken. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
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