Unser Buchtipp
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Ein blondes Haar© Helga Schittek"Wir zaubern Freude in Ihr Haar", verkündete der geschwungene Schriftzug außen an der Scheibe. Hätte er zaubern können, dann hätte sich der rothaarige Meister seines Fachs im Inneren des Salons an diesem Tag drei Hände gewünscht. Dabei unterschied sich dieser erste Samstagmorgen im Monat nicht vor allen vorangegangenen. Drei Bewohnerinnen des benachbarten Seniorenstifts, die sich um einen runden Tisch rechts von der Tür versammelt hatten, übertrumpften sich wie üblich gegenseitig mit dem Wissen, das sie aus den umher liegenden Illustrierten bezogen. Lediglich die brünette Kundin mit der Dauerwelle, die einen halben Meter von den beiden Perückenköpfen auf der Fensterbank entfernt, unter der Trockenhaube döste, hatte er nie zuvor gesehen. "Egon, hat die Moni Berufsschule?", erkundigte sich die älteste der Damen, der ein offenes Bein zu schaffen machte. "Die hat einen anderen Job gefunden", erklärte der Frisörmeister, während er mit dem Gummibesen Überbleibsel einer Haarschneideaktion beseitigte. "Übrigens: Der Kaffee ist gleich durchgelaufen." Zwei Minuten später schaltete Egon Breuer mit seiner Linken die Trockenhaube ab. Mit der anderen Hand servierte er den Kaffee. Da passierte es. Die Kundin schreckte hoch und schuppste den Frisör, der seinerseits die vordere Perücke von der Fensterbank fegte. "Stellt euch vor, die Frau konnte noch immer nicht identifiziert werden. Nun kommt's: Auf ihrem Oberschenkel hat man Überreste eines Zehs gefunden." "Wovon redest du, Hermine?", brummte Breuer mit der Schaufel in der Hand. Er reckte sein spitzes Kinn, verblieb jedoch in der Hocke. Dann wandte er sich den Scherben zu. "Von der Leiche, die man um die Fastnachtzeit beim alten Wehr gefunden hat. Die Zeitungen sind voll davon. Es heißt, die Polizei steht vor einem Rätsel." "Der Zeh wird vom Krankenhaus aus seinen Weg durch die Kanalisation genommen haben", erwiderte Breuer. "Wenn ich etwas zu sagen hätte, dann ..." "Hermine, bitte!", riefen die Altersgenossinnen im Chor. "Sind Sie sicher, dass die Perücke keinen Schaden genommen hat?", vergewisserte sich die junge Frau eine halbe Stunde später, wahrend ihr der Frisörmeister in den Mantel half. "Echtes Haar und unbezahlbar?" Breuer nickte: "Vom ideellen Wert her bestimmt. Das ist mein Gesellenstück. Die Haare gehörten meiner Mutter." "Ich wünschte, es wären deine Haare", dachte Kriminalhauptkommissarin Sonja Beckers und entfernte ein langes blondes Haar, das die Perücke eingebüßt hatte, vom Ärmel ihres hellgelben Pullovers. Die Frau auf dem Foto, das seinen Stammplatz rechts vom Monitor hatte, lächelte wie immer. Sie ahnte nichts von Sonjas Kummer. Ebenso wenig wusste sie, dass ihre Tochter Mörder jagte. Vor zwanzig Jahren war sie zu einer Hochzeitsfeier an den Bodensee gefahren. Am Tag der Trauung war sie frühmorgens zu einem Spaziergang aufgebrochen. Seitdem fehlte von ihr jede Spur. Dennoch hatte Sonja Beckers die Suche nie aufgeben und für alle Fälle ihre eigene DNA in den Polizeicomputer aufnehmen lassen. Das Telefon läutete, und ein näselnder Bariton erklärte, die Frau vom Wehr brenne darauf, obduziert zu werden. Am darauf folgenden Samstagmorgen transportierte das Entsorgungsunternehmen die Tiefkühltruhe ab. Das Fleisch, das darin gelagert worden war, hatte in einem ortsansässigen Huskyzüchter seinen Abnehmer gefunden. Nächste Woche würde er eine lange Reise antreten, vor der er seit Jahren träumte. Die Frau vom Wehr kümmerte ihn nicht mehr, und wie es schien, vermisste sie niemand. Sie war auf der Durchreise gewesen, und er hatte einen netten Abend mit ihr verbringen wollen. Während eines Spaziergangs hatte er ihr von seinen Plänen erzählt. Doch sie hatte ihn ausgelacht, und als er ihr den Mund zuhalten wollte, war sie über die Leitplanke gestürzt. Die Böschung hinabzusteigen, wäre lebensgefährlich gewesen. Schade um das wundervolle rote Haar! Der Montag hatte für Sonja Beckers mit Kopfschmerzen begonnen. Es war ihr erster Fall in dieser Dienstelle, und neben einem nervösen Fremdenverkehrsdirektor gab es eine miese Presse und einen Staatsanwalt, der Druck machte. "Die Frauenleiche vom Wehr will niemand kennen, und der Zeh ...?" Die Ermittlerin schlug mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte. "Vergiss es!" "Vielleicht wird dieser Obduktionsbericht deine Stimmung aufhellen", meinte Kollege Herbert Prinz und deponierte einen roten Schnellhefter auf ihrem Schreibtisch. "Der Doc hat auf dem Oberkörper der Toten ein fremdes Haar gefunden." Die Perücke, dachte Sonja Beckers, überflog die letzten Seiten der Niederschrift und verglich die Ergebnisse der DNA-Analyse mit ihren eigenen Daten aus dem Rechner. Sie vergrub das Gesicht hinter ihren Händen und schluckte. Auf dem Nachbarschreibtisch klingelte das Telefon. Jemand werde im Laufe des Vormittags vorbeikommen, versicherte der Kollege dem Gesprächsteilnehmer und bedankte sich. Sonjas Augen weiteten sich. "Ein Huskyzüchter, der ein Schnäppchen machen wollte", verkündete Prinz, "will ein Ohr unter den Fleischabfällen gefunden haben. Ob du es glaubst oder nicht: Das Zeug stammt ..." Doch Sonja Beckers zielte mit dem Zeigefinger auf die Brust des Kollegen und nickte: "Fahr ruhig! Ich muss zuvor noch etwas klären. Und für alle Fälle, sei bitte so gut ..." Sie schob Prinz einen Zettel zu. Dann griff sie zum Handy und verschwand. Die Koffer waren gepackt, und vor wenigen Minuten hatte er die letzten Überbleibsel, die ihn zum Unheil gereichen und mit den Taten seiner Vergangenheit hätten in Verbindung bringen können, an den Mann bzw. an die Frau gebracht. Angefangen hatte alles harmlos, als er vor zwei Jahrzehnten, während eines Kurzurlaubs am Bodensee, eine blonde Frau kennenlernte. Eine Woge der Sympathie hatte seine Fantasie beflügelt, bis sie ihn einen Spinner nannte. Niemand war in ihrer Nähe, als es geschah ... Ihr Pech, dass sie nicht schwimmen konnte! In den darauf folgenden Jahren ertranken weitere Frauen, mal im Atlantik, mal im Mittelmeer. Dabei war er ihnen mit Freundlichkeit begegnet. Doch diese albernen Gänse hatten über seinen Traum gelacht, wollten nichts hören vom Segeln, von der Côte Azur und den vielen Kunstwerken, die ... Glücklicherweise war die Leiche aus dem Bodensee nie aufgetaucht. Die anderen ... Er grinste. Niemand wusste, wessen er sie alle beraubt hatte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Sein Bauch rumorte. "Kein Grund, jetzt noch nervös zu werden", dachte er und sprintete zu der Toilette im Keller. Die Türglocke hatte er am Vorabend deaktiviert. Und so bemerkte er nicht, wie jemand das Haus betrat. Die blonde Perücke auf den Kopf, stand Sonja Beckers im Türrahmen des Damensalons. "Hallo, Herr Breuer!", grüßte sie. "Wie, wie ...?", stammelte der Frisör und verdrehte die Augen, als sei ihm der Leibhaftige begegnet. "Verschwinde, du bist tot! Du bist im Bodensee ..." Er taumelte, torkelte, stürzte hinaus. Beim Öffnen der Haustür entdeckte er den Streifenwagen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
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