Unser Buchtipp
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Trauma© Markus ZimmerlingDer Wind, der Sebastian brutal ins lange Haar griff und zerzauste, erinnerte ihn daran, dass ein Umkehren ausgeschlossen war, wenn er wieder wie ein Mensch aussehen wollte. Wieder war ein Monat vergangen. Das Gebäude stand bedrohlich vor ihm. Sebastian befand sich direkt vor der Eingangstür und starrte durch die große Glasfront hindurch. Im Raum dahinter saßen Menschen in Drehstühlen und andere standen mit weißen Kitteln bekleidet hinter ihnen. Jedes Mal zögerte Sebastian aufs Neue hineinzugehen. "Du musst, du musst, los, trau dich, du hast es doch jedes Mal geschafft", feuerte er sich selber an. Sebastian bemerkte, wie die Menschen ihn, die an ihm vorbeigehen, anstarrten. Die Tür öffnete sich und eine junge Frau mit perfekt sitzender Frisur trat durch sie hindurch. Automatisch machte Sebastian einen Schritt zur Seite, um sie passieren zu lassen. Nach einem tiefen Seufzer und einem "Ach was soll's" ging der 36-Jährige in das Gebäude und schritt auf die Anmeldung zu. Auf jeder der langen Wandseiten standen jeweils fünf Frisiertische mit einem schwarzen Drehstuhl davor. Sogar mitten im Raum hingen drei Spiegel von der Decke. Mobile Tische standen vor ihnen und ermöglichten selbst hier das Schneiden der Haare. Alle Stühle, bis auf einer, waren besetzt. Der penetrante Geruch, der Sebastian entgegenströmte, ließ Bilder von überreifen Früchten vor seinem inneren Auge tanzen. Die Haartönungen schienen nicht nur in den unterschiedlichsten Farben, sondern auch in sämtlichen Gerüchen angeboten zu werden. Diese Duftflut - hervorgerufen von Shampoos und Haarsprays, Haar-Gels und Farbtönungen -, aber auch das Summen der Föhne und Barthaarschneider riefen in ihm die Erlebnisse seiner Kindheit hervor: Der Pisspotschnitt, die vielen Menschen um ihn herum und die heiße Luft des Föhns, um die frisch gewaschenen Haare zu trocknen, ließen Sebastian jedes Mal verrückt werden. Regelmäßig musste ihn sein Vater zum Frisör tragen und Geschenke machen, damit er die Tortur über sich ergehen ließ. "Nein, nicht, ich will nicht, neeein!!", schrie er jedes Mal, wenn die Frisörin den Föhn in die Hand nahm. "Stell dich doch nicht so an. Der Föhn tut dir doch nichts. Was sollen denn die Leute hier von dir denken?", beschwerte sich sein Vater über die Quengelei. Sebastian überhörte dies immer und wehrte sich mit Händen und Füßen. Bis - ja, bis die Frisörin dem kleinen Jungen zärtlich über seine Wange strich und sagte: "Ich passe auch auf, dass dir der Föhn nichts tut. Wenn er böse wird, dann schalte ich ihn sofort aus und sperre ihn da unten in den Schrank ein." Sebastians Augen folgten den schönen, langen Fingern in Richtung des Unterschrankes, in dem ein Schlüssel steckte. Die kräftige Farbe der Fingernägel lenkte ihn kurzzeitig ab und er bemerkte erst nicht, dass Susanne, so hieß die Frisörin, den Haartrockner eingeschaltet hatte. Anfangs streichelte der Luftzug seinen Kopf, dann aber prasselte er immer mehr mit einer gewaltigen Kraft auf ihn ein. Sebastian merkte, wie die zuerst warme, dann immer heißer werdende Luft seinem Kreislauf überhaupt nicht guttat. Ihm wurde schlecht, vor seinen Augen flackerte alles, aus dem Flackern wurde ein Schwimmen. Sein Körper fühlte sich immer schwerer an. Dann umhüllte ihn tiefe Schwärze und er sank in sich zusammen. Als Sebastian wieder aus der Ohnmacht erwachte, sah er in das Gesicht seines Vaters, der Frisörin und eines Mannes, den er nicht kannte. "Was ist los? Was ist passiert?", fragte er mit schwacher Stimme und richtete sich mühevoll und unter Stöhnen auf. "Langsam, langsam, nicht so schnell", sagte der Unbekannte. Die Farbe seiner Weste erinnerte Sebastian an Susannes Fingernägel. "Was machst du denn für Sachen?" Die Stimme von Sebastians Vater klang besorgt. "Ich weiß nicht. Mir wurde plötzlich ganz schwindelig." Sebastians Stimme war immer noch schwach und seine Beine zitterten, als er versuchte aufzustehen. "Wir fahren jetzt nach Hause. Da legst du dich dann noch etwas hin und erholst dich erst einmal", befahl sein Vater. Obwohl Susanne dies ja schon von dem Kleinen kannte, schüttelte sie den Kopf, als sie sich mit einem kurzen Winken von ihm verabschiedete. Für den Sanitäter war es allerdings neu. Er hatte noch nie einen "Föhn-Patienten" behandeln müssen. In seinem Kopfschütteln lag, wie bei Susanne, Erstaunen und Unglaube. Tja, so verliefen Sebastians Frisörbesuche fast immer. Mittlerweile war er sechsunddreißig Jahre alt und jeder Gang zum Haareschneiden wurde zum Abenteuer - und das nicht nur für ihn. Die Angestellten taten ihm immer leid, wenn er den Laden verließ - und mittlerweile schon beim Betreten. Hin und wieder dachte er darüber nach, ob er nicht mal den Salon wechseln sollte. Ob sie jedes Mal froh sind, wenn ich weg bin? Diese Frage stellte er sich jeden Monat aufs Neue. "Ja bitte? Was kann ich für Sie tun?" Die Frage der freundlichen Dame hinter der Theke durchdrang seine Gedanken nur langsam. "Meine Haare müssen leider wieder geschnitten werden." Sebastian senkte seine Stimme so weit, dass er sichergehen konnte, nur von dieser Frau gehört zu werden. "Das habe ich mir schon fast gedacht", witzelte sie und bat ihn, mit ihr zu kommen. Er war ja schon froh, dass sie nicht gesagt hatte, sie hätte es befürchtet. Die Frau, die ihn wegen ihres schlanken Körpers und ihrer fast identischen Größe sehr stark an Susanne erinnerte, führte ihn zu dem letzten freien Stuhl. Die Lehnen wirkten wie ausgebreitete Arme, die Sebastian in Empfang nehmen und für ewig festhalten wollten. Das Bild seiner bereits verstorbenen Tante tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Er erinnerte sich daran, wie sie ihn immer ganz fest an sich gedrückt hatte, bis er Atemprobleme bekam. Er wusste aber nie, ob es von dem Drücken oder von dem modrig riechenden Parfum kam. "Bitte, nehmen Sie doch schon einmal Platz. Meine Kollegin kommt gleich. Möchten Sie einen Kaffee oder etwas anderes zu trinken?" Die Frisörin zog den Stuhl ein wenig vom Tisch weg und zu sich hin, um ihm das Hinsetzen zu erleichtern und deutete mit ihrer rechten Hand auf den Sitz. Allmählich kroch wieder die alt bekannte Panik in Sebastian hoch, als er sich langsam in die Fänge des Stuhles begab. Er hatte den Eindruck, dass das Heulen der Föhne stetig lauter wurde und sich in seinen Kopf bohrte, gerade so, wie ein Bohrer einer Schlagbohrmaschine sich in eine Betonwand fraß. "Nein, danke", lehnte Sebastian mit einem aufgesetzten Lächeln ab, ohne wirklich mitbekommen zu haben, was die Angestellte ihn gefragt hatte. Sie ging wieder zum Tresen und ließ ihn mit seinem Spiegelbild alleine. Sie schauten sich ängstlich an. "Dir geht es nicht besser, was?", sagte er zu ihm. Sein Lächeln war unecht und drückte eher Angst als Gelassenheit aus.
Der Raum verdunkelte sich, bis eine unheimliche Dämmerung eingekehrt war. Über dem marmornen Fußboden kroch grauer Nebel und hielt erst inne, als die gesamte Fläche und jeder Winkel des Raumes eingenommen waren. Gespenstig bewegte er sich in langsamen Wellenbewegungen hin und her. Als sich Sebastians Augen an das Schummerlicht gewöhnt hatten, sah er hinter sich eine Gestalt stehen. Die Haare, schwärzer als die dunkelste Nacht, länger als die Mähne eines Löwen und strohiger als ein alter Reisigbesen, hingen ihr tief ins Gesicht. Nur die Hälfte des Gesichts war zu erkennen, die unterhalb der Augen lag - und das war Schreck genug. Ihre Hakennase, die dicke Warze auf der Wange, aus der drei kurze, dicke Härchen sprossen, und die schwarze Bekleidung ließen sie unheimlich und gefährlich erscheinen. Hätte sie einen weiten, spitzen Hut auf gehabt und hätte auf ihrer Schulter eine schwarze Katze gesessen, dann hätte man sie für eine Hexe halten müssen. Plötzlich flatterte aus ihrer Hand ein schwarzes, für Sebastian unbekanntes Untier auf ihn zu und legte sich auf ihn. Es hatte genau die Größe, seinen gesamten Oberkörper bis hinunter zum Schoß zu bedecken. Die feinen, dünnen Ärmchen umschlangen Sebastians Hals und hielten sich so an ihm fest. Sebastians Körper verkrampfte sich in Schüben. Er grub die Fingernägel so tief es ging in die ledernen Armlehnen, dass er glaubte, einen Schmerzensschrei von ihnen zu hören. "Wie soll ich die Haare schneiden?" Die krächzende Stimme und das fiese Grinsen verhärteten den Verdacht, dass hinter ihm eine Hexe stand. Im Spiegel sah er, wie das Wesen in beiden Händen jeweils eine Schere hielt und diese ständig auf und zu machte. Die Bewegung und das klappernde Geräusch unterstrichen die gruselige Atmosphäre. Hinter ihnen schwebten finstere Wesen von einer Seite zur anderen. Sie könnten alle ihre Zwillingsschwestern sein, denn sie ähneln sich wie ein Ei dem anderen, dachte Sebastian. Das Lachen ihrer Gefährten schallte durch den Raum, prallte an den Wänden ab und stürzte auf ihn nieder. Dieses schreckliche Geräusch machte Sebastian orientierungslos. Jeden Winkel des Spiegels tastete er mit seinen Augen ab und sah nur sie - diese Hexen. "Wie soll's denn nun sein? Ganz kurz oder doch lieber eine wilde Mähne?", fragte sie nochmals. Ungeduld färbte ihre Stimme. Sebastian wollte antworten, er öffnete den Mund, er versuchte, einen Ton hervorzubringen. Doch ihm versagte die Stimme. Im Gesicht spürte er eine große Hitze. Unter den Achseln bildeten sich Rinnsale aus Schweiß und das Hemd klebte am Oberkörper. Der verängstigte Mann versuchte aufzustehen, doch die Beine gehorchten ihm nicht. Er sah und hörte, wie sich die Scheren seinem Kopf näherten. Steif wie ein Besenstiel saß er in dem Stuhl und ließ alles über sich ergehen. Die Hexe schnippelte munter an den Haaren herum. Dabei warf sie ihren Kopf in den Nacken und stieß ein grässliches Lachen zur Decke. Tausendmal furchteinflößender als das der anderen. So müssen sich Patienten fühlen, die während einer Operation aus der Narkose erwachen, alles mitbekommen, aber nicht auf sich aufmerksam machen können, ging es dem hilflos Ausgesetzten durch den Kopf. So ausgeliefert zu sein war grauenvoll. Diese Erfahrung machte er alle vier Wochen - und das immer hier. Der Blick fiel auf seine Haare. Sie standen in alle Himmelsrichtungen ab. Jedes einzelne Haar schien unterschiedlich lang zu sein. Seine Furcht verstärkte sich. Sebastian spürte, wie in den Beinen Leben zurückkehrte. Er beschloss kurzerhand aufzuspringen und wegzulaufen. Das schwarze Unwesen immer noch um seinen Oberkörper hängend, sprang er ohne Vorwarnung auf. Dadurch schnitt die alte Vettel ihn beim Bearbeiten der rechten Kopfseite in die Ohrspitze. Der Schmerz verursachte vor seinen Augen ein Flimmern. Er merkte, wie eine warme Flüssigkeit an dem Ohr und der rechten Gesichtshälfte herunterlief. Sebastian schrie laut auf und wirbelte mit den Armen wild durch die Luft. Die Alte hinter ihm machte einen großen Schritt zurück, um nicht getroffen zu werden. "Oh, das tut mir sehr leid. Warum springen Sie auch so plötzlich auf?", sagte eine freundliche, sanfte Stimme. Hinter dem völlig nassgeschwitzten Sebastian stand eine hübsche, junge, blonde Frau. Ihr roter Pullover, die blaue Jeans und die Birkenstockschuhe unterlegten ihr fröhliches und nettes Erscheinungsbild. Überrascht setze Sebastian sich wieder hin und suchte im Spiegel nach dieser hässlichen, Angst einflößenden Fratze. Doch weit und breit war keine Frau zu sehen, auf die die Beschreibung passte. Nur die flüchtigen Blicke der anderen Frisörinnen konnte er auffangen. Sie kannten das ja schon von ihrem speziellen Kunden, beachteten ihn nicht weiter und fuhren unbeeindruckt mit ihrer Arbeit fort. "Darf ich weitermachen?", fragte seine Frisörin kühl und mit erwartungsvollem Blick. Sebastian nickte abwesend. Während die attraktive Dame mit wenigen Schnitten ihre Arbeit vollendete, fragte er sie: "Wo ist denn Ihre Kollegin, die vorher meine Haare geschnitten hat?" "Welche Kollegin meinen Sie?" Die Frisörin schaute sein Spiegelbild mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ihre Verwunderung schien echt zu sein. "Haben Sie mir von Anfang an die Haare geschnitten?" "Ja, das ist bei uns so üblich. Wir bedienen den Kunden von Anfang bis Ende. In der Regel wird die Angestellte zwischendurch nicht ausgetauscht. Nur unter ganz bestimmten Umständen kann das mal sein." "Was sind das für Umstände?" Mit weit aufgerissenen und mit Neugier gefütterten Augen starrte Sebastian die Frisörin durch den Spiegel an. "Es könnte sein, dass sie sich nicht wohlfühlt, dass sie zum Telefon gerufen wird und schnellstens nach Hause muss, weil dort was passiert ist oder weil einer von uns bemerkt, dass sie ihre Arbeit schlecht macht. So etwas zum Beispiel. Ich kann Ihnen aber versichern, dass in Ihrem Fall nichts dergleichen vorgefallen ist und ich die ganze Zeit ihren Kopf bearbeitet habe. Genau so, wie es in den letzten Monaten auch war." Während sie die letzten Worte sagte, nahm sie einen kleinen Handspiegel und zeigte ihrem Kunden die Länge und die Form seiner Frisur am Hinterkopf. Er schaute hinein und begutachtete sich von hinten. Dann nickte er. "Sind wir fertig?", fragte er leise und mit Blick auf den mit Haaren bedeckten Boden. Vom Nebel war auch weit und breit nichts mehr zu sehen. Ihm wurde bewusst, dass seine Kindheitserinnerungen wieder einmal die Kontrolle über seine Gedanken und Sinne übernommen hatten und er sich wieder einmal alles nur eingebildet hatte. "Ja, das war's. Sie haben es geschafft." Ohne eine Miene zu verziehen, legte sie den Spiegel wieder zur Seite. "Müssen wir nicht föhnen?" Innerlich schickte Sebastian schnell einige Gebete gen Himmel, dass das Föhnen bitte ausfallen möge. Er presste seine Lippen vor Spannung auf die Antwort fest zusammen, so dass sich um sie herum eine gespenstische Blässe bildete. "Wir haben einen Trockenhaarschnitt gemacht. Auf meine Frage, ob Sie eine Haarwäsche haben wollten, haben Sie ja nicht geantwortet." Die Anspannung fiel wie ein tonnenschwerer Stein von ihm ab und Sebastian sank etwas erleichtert in den Stuhl zurück. Die Frisörin befreite Sebastian von Haaren aus dem Gesicht und Nacken und entfernte den Umhang, der ihn davor geschützt hatte, über und über mit abgeschnittenen Haaren bestreut zu sein. Er stand auf und sagte ein Dankeschön, das sie aber nur hätte hören können, wenn sie ihr Ohr direkt auf seinen Mund gepresst hätte. Sebastian machte sich auf zum Tresen, wo eine Kollegin bereits darauf wartete, ihm das Geld abzuknöpfen. Verschämt blickte er zu Boden und vermied jeglichen Augenkontakt. Zu peinlich war ihm sein gerade hingelegter Auftritt. "So, einmal Trockenhaarschnitt. Das macht dann 12 Euro, bitte." Sebastian legte erschöpft einen 20-Euro-Schein auf die Theke und ignorierte, dass die Kassiererin das Wechselgeld vor ihn hinlegte. Er konnte es kaum erwarten, diesen Horrortrip hinter sich zu lassen und ging mit schnellen, großen Schritten zum Ausgang. Als er draußen vor dem Gebäude stand und die Tür ins Schloss gefallen war, blieb er vor ihr stehen und atmete zweimal tief durch. Dann schloss er die Augen. Geschafft! Vier Wochen Ruhe! Vielleicht sollte ich mir die Haare kürzer schneiden lassen, dann brauche ich nicht so oft zum Haareschneiden zu gehen. Das überlege ich mir aber noch. Ich habe ja jetzt einen ganzen Monat Zeit. Oder vielleicht sollte ich eine Therapie machen? Es gibt eine Menge Ärzte, die auf traumatische Erlebnisse spezialisiert sind. Sebastians Gedanken hingen noch ein wenig dem Ereignis nach, dann ging er, etwas erholt und die Hände in den Hosentaschen gestützt, nach Hause und gönnte sich zur Entspannung seinen Lieblingstee. Schon jetzt wollte er sich mental auf den nächsten Frisörtermin vorbereiten. Dieser würde auf alle Fälle in vier Wochen sein. Ob sie froh waren, ihn einen ganzen Monat nicht erleben zu müssen? Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
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