Unser Buchtipp
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Rot und tot© Sabine PrilopEs war ein kalter, stürmischer Morgen. Die junge Frau zog sich ein Stirnband über das tiefrote Haar, die Laufschuhe an und machte sich auf den Weg.
Der Wind bog die kahlen Äste vor dem grauen Himmel. Vor den Füßen der Joggerin wirbelte das Laub auf. Vom täglichen Lauf kannte sie hier jeden Stein und Strauch, und auch das nasskalte Herbstwetter war ihr nicht fremd. Eigentlich war alles genau wie immer an einem stürmischen Morgen.
Der Mann trat aus der Baumgruppe heraus auf den Weg. Wie ein Schatten, riesengroß, verdunkelte er das fahle Licht, presste ihr eine Hand an den Hals und die andere auf den Mund, bis sie zusammensackte und er sie keuchend in das feuchte, schmierige Unterholz zog.
Nat Paddock stand krummbuckelig am Fenster, hielt das Telefon in seinen langen Fingern und hörte zu. Den verwachsenen Körper krönte ein zu großer Schädel, auf dem ein schwarzes, perfekt gearbeitetes Toupet thronte. Es war ein kluger Kopf, den es zierte. Ein nahezu lautloses Seufzen entrang sich ihm, als der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung endlich aufgehört hatte zu sprechen. Dann antwortete er langsam und eindringlich: "Sie können sicher sein, dass Ihr Auftrag pünktlich und zu Ihrer vollsten Zufriedenheit ausgeführt wird. Sie sollten sehen, wie sich meine Lagerräume täglich mehr füllen, ein Pracht ist das, sage ich Ihnen." Paddock griff gedankenverloren an seine glänzenden, neuen Haare. Wieder hörte er zu. Wieder unterdrückte er ein Seufzen. Auf seiner Stirn zeigten sich unwillige Falten. "Ja, selbstverständlich können Sie einen Blick auf die Ware werfen, wie ich bereits sagte, es ist ein prachtvoller Anblickt. Gut, gut, ich erwarte Ihren Anruf, ja, danke, vielen Dank." Rasch unterbrach er die Verbindung, aber nur, um eine neue Rufnummer einzutippen. Wartend klemmte er die rechte Hand unter seine linke Achsel, wodurch sein Kreuz noch krummer wirkte. "Nun, komm schon - Sailor, sind Sie das? Warum sprechen Sie so leise? Ich kann Sie ja kaum verstehen, also, unternehmen Sie was! Wo? An ihrem albernen Apparat, was weiß denn ich - so, es geht doch." Mit einiger Anstrengung gelang es Paddock, sich in die Fensterbank zu hieven. "Hören Sie zu", blaffte er in den Hörer, "ich brauche die Lieferungen, und zwar bald und zwar in voller Höhe. Bald, haben Sie mich verstanden? Ich brülle nicht! Sie haben einen Auftrag, und Sie werden ihn erfüllen - was heißt das, schwieriger als gedacht? Ich höre wohl nicht richtig? Sie wissen genau, was mit Ihnen geschieht, wenn Sie nicht pünktlich..." er stockte. "Ich muss wohl nicht deutlicher werden, oder? Gut, sehr gut, Sailor. Ich wusste, Sie würden mich verstehen." Paddock trennte die Verbindung, obwohl noch immer Sailors dünne Stimme aus dem Hörer drang. Er blieb in der Fensterbank hocken, kniff die wässrigen Augen zusammen und blickte hinunter auf die Straße und die von Menschen wimmelnden Gehsteige.
Sky faszinierte das Leben auf dem Planeten Erde. Sein Großvater hatte ihn als Achtjährigen erstmals auf eine Reise hierher mitgenommen. Damals war es ihm vorgekommen, als seien die Fotografien aus seinen Kinderbüchern plötzlich lebendig geworden. Dort, wo er lebte, galt die Erde als hoffnungslos veraltet, museumsreif. Sie wurde betrachtet als ein Relikt aus einer Zeit, die längst Geschichte war. Wer unterwarf sich heute noch dem Diktat wechselnder Jahreszeiten? Wer setzte sich der Mühe aus, Reservate für die Alten aufrecht zu erhalten? Und welches Volk steckte noch Vermögen in den Erhalt uralter Häuser und Gärten und Landschaften und überhaupt in das Zeugs aus der Vergangenheit, anstatt alles Geld in die Zukunft zu investieren? Sky fand auch diesmal wieder die Bemühungen der Menschen geradezu rührend, an dem Glanz fernen Jahrhunderte festzuhalten. Er war jetzt zweiunddreißig Jahre alt, und dennoch war es die erste Reise auf die Erde, die er nicht in Begleitung eines seiner Familienmitglieder unternommen hatte. Skys Familie war seit dreihundert Jahren die herrschende Dynastie des Planeten Kor, doch jetzt drohte ihr der Verlust der Macht. Um das zu verhindern, war Sky auf die Erde geschickt worden. Er war sozusagen in offizieller Mission unterwegs. Drei Monate waren ihm als Zeit gesetzt worden, um seine Geschäfte zu erledigen. Sechs Wochen waren bisher vergangen, und Sky begann sich zu langweilen. Er saß wie jeden Abend in einer Bar am Rande des Vergnügungsviertels der ehemaligen Millionenstadt und wartete auf die Nacht. Vor ihm stand ein Glas, in dem Eis unter einer kandisbraunen Flüssigkeit schmolz. Der Drink besaß genügend Alkohol, um ihn müde zu machen. Sky betrachtete die trinkenden, schwatzenden und lachenden Bargäste. Er fühlte sich wieder einmal an die Bilderbücher seiner Kindheit erinnert. Er spürte diesem Gedanken noch nach, als eine Frau die Bar betrat, die er bisher noch nie gesehen hatte. Sie war der Typ der großen Schlanken, Vollbusigen, und sie trug ihr dunkelrotes Haar auf dem Rücken zu einem langen, kräftigen Zopf zusammengebunden. Sky starrte sie an. Sie bemerkte seinen Blick, als sie sich mit einem Glas in der Hand von der Theke abwandte. Erst blickte sie überrascht, dann interessiert, mit kokett hochgezogenen Augenbrauen, und schließlich lächelte sie ihn an. Sky stand auf und ging langsam auf sie zu.
Spät in der Nacht liefen sie nebeneinander über den regennass glänzenden Asphalt der ausgestorbenen Innenstadtstraßen. Sie gingen langsam, wie, um die gemeinsame Zeit nicht zu verschwenden. Sarah fühlte sich wohl, der große massige Mann strahlte eine Ruhe und Sicherheit aus, die sie lange vermisst hatte. Sie merkte, dass sie sich in ihn verliebte, und musste schlucken. "Ist es dir zu kalt?", fragte Sky. Sarah sah ihn an. "Nein, es geht mir gut. Erzähl bitte weiter. Du bist also auf die Erde gekommen, um Haare einzukaufen?" "Ja. Der Stern meiner Familie auf Kor droht zu sinken, einfach dadurch, dass es nicht mehr genügend rotes Haar gibt, um Perücken daraus anfertigen zu lassen. Es ist das Zeichen der herrschenden Familie auf Kor, rote Echthaarperücken zu tragen. Durch eine fehlerhafte Kalkulation kam es zu einem dramatischen Engpass in der Perückenherstellung. Wir mussten jetzt handeln." "Es ist also dein Auftrag, auf der Erde genügend rotes Haar zu beschaffen? Wie groß ist denn deine Familie?" Sky sah einen Moment unglücklich aus. "Alles in allem fast einhundert Personen." "Einhundert?" entfuhr es Sarah, "und alle brauchen rote Echthaarperücken?" Sky nickte. "Eine Perücke lässt sich ein Jahr tragen, dann ist sie verschmutzt, verknotet oder hat ihren Schick verloren. Sie wird ausgetauscht. Für eine Perücke braucht man zwischen ein und zwei Kilogramm Haar." Sky sah Sarahs entsetzten Blick. Sie schien zu rechnen. "Kein Problem", sagte Sky, "es gibt auf der Erde wohl sehr viele Rothaarige. Der Haarhändler jedenfalls hat den Auftrag angenommen. Ich habe bei ihm die Menge bestellt, die auf Kor auf zehn Jahre Vorrat schafft." "Woher bekommt er denn das Haar?" Sarah sah Sky zweifelnd an. Die Absätze ihrer Schuhe klackerten auf dem Asphalt. "Mein Großvater hat damals erzählt, die Haareinkäufer bereisten die Länder und kauften den Töchtern armer Menschen die Haare ab. Am Hinterkopf und im Nacken, da, wo die Haare am längsten waren, würde bis auf die Kopfhaut kahl geschnitten. Man ließ den Frauen allerdings einen Rest am Oberkopf, ähnlich einer Mönchstonsur. So wird es wohl heute auch noch vor sich gehen." Sarah schüttelte sich. "Das ist ja schrecklich! Die armen Frauen." "Im Gegenteil", erwiderte Sky, "sie bekommen einen Armvoll Geld für Ihre Pracht und sind damit hoch zufrieden. Ich könnte dir sagen, was beispielsweise dein Zopf wert ist." Er betrachtete liebevoll Sarahs dicken Schopf. "Für kein Geld in der Welt würde ich ihn mir abschneiden lassen!" rief Sarah und hob abwehrend die Hände. Sky blieb stehen und umschloss ihre Finger. "Ich würde dir niemals ein Angebot machen. Aber als Geschenk wären mir deine Haare das wertvollste, was ich je bekommen hätte - gemeinsam mit der ganzen Frau, versteht sich." Sky küsste zärtlich Sarahs weiße Stirn, ihre Augen und schließlich ihren Mund. Sarah war glücklich. Ahnungslos wie sie war, glaubte sie, endlich am Anfang einer freudigen Zukunft zu stehen.
Nat Paddock erwartete den Mann vom Planeten Kor am Eingangstor seiner Lagerhalle. Mit dem Gefühl des Triumphs im Bauch sah er ihn auf sich zukommen. Den ganzen Morgen hatte er damit verbracht auszurechnen, wie viel Geld ihm der Fremde heute zahlen würde. Geld für 1,5 Tonnen roter Haare, 1,4 Millionen in bar. Bis auf eine geringe Menge war es Sailor gelungen, das Haar in aller Welt zusammenraffen zu lassen. Eine letzte Lieferung würde in der nächsten Stunde eintreffen, von Sailor eigenhändig abgeliefert, dann war die Bestellung komplett. Sailor, die Null, dachte Paddock gehässig. Aus Angst, ich könnte ihn auffliegen lassen, ist er diesmal über sich hinausgewachsen. Erstaunlich, ganz erstaunlich. Nun, ich werde ihm einen Brosamen meiner Einnahmen zuwerfen. Paddock rieb sich genussvoll die langen Finger. Ein kleines Vermögen wartete auf ihn.
Mit dem Geldkoffer in der Hand ging Sky hinter dem buckligen Haarhändler her und ließ sich die Ware zeigen, die in endlos scheinenden Regalreihen aufgebahrt dalag. Er befühlte die Haare, steckte ein einzelnes mit einem Feuerzeug in Brand, um die Echtheit zu prüfen, trug einen Haarstrang ans Tageslicht und ließ ihn im Licht der matten Novembersonne aufleuchten. Er war sehr zufrieden. "Sagen Sie, Paddock, woher genau stammen die Haare?" Sky schaute den verwachsenen Mann an, beinahe gedankenverloren. Sarah war ihm in den Sinn gekommen und seine Zukunft mit ihr auf Kor. Es war Sarah gewesen, die die Frage nach der Herkunft der Haare bewegt hatte. Sky selbst war sie nicht so wichtig, wie sie geklungen hatte. Umso verwunderter war Sky über Paddocks Reaktion. Mit weit ausholenden Gesten begann der Händler zu erklären: "Meine Mittelsmänner holen sie aus Klöstern, Spitälern, töchterreichen Familien. Sie fegen Opfertempel aus, private Wohnstuben und Friseurläden." Über Paddocks Oberlippe bildeten sich winzige Schweißperlen. "Wo zur Hölle blieb nur Sailor mit der restlichen Ware?" Irritiert runzelte Sky die Stirn. Warum echauffierte sich der kleine buckelige Mann so? Sein Blick fiel auf einen Tisch am Ende der Halle. Dort lagen Haare, die noch nicht in die Regale einsortiert worden waren. Er ging darauf zu. Ein besonders langer, dicker, dunkelroter Zopf zog ihn wie mit magischer Kraft an. Sky nahm ihn auf, befühlte vorsichtig die kräftige Struktur des Haars, hielt den Schopf dicht vor die Augen, an die Wange und atmete den Duft ein. Einen Moment lang stand er ganz still. Dann wandte er sich langsam zu Nat Paddock um, der, ihn unruhig beobachtend, in sicherer Entfernung neben dem Eingang wartete.
"Eine Höllennacht!" Inspektor Rob Miguel ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und knöpfte die ersten drei Knöpfe seines Oberhemds auf. Mike, sein Kollege, sah ihn verwundert an. "Also Mike, hör dir das mal an. Zuerst finden wir die siebte rothaarige Leiche, die wunderbar in das Raster passt: weltweit, hörst du, Mike, weltweit ist es die dreiundfünfzigste Leiche, der die rote Mähne abgeschnitten wurde!" Mike blieb der Mund offen stehen. "Vorgestern waren es doch erst neununddreißig tote rothaarige Frauen!" "Erst, was heißt erst? Mike, da ist eine ganze Horde psychopathischer Killer am Werk, kannst du glauben oder nicht. Aber es ging noch weiter in dieser verfluchten Nacht. Das Lager eines Haarhändlers ist abgebrannt, der Gestank hängt wahrscheinlich noch einen Monat lang in der Luft. Als das Feuer endlich gelöscht war, fanden die Feuerwehrmänner die verkohlte Leiche des Händlers. In den verkrampften Händen hielt er zwei rote Zöpfe, Mike. Rote Zöpfe! Aber es kommt noch besser: offenbar waren sämtliche Haare rot, die in der Halle lagerten. Welche Haarfarbe hatten alle dreiundfünfzig Leichen? Richtig, Mike, rot. Da brauchst du nur zwei und zwei zusammenzuzählen! Und als ob das alles noch nicht ausreicht, meldete die Raumfahrtbehörde um drei Uhr ein fremdes Flugobjekt, das die Erde verlassen hatte, die Atmosphäre durchstoßen hatte und gleich darauf abgedriftet und verglüht war." Mike saß da mit weit aufgerissenen Augen. Er war noch jung und bekam plötzlich Zweifel, ob er den richtigen Berufsweg eingeschlagen hatte. Rob beugte sich weit über den Tisch zu ihm hinüber und senkte die Stimme: "Zu guter Letzt, kurz vor sechs, raubte uns noch eine Frau den letzten Nerv, deren Mann angeblich verschwunden ist. Die hat vielleicht phantasiert! Einen Koffer mit Geld habe ihr Mann ihr gezeigt, angeblich mit über einer Million in bar. ‚Wir sehen uns in einem anderen Leben wieder', habe er gesagt. Dann habe er aufgelacht, als sei er verrückt geworden und sei gegangen. Seitdem habe sie nichts mehr von ihm gehört. Sailor heißt die gute Frau, Edda Sailor." Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
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