Unser Buchtipp
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Alex© Mirko SaßAlex war Inhaber und zugleich einziger Beschäftigter eines Herrensalons. Kein altbackener Herrenfrisör, die mit ihren Kitteln immer so wirkten, als wären sie Mechaniker oder Laboranten, noch ein homophiler Frauenversteher, sondern ein kerniger Kumpeltyp. Im Wartebereich lag eine Auswahl einschlägiger Herrenmagazine aus und statt Kaffee gab es bei Alex gekühltes Bier. Von den Wänden grüßten die Konterfeis erfolgreicher und siegessicher grinsender Aktivisten aus dem Bereich der klassischen Männersportarten. Viele seiner Kunden, die zugleich seine Kumpels waren, schauten auch mal im Salon vorbei wenn sie gar keinen Haarschnitt benötigten. Sie nahmen sich ein Bier aus der Kühlung, fläzten sich in einen der bequemen Wartesessel, blätterten in den Magazinen und unterhielten sich lautstark über Sport und Frauen, gaben Angebereien und versaute Witze von sich. An einem schönen Frühlingstag, einem Sonntag, wurde Alex jedoch auf brutale Weise aus seinem gewohnten Alltag herausgerissen. Endlich hatte die lang herbei gesehnte Motorradsaison begonnen und Alex schoss erst mit seiner Maschine über die Landstraße und dann in einer scharfen Linkskurve leider auch darüber hinaus. Er bekam nichts mit von der Bergung, dem Abtransport sowie der Operation. Und als er aus der Dunkelheit erwachte, sprachen die Ärzte von dem großen, fast unvorstellbaren Glück, das er gehabt hätte. Die Stationsschwester meinte sogar, es grenze an ein Wunder und seine Mutter glaubte an einen Schutzengel, der ihn am Unglückstag begleitet haben musste. Als er nach einigen Wochen endlich in sein Viertel zurückkehrte, zeigte er sich angesichts der Tatsache, dass seine Freunde vollzählig erschienen waren, um ihn willkommen zu heißen, sichtlich gerührt. "Wann legst du endlich wieder los?", wollte einer von ihnen wissen. "Morgen", versprach er und da Alex ein Bursche war, der seine Zusagen einhielt, schloss er am nächsten Tag pünktlich seinen Salon auf, um endlich wieder Haare schneiden, Nacken ausrasieren und vor allem ausgiebig quatschen zu können. Als er mit seinen Fingerspitzen den Kopf seines ersten Kunden berührte, traf es ihn wie ein Blitzschlag. "Was ist denn Alex?", fragte Ronny mit besorgt klingender Stimme. "Ach nichts, mir war nur ein wenig schwindlig", log er mit hilflos wirkendem Gesichtsausdruck. "Du warst gestern auf der Kartbahn?", fragte er Ronny. "Ja, woher weißt du das?" Ja, woher weiß ich das, überlegte Alex. Er hatte mit seinen Fingerspitzen Ronnys Kopfhaut berührt und sofort war ihm eine kurze Sequenz aus dessen Erinnerung als klares Bild, ähnlich einer Videoaufzeichnung, erschienen. Etwas Derartiges hatte er niemals zuvor erlebt und er fragte sich, ob bei dem Unfall möglicherweise etwas in seinem Kopf kaputt gegangen war. Zunächst ängstige ihn diese Erfahrung und er bemühte sich darum, Ronnys Kopfhaut nicht ein weiteres Mal zu berühren, sondern die Distanz durch Schere, Kamm und Scherrasierer zu bewahren. Aber beim nächsten Kunden, Cem, wollte er es noch einmal ausprobieren. "Ich massiere mal kurz deine Kopfhaut", kündigte Alex an. "Was spinnst du? Bist du durch Unfall schwul geworden?", empörte sich Cem. "Nein, aber ich habe gelesen, dass es die Gehirnfunktion anregt." Cem wirkte verwundert, willigte aber dennoch ein. "Dann mach." Alex berührte Cems Kopfhaut und sah, wie durch dessen Augen hindurch, in die Vergangenheit hinein. Er nährte sich einer Frau. Sie sah gut aus. Sehr gut sogar. Katzenaugen, volle Lippen, langes schwarzes Haar mit seidigem Glanz. Es war in einer Disko oder Bar. Cem nahm neben ihr Platz und lies forsch seine Hand zu ihrem Oberarm wandern. Sofort stieß die Hand weg, machte ein empörtes Gesicht, stand auf und verschwand aus seinem Blickfeld. Alex beendete die Massage und griff zur Schere. "Und was geht so ab, Cem? Mal wieder etwas klargemacht?" "Na logisch, Alter. Grad gestern hänge ich so ab in der Brooklyn-Lounge, da läuft mir doch so eine geile Alte über den Weg. Schwarze Haare bis zum Arsch hat sie gehabt." "Und ging da was?" Cem grinste breit. "Klar Mann. Die war scharf wie eine Rakete, der habe ich es so richtig besorgt." Lügner, dachte Alex. Sie hat dich eiskalt abblitzen lassen! Gar nichts ist da abgegangen, höchstens deine Fantasie! Alex begann Gefallen an dem Spiel zu finden, bot auch den Anderen eine kurze Kopfmassage an und erfuhr erstaunliche Dinge. Bogdan, der immer damit prahlte, von seiner Frau wie ein Pascha behandelt zu werden, entpuppte sich als braver Hausmann, der Staub saugte und den Geschirrspüler bestückte. Chris schluckte Pillen zur Potenzsteigerung, René schaufelte Steroide in sich hinein, Marvin war ein Ladendieb, Marco verarbeitete abgelaufene Lebensmittel in seinem Imbiss, Attila schrieb heimlich Liebesgedichte, Olaf betrachtete nackte Männer in Hochglanzmagazinen, Matthias holte Abends seine Science-Fiction-Sammelfiguren aus dem Regal und stellte mit ihnen selbst erdachte Weltraumabenteuer nach, Bernd traf sich heimlich mit Ronnys Freundin und Lars mit Cems Schwester. Einige Tage vergingen, dann betrat ein fremder Mann den Salon. Vielleicht kam er von außerhalb, eventuell hatte Alex ihn vorher einfach noch nie zu Gesicht bekommen. Wie sollte er auch die gesamte Nachbarschaft kennen, lag doch auf der anderen Straßenseite, hinter der kleinen Ladenzeile, eine Hochhaussiedlung mit Hunderten von Bewohnern. Fast täglich parkte dort ein Möbelwagen, weil Leute wegzogen oder neu hinzukamen. Obwohl ihn die Erinnerungen dieses Kunden nicht im Geringsten interessierten, lies er ihm dennoch die Kopfhautmassage angedeihen, da es ihm mittlerweile zur vertrauten Gewohnheit geworden war. Eine Frau lag auf einem Bett. Sie wirkte leblos. Ihr Unterleib war unbekleidet, die Bluse hing halb zerrissen am Oberkörper. Ein Kissen verbarg ihr Gesicht. Die, mit Handschuhen bekleideten, Finger zogen vorsichtig ein Kondom ab und verstauten es in einem Gefrierbeutel, der zusammengerollt in der Jackentasche platziert wurde. Dann griffen sie nach dem Kissen und entfernten es. Ein, trotz der Umstände noch immer schön wirkendes, Gesicht kam zum Vorschein und Alex erkannte es sofort. Es gehörte Francesca, der Bedienung seines Lieblingsitalieners. Alex wurde übel und es gelang ihm kaum, seinen Zorn unter Kontrolle zu halten. Die zitternde Hand umklammerte die Schere. Zustechen, ihm einfach die Schere in den Kopf rammen, war sein erster Gedanke. Oder ihn gemeinsam mit René und Attila, die beide im Salon zugegen waren, zusammenprügeln, sein zweiter. Schließlich zog er in Erwägung, die Polizei zu benachrichtigen. Aber was sollte er denen erzählen? Das er sich in die Erinnerung eines Kunden eingeklinkt hätte? Mit hasserfülltem Blick musterte er das Gesicht seines Kunden. Ein Dutzendgesicht. Nicht das eines kaltblütigen Vergewaltigers oder Mörders, sondern eher eines harmlosen Bankangestellten oder Außendienstlers. Mehr schlecht als recht brachte er mit zittrigen Fingern den Haarschnitt hinter sich, verbarg seine bittere Wut hinter einer gleichgültigen Maske und nahm das mickrige Trinkgeld mit einem heiseren "Danke" entgegen. Alex ließ dem Mann einen kleinen Vorsprung, folgte ihm schließlich und beobachtete, wie er in einen Mittelklassewagen stieg. Er prägte sich das Kennzeichen ein, kehrte in den Salon zurück, griff sich ein Paar Einweghandschuhe, sammelte einige Haarbüschel vom Boden auf und verstaute diese in einem Plastikbeutel. "Jungs, könnt Ihr kurz auf den Laden aufpassen?", fragte er René und Attila, die, vertieft in die neuesten Ausgaben der Herrenmagazine, von alledem nichts mitbekommen hatten. "Klar doch", schmetterte ihm Attila entgegen. Alex wusste, dass Francesca in der Erdgeschosswohnung eines Sechsfamilienhauses lebte, gleich bei ihm um die Ecke. Hoffentlich sieht mich jetzt keiner, sonst lande am Ende noch ich im Knast, sagte er sich, als er seine Schritte in den kleinen Garten hinter dem Haus lenkte. Ihre Terrassentür stand offen, er entdeckte Einbruchsspuren. Am gesamten Körper zitternd betrat er ihre Wohnung und fand rasch den Weg in ihr Schlafzimmer. Einige Minuten hielt er inne und betrachtete, erfüllt von einer Mischung aus Mitleid und Trauer, ihr Gesicht. "Ruhe in Frieden, hübsches Mädchen", sagte er leise und eine leichte Übelkeit stieg in ihm empor. Schon lange hatte er ein Auge auf sie geworfen, sich heimlich vielleicht sogar ein wenig in sie verliebt, aber nie den Mut gefunden, sie anzusprechen. Das bedauerte er nun, denn vielleicht wäre dies nicht geschehen, wenn sie zusammen gewesen wären. Dann zog der die Einweghandschuhe über und verteilte die mitgeführten Haarbüschel auf dem Bett. Der Täter hatte Handschuhe und ein Kondom getragen, um keine Spuren zu hinterlassen, aber diese Haare würden ihm zum Verhängnis werden, war sich Alex sicher. Und um der Polizei die Arbeit noch mehr zu erleichtern, nahm er einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus Francescas Besitz an sich, notierte das Autokennzeichen und platzierte die Utensilien auf dem Nachttisch. Er wollte das Schlafzimmer gerade verlassen, als er ein leichtes Hüsteln vernahm. Sein Atem stockte. Francesca lebte! Vor Erleichterung hätte er am liebsten laut aufgeschrien, aber er hielt sich zurück. Im Eiltempo verließ er die Wohnung, begab sich zum öffentlichen Fernsprecher in der Ladenzeile und allarmierte den Rettungsdienst. Dann faltete er, erstmals seit seinem viele Jahre zurück liegenden und mit wenig Frömmigkeit absolvierten Konfirmandenunterricht, die Hände und betete dafür, dass alles wieder gut werden würde mit Francesca. Im Anschluss kehrte er in seinen Salon zurück und sperrte ihn für den Rest des Tages zu. Er fühle sich nicht, sagte er seinen Kumpels und das war nicht einmal gelogen. Als er am nächsten Tag wieder die Kopfhaut eines Kunden massierte, stellte er mit großer Verwunderung fest, dass seine Gabe ebenso plötzlich verschwunden war, wie sie in sein Leben getreten war. Er ärgerte sich nicht über diesen Verlust, sondern empfand tiefe Dankbarkeit dafür, dass er sie zum richtigen Zeitpunkt hatte nutzen dürfen. Selbstverständlich war der Vorfall um Francesca viele Tage Hauptgespräch in seinem Salon und alle freuten sich darüber, dass die Polizei den Täter so schnell gefasst hatte. Am allermeisten freute es Alex und als er hörte, dass es Francesca wieder besser ging, verspürte er ein wohliges Gefühl in seiner Brust.
Dann kam ihm zu Ohren, dass sie ihren Job und ihre Wohnung gekündigt hatte. Sie wollte keinesfalls an einen Ort zurückkehren, mit dem sie derart schlechte Erinnerungen verband, sondern weit weg, in eine andere Stadt sogar, ziehen. Alex brachte großes Verständnis für ihre Entscheidung auf, bedauerte es jedoch zutiefst, dass er sie wahrscheinlich niemals mehr zu Gesicht bekommen würde.
Umso erfreuter und überrascht zugleich war er, als sie eines Abends, wenige Minuten bevor er den Salon zusperren wollte, bei ihm eintrat. Er versuchte, seine Gefühle zu verbergen, denn am liebsten hätte er sie sofort umarmt und liebevoll geknuddelt. "Ich habe schon öfter vor deinem Laden gestanden, aber immer waren noch andere Leute hier gewesen. Heute bist du endlich alleine, " sagte sie. Er vernahm die Verletzlichkeit in ihrer Stimme, sah die Traurigkeit in ihrem Gesicht und erahnte die noch frischen Wunden auf ihrer Seele. Und doch erschien sie ihm schöner, denn je zuvor. "Ich ziehe demnächst zu meiner Schwester nach München und wollte mich noch verabschieden." Alex wunderte sich, denn er war zwar oft Gast in ihrem Restaurant gewesen, aber ansonsten hatten sie keinerlei Kontakt zueinander gehabt. "Du fragst dich, weshalb ich gekommen bin, oder?" Alex brachte kein Wort heraus, sondern nickte nur stumm. "Ich habe dich immer sehr nett gefunden und es bedauert, dass du nie mehr gewesen bist, als nur ein Restaurantgast. Und dann gibt es da noch etwas, was mich sehr verwundert. Als ich neulich, nachdem … na du weißt schon, für einen kurzen Augenblick zu mir gekommen bin und meine Umgebung zumindest verschwommen wahrnehmen konnte, meine ich, in meinem Schlafzimmer, neben meinem Bett, eine Gestalt gesehen zu haben. Ich glaube, es ist ein Engel gewesen und seltsamerweise hat er dir ähnlich gesehen." Alex liefen Tränen über die Wangen und er fragte sich, ob man in München, in Francescas Nachbarschaft, wohl einen Frisör wie ihn würde gebrauchen können. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
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