Unser Buchtipp
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Ein haariger Auftritt© Sylvia SchöbeDie Einladung zu dieser Gala für Schönheit, Style und Trendfrisuren trudelte völlig überraschend ein. Claudia konnte es beinahe nicht glauben, dass man sie für würdig hielt, sich dort sehen zu lassen. Natürlich musste man bei so einer Veranstaltung besonders schick sein, um nicht "unangenehm" aufzufallen. Ein Blick in den Spiegel verriet jedoch zu ihrem Schrecken, dass ihr Haar nicht unter die Kategorie "schick" fiel. Stumpf und langweilig wirkten ihre hellbraunen Locken. So konnte sie bei der Gala auf keinen Fall erscheinen. Das war ganz klar! Bei so einem glanzlosen Auftritt würde man ihr womöglich den Eintritt verwähren. Nein, dieses Risiko durfte sie nicht eingehen! Etwas Frisches musste her! Eine leuchtende Farbe, die sofort ins Auge stach. Eine Farbe, die verriet, dass sie etwas vom Stylen verstand, und um die sie jeder beneiden würde. Claudia betrachtete sich kritisch im Spiegel. Was kam da in Frage? Blond? Nein, Blondinen gab es bei solchen Veranstaltungen erfahrungsgemäß wie Sand am Meer. Damit würde sie nicht positiv hervorstechen. Schwarz? Nein, zu düster! Ein strahlendes Blau oder Lila? Nein, dann würde man ihr wohl noch vorwerfen, sie wäre ein Punk. Und diese zählten bei derartigen Galen auch nicht gerade zu den Lieblingsgästen. Rot? Ja, das konnte sie nehmen! Natürlich durfte es nicht so knallig wie bei Pumuckel sein. Aber ein intensives dunkles Rot … Das war nicht so auffallend flippig. Schließlich ging sie nicht zu einem Rockkonzert. Aber es würde super zu ihrem Typ passen. Oh ja, damit würde sie wie eine Diva aussehen, mystisch und erotisch wirken und der glanzvolle Mittelpunkt sein. Gleich um ein Vielfaches besser gelaunt, griff Claudia zur Handtasche, um sich auf den Weg zur nächsten Drogerie zu begeben. Ihr Einkauf dauerte etwas länger als geplant. Sie hatte gar nicht geahnt, wie viele Nuancen es allein für den Farbton rot gab. Und plötzlich hatte sie einige Entscheidungsschwierigkeiten bekommen. Schließlich nahm sie eine Tönung, die den schönen Namen "Dunkle Kirsche" trug, mit nach Hause. Da Claudia an diesem Nachmittag Zeit hatte, trabte sie mit ihrer Neuerwerbung und einem alten Handtuch ins Bad. Der erste Schritt, ihr Haar "kirschrot" erstrahlen zu lassen, war kinderleicht. Ruckzuck hatte sie die Farbe in einer kleinen Plastiktube zusammengemixt. Anschließend stand sie aufrecht vor dem Spiegel, um sicherzugehen, dass sie die Mischung gleichmäßig verteilte. Das war eine heikle Angelegenheit, wenn man keinen hatte, der einem dabei half. Vorsichtig begann sie, die Tube auf der Mitte ihres Kopfes auszudrücken. Doch die Flüssigkeit, die herausspritzte, war ziemlich wässrig und lief sofort in Sturzbächen an ihrem Haar hinunter. Leicht in Panik erinnerte sie sich an die Packungsbeilage, die von so vielen möglichen Nebenwirkungen berichtete wie bei einem hochdosierten Medikament. Stand da nicht, dass man blind werden konnte, wenn etwas von der Mischung in die Augen gelangte? Schnell schloss Claudia die Lider, bevor es gefährlich werden konnte. Es war still im Haus, und sie hörte umso mehr das Klatschen, als die Farbmischung in großen Tropfen auf dem Boden landete. Der Rest schlängelte sich an ihren Hals und ihrer Schulter entlang, kitzelte die Haut. Als die junge Frau spürte, dass das Bächlein versiegt war, öffnete sie langsam die Augen, und hätte sie am liebsten gleich wieder zugekniffen. Dann hätte sie wenigstens das Chaos, das sie angerichtet hatte, nicht gesehen. Anstatt ihre Haare, hatte sie vorwiegend den Fußboden, das Handtuch sowie Teile ihres T-Shirts kirschrot gefärbt. Sie zählte langsam bis drei - laut eines Frauenmagazins eine super Entspannungsübung - und griff dann blitzschnell zum Klopapier. Damit wischte sie notdürftig die Fliesen ab, bevor die Farbe trocknete. Denn dann wäre es fast unmöglich, die Flecken zu entfernen. Nachdem der Boden fast wieder sein ursprüngliches Aussehen angenommen hatte, schnappte sich Claudia ihren grobzinkigen Kamm, um die restliche Farbmischung, die noch auf ihrem Kopf verblieben war, gleichmäßig zu verteilen. Es wäre doch gelacht, wenn sie ihr Haar nicht trotzdem noch richtig schick hinbekommen würde … . Die meisten Gäste der Gala waren bereits eingetroffen. Dennoch dümpelte die Veranstaltung mehr oder weniger vor sich hin. Jeder hatte versucht, sich extra in Schale zu werfen, aber eine echte Attraktion fehlte. Sowohl die Gäste als auch die zahlreichen Models wirkten farblos, blass und langweilig. "Mit dieser Frisur hätte vielleicht meine Oma schick ausgesehen", murmelte der junge Modefriseur Tom Helmer, als er einer junge Frau hinterher schaute, die ihre langen Haare zu einer altmodischen Hochsteckfrisur zusammengeknotet hatte. Etwas verstimmt nippte er an seinem Sektglas. Dabei hatte er gehofft, hier neue Anregungen und Trendfrisuren für seine Kunden zu finden. Doch der einzige Grund, weswegen sich der Weg zur Gala bisher gelohnt hatte, war der erstklassige Champagner, den sie servierten. Davon abgesehen, war der Abend reine Zeitverschwendung gewesen. Tom leerte sein Glas in einem Zug und stellte es aufs Tablett zurück. Er war drauf und dran, seine Jacke in der Gardarobe abzuholen und sich von dieser langweiligen Party zu verabschieden. Doch mit einemmal schien die Luft regelrecht zu vibrieren, und um ihn herum waren lauter "Ahs" und "Ohs" zu vernehmen. Neugierig folgte Tom den Blicken der Leute, die sich alle in eine Richtung drehten. Und dann sah er SIE am Eingang stehen! Die rote Mähne umspielte in großvolumigen Locken ihr Gesicht und fiel weich und verspielt auf ihre Schulter. Die ganze Frisur war ein Kunstwerk, bei dem jedes einzelne Haar perfekt saß und offenbar auch perfekten Halt genoss. Denn als die junge Dame unter der windigen Klimaanlage hindurch ging, wippten die Locken nur leicht hin und her, um sich dann genau wieder in ihre vorherige Position zu legen. "Wow!" Staunte Tom. Dabei sah die Frisur so locker und füllig aus, als bestünde ihr Halt nicht aus Tonnen von Haarspray oder anderem Festiger. Der Hairstylist der Lady musste ein wahrer Meister seines Faches sein! Am meisten war Tom jedoch von der Farbe des Haares fasziniert. Das wunderbare dunkle Rot funkelte wie ein Baum voller reifer Kirschen, die gepflückt werden wollten. Man bekam vom bloßen Anblick Lust, hineinzugreifen. Besser hätten Werbefachleute diesen seidigen Glanz am Computer nicht erzeugen können. Es war der Wahnsinn! Diese Frau musste er einfach ansprechen! Tom schnappte sich vom Kellner, der gerade an ihm vorbeilief, zwei Sektgläser und steuerte damit auf die unbekannte Göttin zu, bevor sie jemand anderes ansprechen konnte. Claudia fing mit Genugtuung die anerkennenden Blicke der Gäste auf. Nun hatte sie ihren umwerfenden Auftritt, den sie sich so sehr gewünscht hatte. Also hatte sich die ganze Tortur, die sie hinter sich hatte, letztendlich doch gelohnt! Die junge Frau fühlte sich gleich noch ein bisschen besser, als sie plötzlich ein netter Mann ansprach und ihr ein Glas Sekt reichte. Oh ja, es hatte sich definitiv gelohnt! Und das schlechte Gewissen, das sie kurzzeitig geplagt hatte, verstummte nun endgültig. "Mein Name ist Tom Helmer. Ich bin der Besitzer des Friseursalons in der Schillerstraße. Und ich muss Ihnen sagen, Sie haben einfach göttliches Haar." Das Kompliment war aufrichtig gemeint. Tom war sicher, dass sein Lächeln es ihr zeigte. Dennoch schien sie aus irgendeinem Grund, nervös zu werden. Jedoch nicht, weil sie sich freute. Vielmehr wurde sie auf einmal ganz blass um die Nase, und ihr Lächeln wirkte irgendwie gequält. Na gut, wenn ihr das Thema unangenehm war, würde er sich erstmal über andere Dinge mit ihr unterhalten. Er hatte ja noch den ganzen Abend Zeit, ihr Geheimnis zu entlocken. Was hatte die Frau nur in ihre Haare geschmiert, dass es so bombenfest hielt und dabei so leuchtete wie ein Polarstern in der dunklen Nacht? Er musste es herausfinden! Dann wäre er für seine anspruchsvollen Kundinnen eine Art Superheld! Über was konnte man besser ein ausführliches und unverfängliches Gespräch beginnen, als über die anderen Gäste zu tratschen? Natürlich wurde Tom dabei nicht ausfallend. Das war sowieso nicht sein Stil. Außerdem vermied er es, Kommentare über die Frisuren der Leute abzugeben. Aber Vermutungen, dass manche Designer ihre Kreationen im Dunkeln entworfen haben mussten oder dass einige Damen bei der Auswahl ihres männlichen Anhangs daneben gegriffen hatten, waren sehr unterhaltsam. Je weiter der Zeiger vorrückte, desto besser verstanden sich die beiden jungen Menschen. Irgendwann hatten sie sogar auf das "Du" angestoßen. Claudia amüsierte sich wie schon seit langem nicht mehr. Endlich konnte sie befreit auflachen und auch die Komplimente genießen, die sie fast ununterbrochen erhielt. Es wäre natürlich noch toller gewesen, wenn Tom nicht ständig versucht hätte, ihr ins Haar zu greifen. Bislang hatte sie immer rechtzeitig ausweichen können, sobald seine Hände ihrem Kopf zunahe kamen. Aber auf die Dauer war das natürlich keine Lösung. Es würde ziemlich anstrengend werden, dieses Spielchen den ganzen Abend lang zu treiben. Außerdem wurden die Fragezeichen in seinen Augen immer größer. "Hey, ich will doch nur mal sehen, ob deine Locken wirklich so weich sind, wie sie ausschauen." Er zog eine Schnute, was Claudia zwar süß, aber auch zum Kichern fand. "Nix da! An dieses göttliche Haar lasse ich nur Luft und MEINE Hände." "Und? Was noch? Das kann ja nicht alles sein, oder?" Tom nutzte die Gelegenheit, um danach zu fragen, was ihm schon die ganze Zeit unter den Nägeln brannte. Zum Glück musste sie nicht mehr darauf antworten, da sich in diesem Moment der Gastgeber zu Wort meldete und den Höhepunkt der Gala ankündigte. Ausgerechnet der Besucher mit dem schönsten Haar sollte gekürt werden. Als Preis winkte ein Werbevertrag für ein berühmtes Shampoo. "Wie viel Pech konnte ein Mensch eigentlich haben?" Dachte Claudia. Das Lachen blieb ihr buchstäblich im Halse stecken. Alle Blicke richteten sich automatisch auf sie, als ob sie bereits als Gewinnerin feststand. Oh nein, das konnte sie nun wirklich nicht zulassen! Sie spürte eine Welle der Panik in sich aufsteigen. Man würde mit Sicherheit schnell herausfinden, dass sie den Preis gar nicht verdient hatte! Und dann würde sie morgen in der Zeitung unter einer zweifelhaften Schlagzeile stehen! Bevor es dazu kommen konnte, musste sie hier raus! "Ach, mir fällt gerade ein, dass ich morgen früh zeitig aufstehen muss. Ich sollte jetzt wirklich gehen." Verabschiedete sie sich und flitzte zur Gardarobe, um mit ihrem Mantel schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen. "Du kannst dich jetzt nicht verkrümeln! Das ist eine einmalige Chance!" Rief ihr Tom fassungslos hinterher. Die Frau musste doch wissen, dass sie hier keine ernstzunehmende Konkurrenz hatte! Als er aber feststellte, dass sie keine Anstalten machte umzukehren, folgte er ihr. Ein bisschen fühlte er sich wie der Prinz, der seinem Aschenputtel nachjagte. Er war langsam der Verzweiflung nahe, weil sie partout nicht stehen bleiben wollte. Doch genau wie die berühmte Märchenfigur verlor sie schließlich etwas. Nur war es in diesem Falle kein Schuh, sondern die Haare. Tom staunte nicht schlecht, als sie plötzlich über eine Wurzel stolperte, hinfiel und ihr dabei die rote Pracht vom Kopf rutschte. "Oh mein Gott. Was ist das denn?" Er kniete sich zu ihr hinunter, um ihr wieder auf die Beine zu helfen. Sein Blick konnte sich jedoch nicht von ihrer linken Seite trennen. Dort lag die Frisur, um die sie den ganzen Abend lang beneidet worden war, tief im Schmutz. "Nach was sieht es denn aus?" Fauchte Claudia wütend. Hätte ihr denn diese Blamage nicht erspart bleiben können? Tom schaute sie eine Weile verständnislos an. Nur langsam konnte sein Gehirn die Puzzleteile zusammensetzen. Als es ihm schließlich gelungen war, musste er laut lachen. "Deshalb durfte ich dein Haar nicht berühren und wolltest du nicht am Wettbewerb teilnehmen. Das also ist dein sagenhaftes Geheimnis." "Ja, das Geheimnis heißt Herr Sommer und ist einer der besten Perückenmacher Deutschlands." Ergänzte Claudia und fuhr sich durchs Haar - oder das, was davon noch übrig war. "Wie ist das passiert?" Im hellen Schein der Straßenlaterne erkannte Tom die unterschiedlichen Farben und Längen der Strähnen. Die arme Frau sah aus, als wäre sie unter einen Rasenmäher gekommen. "Ich wollte mir extra für diese Gala die Haare schön färben." Seufzte Claudia. "Aber es ist total schief gelaufen. Die Farbe war so wässrig und ist ganz ungleichmäßig verlaufen. Auf meinem hellbraunen Haar hat man die dunkelroten Flecke mehr als deutlich gesehen. Ich sah aus wie ein vergammelter Fliegenpilz! So konnte ich doch nicht auf die Straße! Also, wollte ich dieses Schlamassel wieder in Ordnung bringen und habe zur Schere gegriffen. Aber zum Schneiden habe ich wohl noch weniger Talent als zum Färben. Statt es besser zu machen, habe ich noch lauter Lücken hinein geschnitten. Ich wollte unbedingt auf die Gala, aber doch nicht so entstellt. Deshalb habe ich im Internet nach einem Perückenmacher gesucht und bin auf Herrn Sommer gestoßen. Den Rest kannst du dir sicherlich denken." Als Claudia ihre Beichte beendet hatte, hatte sie Tränen in den Augen. Aber wenigstens wusste Tom jetzt die Wahrheit und würde sie nicht als Angeberin verurteilen, die sich mit fremden Federn schmücken wollte. Was er von ihr hielt, war ihr unheimlich wichtig, stellte sie plötzlich fest. "Hm." Tom überlegte kurz, wie er ihr helfen konnte und hatte dann die rettende Idee. "Am besten du kommst erstmal mit zu mir. Ich möchte mir den Schaden im Licht ansehen. Ich bin sicher, dass ich da noch was machen kann. Mein Handwerkszeug habe ich ja auch zu Hause." Und tatsächlich zauberte er wenig später mit Haarschneidekamm, Rasierer und Hair Mascara eine moderne Kurzhaarfrisur. Claudia sah damit ein bisschen aus wie ein kleiner frecher Igel. Aber es stand ihr sehr gut, und sie brauchte sich nicht mehr zu schämen, ohne Perücke in die Öffentlichkeit zu gehen. Ihre Haare würden nachwachsen, und dann würde sie sich eine wunderschöne Damenfrisur in kirschrot anfertigen lassen. Mit einem Frisör als neuen Mann an ihrer Seite dürfte dieses Mal auch wirklich nichts schief gehen. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
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