Haarige Geschichten
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Liebe auf Raten

© Andrea Kochniss

Der erste Tag in Tinkas neuem Job hätte nicht besser beginnen können. Als sie den Friseursalon ihrer besten Freundin Sandra betrat, kam ihr in der Tür ein junger Mann entgegen, der nicht hübscher hätte sein können. Rotbraune, schulterlange Locken, Sommersprossen und grüne Augen reichten aus, um Tinkas Herz höher schlagen zu lassen. Sie blickten sich kurz an, wurden beide rot und dann stolperte er an ihr vorbei nach draußen. Tinka starrte ihm noch eine Weile durch das Schaufenster nach, bis Sandra sie aus ihren Träumen holte.

"Tinka, schön! Da bist du ja endlich. Wenn du möchtest, kannst du gleich die nächste Kundin übernehmen."

Tinka nickte bloß und machte sich an die Arbeit, die sie eher mechanisch verrichtete. Ihre Gedanken kreisten um den Mann von heute Morgen, und sie verschwanden auch nicht bis zum Feierabend.

"Was ist los mit dir, Tinka? Du warst völlig unkonzentriert. Ein Wunder, dass die Kunden sich nicht beschwert haben."

"Tut mir leid, Sandra, aber ... dieser Mann geht mir nicht mehr aus dem Kopf."

"Was für ein Mann?"

Tinka erzählte Sandra die Situation vom Morgen, dass es sie wie ein Blitz getroffen hatte und auch, wie verwirrt sie deswegen war.

"Den sehe ich sicher nie wieder!", seufzte Tinka.

Sandra überlegte einen Moment, dann sagte sie: "Ich mach dir einen Vorschlag: Ich komm heute Abend bei dir vorbei, wir bestellen eine leckere Pizza und reden mal in Ruhe drüber."

Tinka glaubte nicht daran, eine Lösung zu finden. Wie sollte man auch einer Person ein zweites Mal begegnen, wenn man ihr schon beim ersten Mal zufällig über den Weg gelaufen war? Außerdem war ein Friseursalon kein Ort, den man alle paar Tage mal aufsuchte. Hinzu kam noch, dass Tinka ziemlich schüchtern war, was Männer anging. Trotzdem sagte sie der Verabredung mit Sandra zu. Vielleicht würde ein gemütlicher Pizzaabend mit der besten Freundin vom Herzschmerz ablenken.

Sandra erschien am Abend mit einer Flasche Wein in der einen und einer DVD in der anderen Hand in Tinkas Wohnung. Sie machte es sich auf der Couch bequem und drückte Tinka die Bestellkarte eines italienischen Restaurants in die Hand. "Hier, das ist eine neue Pizzeria, die würde ich gerne mal ausprobieren. Such dir was aus, ich weiß schon, was ich nehme."

Tinka entschied sich für eine vegetarische Pizza, Sandra gab die Bestellung telefonisch durch und danach legte sie den Film in den DVD-Player. Nach einer Weile fragte Tinka: "Hast du eigentlich extra einen Film mit Johnny Depp ausgesucht?"

"Na klar, irgendwie muss ich dich doch aufmuntern."

"Lieb von dir, aber das wird nicht helfen diesmal. Ich glaub, ich bin total verknallt."

"Dann musst du ihn suchen!"

"Wo denn? Das bringt doch alles nichts!"

"Tinka, dir ist echt nicht mehr zu helfen! Du musst schon selbst die Initiative ergreifen. Dein Traummann wird kaum einfach vor deiner Tür stehen, klingeln und sagen: Hallo, hier bin ich endlich!"

"Das weiß ich auch. Deswegen ja, das hat alles keinen Zweck."

Was Sandra auch versuchte, jedes Wort schien zwecklos. Sie schüttelte den Kopf und goss sich ein Glas Wein ein. Es klingelte. Lustlos schlenderte Tinka zur Tür und öffnete sie. Ein Mann hockte am Boden und nahm die Pizzen aus der Lieferkiste. Während er sich aufrichtete, sagte er: "Hallo, hier bin ich endlich. Sorry, wenn es ein bisschen gedauert hat, aber ..." Er sah Tinka an und vergaß weiterzusprechen. Und sie starrte zurück. Er war der Mann von heute Morgen. Tinka war völlig sprachlos. Sie nahm die Pizzen entgegen und er sagte: "Das macht vierzehn Euro fünfzig."

Tinka gab ihm sechzehn. Er verabschiedete sich mit einem scheuen Lächeln und Tinka blieb in der Tür stehen. Sah ihm nach, wie er mit seinem Auto durch den Regen davonfuhr. Erst Sandra holte sie aus ihrer Trance, als sie rief: "Was brauchst du so lange? Die Pizza wird kalt!"

Tinka schwebte über den Flur zurück ins Wohnzimmer. Mit einem Grinsen im Gesicht, das Sandra dazu brachte, Tinka ängstlich anzusehen. "Was ist denn mit dir passiert?"

"Er war da, Sandra!"

"Wer?"

"Mein Traummann! Und er hat doch geklingelt und gesagt: Hallo, hier bin ich endlich!"

"Ist nicht wahr!"

"Doch!"

Sandra grinste. "Wie ich sehe, hat er nebenbei noch die Pizza mitgebracht. Und? Hast du ihn angesprochen?"

"Nein."

"Und was willst du nun machen? Du kannst ja schlecht jeden Abend Pizza bestellen, nur um ihn zu sehen."

Am nächsten Morgen ging Tinka weitaus motivierter zur Arbeit, sehr zu Sandras Freude.

Tinka stand gerade mit einer Kundin an der Kasse, als er plötzlich vor ihr stand. "Hallo. Ich hätte gerne die Haare geschnitten", sagte er schüchtern. Tinka nickte bloß und führte ihn zu einem der Stühle. Über den Spiegel sahen sie sich in die Augen.

"Wie viel soll ab?", fragte Tinka.

"Nicht mehr als ein bis zwei Zentimeter, bitte."

Seine Haare zu berühren, war genauso, wie Tinka es sich vorgestellt hatte. Sie waren sehr dick und fühlten sich trotzdem weich an. Während sie seine Haarspitzen fast schon meditativ kürzte, redeten sie nur das Nötigste miteinander. Sie sahen sich lediglich ab und zu über den Spiegel flüchtig in die Augen. Dann war es auch schon vorbei.

Am Abend bestellte Tinka sich eine Pizza, so, wie sie es sich vorgenommen hatte. Tatsächlich lieferte er sie auch wieder aus. Sie begrüßten sich, er gab ihr die Pizza, sie zahlte, sie verabschiedeten sich. Keine großen Worte. Tinka schloss die Tür und war enttäuscht. Aber was hatte sie denn auch erwartet? Dass er ihr zusätzlich zur Pizza als Bonus eine Liebeserklärung mitlieferte? Aus lauter Frust aß Tinka die Pizza an einem Stück auf.

Sie traute ihren Augen nicht, als er am nächsten Tag wieder im Friseursalon stand und das gleiche von ihr verlangte wie am Tag zuvor: Seine Haare um ein bis zwei Zentimeter zu kürzen. Sie erfüllte seinen Wunsch wieder mit dem gleichen Smalltalk, den sie beim letzten Mal auch geführt hatten. So zog sich das einige Tage hin: Er kam tagsüber in den Salon, um sich seine Haare um ein bis zwei Zentimeter kürzen zu lassen und sie bestellte abends Pizza. Bis Sandra Tinka eines Tages beiseite nahm, als er wieder auf einem der Stühle im Salon saß. "Tinka, so geht das nicht weiter! Irgendwann platzt du aus allen Nähten vor lauter Pizza und der arme Kerl wird irgendwann keine Haare mehr auf dem Kopf haben!"

Tinka warf einen verstohlenen Blick zu ihm rüber. Sandra hatte Recht. Seine Haare hatten mittlerweile weniger als Kinnlänge erreicht.

"Ich weiß, aber was soll ich denn machen?"

"Der Mann mag dich, er ist bloß viel zu schüchtern. Umsonst lässt er sich seine Haare nicht auf Raten schneiden. Wer würde schon so was Dummes machen, außer, er hat sich in die Friseurin verliebt? Sprich ihn an!"

Tinka nahm also ihren ganzen Mut zusammen, ging hinter ihn und sah ihn über den Spiegel an.

"Hallo!", sagte sie.

"Hallo!", gab er zurück.

"Darf ich fragen, wie Sie heißen?", begann Tinka.

"Wenn du mich nicht weiter siezt, gerne." Er lächelte verlegen.

Genau wegen diesem Lächeln gefiel er ihr so gut, und das ermutigte Tinka noch ein wenig mehr. "Gerne. Ich bin übrigens Tinka."

"Luca. Kriegst du heute Abend wieder Pizza?"

"Hm, ich denke, ich werde noch so lange Pizza bei dir bestellen müssen, bis du eine Glatze hast. Darauf läuft es doch irgendwann hinaus, oder nicht?"

Luca wurde rot und senkte den Blick. Sein Lächeln verschwand jedoch nicht. "Wahrscheinlich."

"Oder bis wir beide pleite sind. Was würdest du davon halten, wenn du deine Haare behalten könntest? Ich höre auf, Pizza in mich reinzustopfen und wir treffen uns mal an einem Ort, der nichts mit unseren Jobs zu tun hat."

"Meinst du das ernst?" Lucas Augen leuchteten. Tinka nickte bloß und beobachtete, wie er erleichtert den Friseurumhang von sich riss und vom Stuhl aufsprang. "Bin ich froh, dass ich meine Haare nicht mehr abschneiden muss!"

"Und ich, dass ich keine Pizza mehr essen muss. So langsam passen mir meine Sachen nicht mehr."

Luca kramte aus seinem Rucksack Stift und Papier hervor, schrieb seine Handynummer auf und gab Tinka den Zettel. "Hier. Damit du nicht in der Pizzeria von meinen Eltern anrufen musst, wenn du mich sprechen willst."

Beide sahen sich in die Augen und lächelten sich glücklich an.

"Da muss ich jetzt auch wieder hin, arbeiten. Ciao." Er gab ihr noch einen zaghaften Kuss auf die Wange, wurde wieder rot und ging. Selig beobachtete Tinka, wie er den Salon verließ und ihr mit einem Lächeln von draußen durch das Schaufenster noch mal zuwinkte.

"Himmel, das wurde aber auch Zeit!", seufzte Sandra. Sie stand jetzt neben Tinka und starrte mit ihr gemeinsam durch das Schaufenster.

"Wenn du nicht gewesen wärst, Sandra, hätte ich ihn nie angesprochen, glaube ich."

"Das glaube ich auch!" Sandra grinste und holte einen Stapel Pizza-Bestellkarten aus einer ihrer Privat-Schubladen und hielt sie Tinka vor die Nase. "Die hat er am Vormittag zum Auslegen für unsere Kunden hier abgegeben, als du ihn zum ersten Mal gesehen hast."

"Willst du damit sagen, du wusstest schon, dass er bei dieser Pizzeria arbeitet, bevor wir da bestellt haben?"

Sandra nickte, immer noch grinsend.

"Aber wieso hast du mir nichts gesagt?"

"Sagen wir mal so: Ich agiere gerne im Hintergrund."

"Du hast das absichtlich gemacht?" Tinka stemmte ihre Hände in die Seiten und konnte nun auch nicht mehr umhin, über den Plan ihrer Freundin zu lachen.

"Natürlich! Ich musste doch irgendwas machen. Ihr zwei habt euch ja an dem Morgen angestarrt, als wäre der jeweils andere das schönste Wesen auf dieser Erde."

Ein dunkelhaariger, gutaussehender Mann betrat den Salon, trat auf die beiden Freundinnen zu und sagte: "Guten Tag, ich hätte gerne die Haare um ein bis zwei Zentimeter gekürzt."

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Ein haariges Lesevergnügen


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