Unser Buchtipp
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Farbwechsel© H.P. BarkamGard hatte bereits genug von diesem bescheuerten Engagement, bevor es überhaupt begonnen hatte. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht, sich von seinem Nachbarn, diesem Privatunterricht gebenden Möchtegernkünstler, zu diesem Blödsinn überreden zu lassen. Es war das liebe Geld. Seine Spielschulden erdrückten ihn langsam und er musste zwingend alle Möglichkeiten nutzen, an Geld zu kommen. "Meine Damen und Herren. Ich möchte Ihnen das Modell der nächsten Zeit und damit auch Ihre nächste Aufgabe vorstellen", hauchte diese abgedrehte Pfeife seinen Pinselschülern in die erstaunten Gesichter. Da vor Gard ebenfalls ein Mann als Modell auf dem Podest posieren durfte, waren die angehenden Straßenmaler und Hausfrauenstars garantiert von einem prachtvollen Weib als Nachfolgeobjekt ausgegangen. "Also meine Damen und Herren: Um die Aufgaben der nächsten Tage erfüllen zu können, skizzieren Sie bitte die Vorderseite des Modells aus der Erinnerung. Daneben zeichnen Sie die sichtbare Körperrückseite. Bitte lassen nichts aus und, was noch wichtiger ist, fügen Sie nichts hinzu." "Und Sie Herr Haar bitte ich, die besprochene Position einzunehmen", forderte er Gard auf, der daraufhin vom Podest aus den Leuten unter ihm mit gespreizten Beinen und leicht abgewinkelten Armen seinen knackigen Hintern entgegenstreckte.
Zwei Tage später stand Gard wieder auf dem Podest. Der Guru der Farbverteilung versammelte seine Anhänger um sich und sprach: "Ich habe Sie nach vorne gebeten, damit Sie das Modell in den kommenden Minuten aus nächster Nähe und von allen Seiten betrachten. Haben Sie keine Scham." Süffisant grinsend wandte er sich an den Jüngling neben sich und neckte ihn: "Nur gucken, nicht anfassen." Die drei Frauen und vier männlichen Farbkleckser betrachteten also das Modell mit all seinen Gliedmaßen, Rundungen, Falten, Grübchen und sonstigen interessanten Anhängseln, bis ihr Lehrer sie hinter ihre Staffeln scheuchte.
"Wie Sie bereits bei der ersten Sitzung hätten feststellen können, hat Herr Haar auf meine Bitte hin seinen hübschen Körper vollständig von jeglicher Behaarung befreit. Ich bat Sie beim letzten Mal, das Modell originalgetreu zu zeichnen und nichts wegzulassen oder hinzuzufügen. Bitte betrachten Sie nun noch einmal Ihre Zeichnung." Langsam trippelte der kleine Mann im farbverschmierten Kittel die halbmondförmig aufgestellten Plätze seiner Schüler ab, zeigte hin und wieder auf die Skizzen, zupfte im Kritikgespräch sein dünnes Kinnbärtchen und streichelte unauffällig den Arm des Jünglings, sodass es jeder sah. Nach der siebten, also letzten Skizze, kehrte er dann zurück an seine noch leere Staffel. Auf das eingespannte Papier malte er mit weiten Schwüngen und wenigen Strichen das Modell; einmal von vorne und einmal von hinten. Minuten später bat er seine Schüler, ihm zu sagen, warum fünf von sieben der Teilnehmer ihre Skizzen nicht seinen Vorgaben entsprechend gemalt hätten. Trotzige Blicke, ungläubiges Schulterzucken und empörtes Geflüster waren die Reaktionen. Gard, der sich eine nach Terpentin stinkende Wolldecke um seinen nackten Körper geschlungen und gerade seine dritte Zigarette ausgeraucht hatte, wurde in die Position der Vorstunde gebeten. Kurz besprach der Meister die wichtigsten Aspekte bei der Zeichnung eines Mannes anhand seiner Rückenskizze, bevor er sich der männlichen Vorderfront zuwandte. Gard hatte sich mittlerweile auf Geheiß seines Geldgebers umgedreht und stand noch etwas unschlüssig auf dem Podest, als der kleine Mann schräg rechts unter ihm, anfing seine Zuhörer anzumaulen: "Wenn Sie das Modell jetzt betrachten, was fällt Ihnen daran auf?" "Keine Idee" "Na gut. Wir wollen unsere teure Zeit nicht verplempern. Ein kleiner Tipp: Der gute Mann hier neben mir hat sich seit der letzten Stunde nicht verändert. Möchte dazu jemand etwas sagen? Niemand. Auch gut. Dann schauen Sie bitte auf ihre Skizzen. Vielleicht fällt Ihnen doch noch etwas auf", beendete der Professor seine verwirrende Fragerei und hüllte sich in ein trauriges Schweigen. Es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis die Älteste der übertalentierten Damen der Aha-Effekt-Schock ereilte. Mit spitzem Schrei und klar formuliert meldete sie sich zu Wort: "Ich hab"s! Ich hab"s! Es sind die Haare. Ich habe dem Modell in meiner Zeichnung Haare verpasst." Stolz wie nur was, strahlte sie erst ihre Mitstreiter, dann den Kunstlehrer an. Endlich, konnte Gard die Erleichterung im Gesicht seines Auftraggebers ablesen, als dieser sich kurz räusperte und dann leise fragte: "Und wo, meine Gute, haben sie die Haare hingemalt?" Das süffisante Grinsen, welches der Chef im Ring so gut beherrschte, konnte nichts Gutes bedeuten. Die aufmerksame Malstudentin merkte nichts mehr. "Zwischen seine Beine. Äh. An seinen Äh. Über den Äh. Also, ich habe Schamhaare gemalt", hatte sich die erst fröhlich gedachte Topantwort zu einer Stotterei gewandelt. Der Saal tobte und bis auf die Bloßgestellte, hatten alle ihren Spaß. Nachdem sich alle schnell wieder beruhigt hatten, bestätigten drei Herren, dass auch sie dem Modell Schamhaare verpasst hatten. "Und was ist mit Ihnen?", fragte der Guru und lächelte Weisheit und Wissen demonstrierend die beiden jungen Frauen links von ihm und den hübschen Jungen an. "Haben Sie auch erfundene Schamhaare gezeichnet?" Zwei Köpfe, halb versteckt hinter ihren Staffeleien, wackelten verneinend. Der Jüngling lächelte. "Hat jemand von Ihnen eine Erklärung für dieses Phänomen? Nein? Die Antwort ist ganz einfach. Sie alle haben nicht gemalt, was Sie glaubten gesehen zu haben, sondern was sie für normal hielten. Das Wahrscheinliche ersetzte das schwach Erinnerte. Ich sehe Ihre fragenden Gesichter. Ist doch ganz einfach. Vier von Ihnen haben ihre Schamhaare am Körper belassen. Drei von Ihnen sind rasiert." Nach dieser Demonstration schilderte der Ausbilder noch ein paar Beispiele die Kunst behindernder falscher Wahrnehmungen, bevor er seine Anhänger verabschiedete.
Seit einer Stunde wischten und kratzten unterschiedlichste Malwerkzeuge über die Leinwände. Erste Konturen überdeckten die Skizzen. Die Bilder entwickelten sich. In den letzten zwei Wochen waren die Kunstschüler fleißig gewesen. Der Professor ließ sie mehr als nur gewähren. Egal wie schräg die Schüler das Modell behaarten, er feuerte sie zu noch mehr Mut an. Und so malten die Studenten immer gewagtere haarige Variationen.
Zwei weitere Ausbildungsstunden später war es so weit. Der Lehrer bat seine Schülerinnen und Schüler nicht nur ihre Bilder vorzuzeigen, sondern auch ihre Haarinterpretationen zu begründen. Das war die vor Wochen begonnene Aufgabe gewesen. Die Gruppe sollte nicht einfach eine Figur behaaren, sondern durch die Behaarung dem Modell einen Charakter geben. Das Ergebnis verblüffte sie alle. Wenige oder viele Haare. Kurze oder lange. Blonde, rote, brünette oder schwarze. Alles war auf den Modellbildern vermalt worden. Gard staunte nicht schlecht, als er sich auf dem Bild des Jünglings gleich einer Fotografie wieder fand. Alle Haare waren so verteilt, wie sie Gard trug, wenn er nicht gerade rasiert war. Nur sein Kopfhaar hatte er in den letzten Jahren etwas kürzer getragen. Er würde es demnächst etwas länger tragen. Es war das Bild der älteren Dame, welches ihm einen plötzlichen Schrecken einjagte. Die Tussi hatte die gesamte Zeit während der Besprechungen der einzelnen Bilder vor ihrer Leinwand gestanden, sodass Gard ihr Werk erst als letztes zu sehen bekam. Bevor er sich von seinem Schreck erholen konnte, sprach ihn die Frau schon an: "Na, Herr Haar, erkennen Sie sich wieder?", fragte sie freundlich, wobei ihre Augen Gard unbarmherzig fixierten. "Wer sind Sie?" war alles, was dieser in diesem Moment stotternd antworten konnte. "Klären wir doch erst einmal, wer Sie sind. Sie sind Alfons Haar, genannt Gard. Und Sie sind ein vorbestrafter Bankräuber. Den Spitznamen Gard hat man Ihnen wohl in Anlehnung an ein Haarpflegeprodukt verpasst. Sehr originell. Sie, Herr Haar, werden von uns verdächtigt, am Dienstag der letzten Woche eine Bank überfallen zu haben. Die Vorgehensweise ähnelte einem Überfall von vor drei Jahren, bei dem der Täter durch eine auffällige Maskerade unerkannt entkommen konnte. In dem jetzt aktuellen Fall hatten wir wiederum keine Hinweise auf den Täter, bis auf das Foto einer Überwachungskamera. Der Verbrecher trug zur Tatzeit einen dichten dunklen Schnauzbart und eine schmale dunkle Brille, welche das Gesicht annähernd verdeckten. Diesmal fehlte allerdings ein Wust an Kopfhaar. Der Täter trug stattdessen eine hochgeschobene Skimütze." Gard starrte auf das Kunstwerk der Dame vor ihm und konnte es nicht fassen. Sein Ebenbild, nackt wie der Teufel es geschaffen hatte, nur mit einem dicken Oberlippenbart und einer Mütze auf dem kahlen Schädel bedeckt, schaute traurig ins Leere. "Und wer sind Sie? Und wie sind Sie auf mich gekommen?" "Mein Name ist Ute Knall. Und ich bin die leitende Kriminalhauptkommissarin der Soko Raub. Eigentlich hab ich Sie gar nicht gefunden. Ich konnte nur beim letzten Unterrichtstermin, ein Tag nach dem Überfall, nicht abschalten, als ich hierher zu meinem einzigen Freizeitvergnügen kam und habe Ihnen deshalb, mehr als allgemeines Experiment gedacht, diesen schönen Bart verpasst. Die Ähnlichkeit mit dem Überwachungsfoto war zu deutlich. Ihren Hintergrund zu recherchieren, war dann einfach. Sie hatten einfach nur Pech. Und, nehmen Sie's mir nicht übel, ich kann es mir jetzt einfach nicht verkneifen, und jetzt bringe ich Sie in ihr mit Gittern verziertes Gard Haarstudio." Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
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