Haarige Geschichten
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Abenteuer im Frisiersalon

Abenteuer im Frisiersalon
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-0-5

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Meereslocken

© Raiko Milanovic

Mein Schicksal kam als eselsohrige Visitenkarte auf mich zu, die Onkel Herberts haarige Hand auf mich zuschob. Seine Hand erschlaffte in der Mitte des Tisches, so dass ich Zeit hatte, seinen Handrücken mit den verzwirbelten Borsten darauf zu betrachten. Kräftige Bäckerhände, mit schwarzen Haaren auf Hand und Fingern. Die Haut war rosig und gar nicht voller weißen Mehls in den Falten, wie ich immer erwartete. Komisch, was einem so auffällt, wenn man eine ungewollte Entscheidung kommen sieht.

"Hier habe ich was für dich", sagte mein Onkel und gab meine Zukunft frei. Eine weiße Karte, die Ecken hochgebogen und von seinem alten Lederportemonnaie mit Sitzfalten geprägt. Ich nahm sie nicht auf.

DA FORBICI SCATTATO
Vittorio Cristaldi
Coiffeur

"Zur klingenden Schere", übersetzte ich; Onkel Herbert schnaubte.

"Das hier", sagte er und pochte auf die Karte, "das ist was mit Boden unter den Füßen. Das hat Zukunft." Er schaute mich prüfend an, aber ich ging nicht auf seine Finte ein.

"Du brauchst was, was immer gefragt ist. Was die Leute immer wollen, dann hast du immer Lohn und Brot."

Dann stehst du in Lohn und Brot, korrigierte ich automatisch und im Geiste.

"Das hier ist genau das Richtige", beharrte er, "denn Haare wachsen immer. Genauso wie immer gestorben wird!"

Auf so eine überraschend weit reichende Überleitung von einer Lehrstelle ins Jenseits wusste ich nichts zu sagen. Er lehnte sich zurück und griff sich gewichtig an seinem Kinnbart.

Na super, dachte ich: gerade siebzehn und schon ist meine Zukunft beendet. Mir war nicht nach einer weiteren Streiterei über ein Studium, aber jetzt war der richtige Moment. Aber was konnte ich auf die Zukunftsvisionen meines unbelesenen Onkels antworten? Onkel Herbert lehnte sich plötzlich vor und blickte mich fest an. Das wurde ja immer krasser. Sollte ich mich etwa bedanken?

"Weißt du Onkel ..."

Er hörte nicht hin.

"Freu dich, denn du wirst was von der Welt sehen. Er sucht einen Lehrjungen, der mit in seine Heimat kommt."

Mein Onkel ließ keinen Einwand gelten. Im Gegenteil, er fand, dass ich dankbar sein müsste. Schließlich half er mir auf eigenen Beinen zu stehen, und meine Spinnerei mit dem Literaturstudium würde schon vergehen. "Schreiben macht nur Verleger reich und so gut, dass du davon leben kannst, bist du ganz sicher nicht." Und so landete ich statt im Literaturseminar an einem vergessenen Badeort an der italienischen Riviera.

Hier war absolut nix los. Früher war das ein Badeort für Großkotze gewesen, aber jetzt fuhren die Yachten vorbei. Manchmal hielt so'n Kutter und verschwand wieder nach 'nem Tag. Die Lehre war noch ätzender als das ausgestorbene Dorf. Haare wegfegen, Shampoo-Flaschen auffüllen und der Alten vom Bürgermeister ihre stinkenden Fischtüten vom Markt nach Hause schleppen; das war alles. Und immer wieder Haare - haufenweise Haare. Aber keine wolllüstigen Locken. Nein, es gab nur die ausgelaugten Gespinste der alten Schabracken aus dem Dorf. Vittorio sprang um die paar Gespenster herum, als ob das alles alte, lang vermisste Verwandte wären. Und er schiss sich an die Arbeit, als ob sie Filmstars wären. Zwischendurch pfiff er mich an und ich durfte noch irgendein einzelnes Haar vom Boden auffegen, damit die Alte vom Podesta sah, dass alles seine Ordnung hatte.

Das einzig Lebendige war die kleine Tiziana. Wenn sie sich halb-bewusst in die Haare griff, deren brauner Wuschelkopf mich mit tausend Löckchen anblinzelte, konnte ich ein wenig träumen. Aber es blieb ein Traum, denn sie war Vittorios Tochter und ich fegte weiter totes Haar. Als ich meinem Onkel davon erzählte, war ihm das so ziemlich egal, und er wiederholte nur dieses beschissene "Lehrjahre sind keine Herrenjahre." Dann wollte er noch wissen, ob es auch gut zu essen gäbe. Hab' schon kapiert.

Nach ein paar Wochen kannte ich alle so sehr, dass ich von dem Zeug, das ich auffegte, sagen konnte, wer da gewesen war. Voll öde, bis zu dem Tag, an dem ich ein neues Haar entdeckte. Ich hatte der Bürgermeisteralten wieder ihr Zeug nach Hause tragen dürfen, bekam auch 'nen beschissenen Keks als Belohnung und machte mich auf zu meinem Besen zurück. Auf dem Rückweg bemerkte ich eine Yacht im Hafen. Sah echt geil aus. Ich blieb einen Moment stehen und schaute einem Matrosen dabei zu, der sich über die weiße Reling lehnte und gelangweilt den Hafen musterte. Dem ging's auch nicht besser als mir, dachte ich noch. Wer wohl an Bord war? Vielleicht ein Millionär mit seiner gelangweilten Tochter, die ganz wild auf einen Landgang war. Bilder träger Yachtschönheiten auf einem Bett von Haaren auf dem weißen Vorderdeck stiegen in mir auf und ich grinste noch, als ich im Laden gegen einen Rollstuhl rannte.

Vito zuckte in altbekannter Manier mit seinem Kopf, aber ich sah das Mädchen. Rote Haaren, und blass, aber von einer edlen Blässe, die einen unglaublichen Kontrast zu ihren Haaren bildete und Augen so blau wie man sie nur träumt, wenn man vom Meer träumt.

Da saß sie in einem Rollstuhl, während ich sie sprachlos anstarrte. Vittorio bemerkte mein Starren und zuckte kurz mit dem Kopf - ich griff nach meinem Ausbildungsgerät. Da saß sie nun, und der Alte konnte in ihren Haaren wühlen. Ich schluckte es. Denk nach, denk nach, schalt ich mich und fegte um sie im Kreis herum. Vito beugte sich zu ihr runter und fragte leise etwas. Sie nickte.

"Hol der Signorina ein Mineralwasser." Der Alte wollte mich weghaben, das war klar, also beeilte ich mich auf dem Weg zum Alimentari. Ich trieb noch ein Glas und ein kleines Tablett auf und brachte ihr das Wasser. Während sie trank, schaute sie mich über den Glasrand an und, ich bin mir sicher, wirklich, dass sie mir richtig tief in die Augen lächelte und ich zitterte für einen Moment. Grün katzenhafte Augen mit Goldsprenkeln. Der Alte zuckte wieder kurz mit dem Kopf, aber sie nickte mir einen Dank zu und hielt mir das leere Glas hin. In der folgenden Stunde fegte ich um sie herum was das Zeug hielt und kam nicht näher. Vito scheuchte mich immer wieder zu einer Alten aus dem Dorf, der ich Kaffee brachte und die mir wortlos eine gelesene Zeitschrift nach der anderen hin hielt.

Endlich drehte Vito ihren Rollstuhl herum und musterte sie zufrieden. Sie sah prachtvoll aus. Ich weiß gar nicht, was er da verschönern wollte, aber der Alte wirkte super zufrieden wie er um sie herum scharwenzelte und hier und da einzelne Haare zurechtrückte. Schließlich sagte er freundlich: "Bring die Signorina zum Hafen", bevor er sich dem Wrack zuwandte. Ich war stumm vor Schreck. Jetzt hatte ich sie für mich alleine.

Ich schob den Rollstuhl an, der überraschend leicht war. Draußen, denn die Straße vor dem Laden war ein wenig abschüssig, konnte ich neben ihr gehen, während ich mit einer Hand den Rollstuhl schob.

"Ist das deine Yacht?", fragte ich.

Sie lächelte nur. Ich fluchte stumm darüber nicht Literatur studiert zu haben, da hätte ich sicher was Intelligenteres zu sagen gehabt.

"Where do you come from?"

Sie sagte noch immer nichts und spielte mit ihren Haaren. Ich schob, ziemlich stumm und kaum panisch, den Rollstuhl weiter, denn zum Hafen war es nicht weit. Der Rollstuhl war klamm von der Seeluft und roch nach Tang und mir fielen noch zwanzig andere unwichtige Details an dem Rollstuhl auf, aber ich konnte nur an ihre Haare denken, die meine Hand kitzelten. Die Hafeneinfahrt kam, ich schob sie runter zum Quai und auf die Gangway der Yacht zu.

Sie hob die Hand, und ich hielt an. Niemand stand an der Reling, und ich fragte: "Soll ich dich nicht an Bord bringen?"

Sie schüttelte den Kopf, lächelte irgendwie belustigt und reichte mir die Hand. Ich ergriff sie, schüchtern aber ich hielt sie etwas länger fest als schicklich war und versuchte mir ihr Bild einzuprägen: ein rothaariges Mädchen, schön wie eine Göttin, vor dem Blau des Meeres. Dann ließ sie meine Hand los und schaute mich an, fest und gar nicht schüchtern, bis ich mich los riss und ging.

Ich ging weiter, jeder Schritt langsamer als der vorhergehende, dachte ich an ihr Lächeln, rieb meine Hand, die noch immer vom Kitzeln ihrer Haare prickelte, und ihr Name ... Ich kannte nicht ihren Namen! Ich wusste nicht wie sie hieß! Ich hatte keine Ahnung wer sie war! In der Einfahrt drehte ich mich um und rannte zurück. Die Yacht war noch da, aber die Gangway war schon eingeholt und ein Matrose löste die Taue.

"Kann ich an Bord kommen? Nur kurz."

Der Matrose schüttelte langsam den Kopf, bis ich begriff, dass er mich nicht verstand.

"May I come on board?"

"Why?" Er runzelte die Stirn.

"To say good bye."

"What?"

"To the young girl."

Er schüttelte wieder den Kopf und sagte, dass es keine Mädchen an Bord gäbe.

"But, you know, the girl with (verdammt, wie hieß Rollstuhl auf Englisch?) WHEELS", brach es aus mir heraus.

"No girls on board, lad", sagte er noch mal und verschwand auf die andere Schiffsseite. Der Motor sprang an, und die Yacht löste sich vom Quai. Der Matrose erschien wieder und grinste mich an, während er sich mit einer Hand, die so haarig war wie Onkel Herberts, in den Schritt griff.

"No Girls, only Boys", rief der Arsch.

Ich schaute der Yacht hinterher, wie sie hinaus tuckerte, während ich unschlüssig zwischen Land und Meer stand. Dann verschwand sie um die Landzunge und ich ging die alte Mole entlang. Sie war nicht lang, es gab nicht viel zu sehen und nach einigen Schritten hockte ich mich auf einen alten Polder. Ich saß eine ganze Weile da und beobachtete wie kleine Schaumkronen sich um Wellen lockten. Bunte Ölschlieren verstreuten sich im Meer, das sich mit der einsetzenden Dämmerung beruhigte. Einige Schlieren waren rot und verloren sich spiralig in der Dünung. Ich stand da und schaute ihnen nach, bis es zu dunkel wurde, sie vom Meerwasser zu unterscheiden.

ich ging weiter, zum Ende der Mole, hinter dem es etwas Sandstrand gab. Eigentlich fühlte ich mich klar, klar und gar nicht traurig, (wie ich es eigentlich erwartete) sondern eher wütend. Wütend über dieses traurige Kaff, wütend über meine Lage und klar darüber, dass ich die Gelegenheit verstreichen ließ und es (klar!) niemand gab, dem ich das in die Schuhe schieben konnte. Weder Onkel Herbert, noch Vittorio, noch diesem Arsch von Matrosen. Klar wie schon lange nicht mehr, dachte über mein Leben nach und kam an den Sandflecken, wo ich in den Rollstuhl rannte.

Er stand zwischen Land und Meer, die Räder vom Wasser halb bedeckt. Ich erkannte ihn gleich. Die Decke, die ihren Unterleib bedeckt hatte, lag über der Lehne und um den linken Griff war eine rote Haarsträhne gebunden. Im Sand waren nur Räderspuren, aber keine Fußspuren zu sehen. Sie hatte ihn selbst ins Wasser gelenkt. Auch dort keine Spuren. Sie musste mit einem Satz hinein gesprungen sein. Der Matrose hatte Recht gehabt: es befand sich tatsächlich kein Mädchen an Bord. Sie hatte einiges gewagt und es wirklich geschickt angestellt. Abwarten bis eine Yacht vor Anker lag, der Trick mit dem Rollstuhl und dann möglichst wenig geredet, während es doch in ihr gebrannt haben musste zu schreien:

"Seht was ich kann! Seht, was ich wage!"

Ich war voll aufgeregt, als ich die Locke einsteckte, denn ich verstand, was sie wirklich war. Sie war nicht behindert, sie war nicht schüchtern, sie lebte nicht mal auf einer Yacht, sondern im Meer und SIE KAM AN LAND UM SICH DIE HAARE MACHEN ZU LASSEN!

Am nächsten Tag, erklärte ich Vittorio, dass ich nicht Frisör werden wollte. Er nahm es erstaunlich ruhig hin und brachte mich zum Bahnhof. Als er mir zum Abschied die Hand gab, war mir klar, was ich Onkel Herbert sagen würde.

Eingereicht am
09. Januar 2008



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