Haarige Geschichten
Kurzgeschichte - Haar, Haare, Frisur, Friseur, Haarfarben, blond, Blondine, Rothaarige, Glatze, Haarausfall, Bart, Rasur, Zöpfe, Locken, Dauerwellen ...
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Ein neuer Anfang

© Simone Mylonas

Gedankenverloren starrte sie auf den regennassen Asphalt der menschenleeren Straße vor ihrem Fenster. Gott, wie sie das hasste. Wieder einer dieser trüben Sonntage. Einer, an dem man sich vor lauter Verzweiflung den Korb mit der seit mindestens drei Wochen frisch gewaschenen Wäsche schnappt, eine CD mit romantischen Schnulzen einlegt und den Berg von Klamotten und Bettzeug energisch kleinbügelt. Wild entschlossen, diesen trostlosen Tag doch noch sinnvoll zu gestalten. Zumindest einen Wäschesprüher brauchte sie nicht. Dafür sorgte schon die Musik. Seufzend blickte sie vor sich auf ihr Bügelbrett. Die Tränen, die sich wie Sturzbäche auf den zerknitterten Kissenbezug ergossen, hätten für genug Feuchtigkeit gesorgt, um das Fell eines chinesischen Faltenhundes zu glätten.

"Shar Pei", hörte sie sich, überrascht über die Lautstärke ihrer Stimme, sagen. Genau. So hießen diese Hunde mit dem zerknautschten Gesicht, in dem man nur mit Mühe die Augen erkennen konnte. Im selben Moment verkrampfte sich ihr Herz. Sie hatten sich auch einen Hund zulegen wollen. Einen Retriever vielleicht oder einen Border-Collie. Aber sie hatten in ihren fünf Jahren ja so viel gewollt. Ein Haus, ein Baby. Bis er plötzlich mehr Freiraum brauchte - wie viel Freiraum war eigentlich noch nötig, wenn man sich sowieso nur am Wochenende sah? - und ihn dann schließlich im Bett einer Endzwanzigerin fand.

"Mistkerl!", spie sie dem Kissenbezug entgegen, um diese schmerzhafte Enge aus ihrer Brust zu vertreiben, die ihr den Atem zu nehmen drohte. Aus alter Gewohnheit hob sie die Hand, um sich durch ihr Haar zu streichen, zog sie aber im selben Moment wieder zurück, als hätte sie sich verbrannt. Trotzig wischte sie sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht und schniefte lautstark. Verdammt. Sie hatte sich in der ganzen Zeit seit der Trennung so gut gehalten. Keine Nervenzusammenbrüche, keine Panikattacken, kein hysterisches Geschrei, nicht ein böses Wort. Zumindest nicht öffentlich. Und wenn es noch so weh tat. Sie hatte sich vorgenommen, sich nicht kleinkriegen zu lassen. Und das würde sie auch durchziehen.

"Brust raus, tief durchatmen und kein Blick zurück", wiederholte sie einmal mehr ihr tägliches Mantra, um Kraft zu tanken. Doch bei dem Gedanken an ihren Anblick im Badezimmerspiegel am Morgen sank sie in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus ihr heraus gelassen. Shit. Warum hatte sie bloß auf ihre Freundin gehört?

"Vergiss diesen Penner", hatte sie gesagt. "Zeit, alte Zöpfe abzuschneiden. Geh zum Friseur und tu dir was Gutes, das hast du verdient. Danach fühlst du dich gleich besser."

Im Prinzip hatte sie Recht, das musste sie zugeben. Nach sechs Monaten war es wirklich an der Zeit, der Vergangenheit den Rücken zu kehren. Also hatte sie sich aufgerafft, war dem Rat ihrer Freundin gefolgt und zum Figaro um die Ecke geschlurft, um sich die Spitzen kürzen zu lassen. Sie hatte noch nie viel von wirklich einschneidenden Veränderungen gehalten. Wenn sie sich die Szene im 'Salon Gigi' vor Augen hielt, hätte sie sich noch nachträglich eine runterhauen können.

"Sehen Sie es als neuen Anfang", äffte sie in gekünsteltem Singsang die Stimme der Friseurin nach, während sie das Bügeleisen erneut auf den längst geglätteten Kissenbezug knallte. Diese blöde Kuh hatte ihr zu viel abgeschnitten, aber natürlich war sie viel zu perplex gewesen, um richtig zu reagieren und den Laden aufzumischen. Stattdessen hatte sie gezahlt und war gegangen, ohne der Tussi wenigstens die Meinung zu sagen. Das kam davon, wenn man so ein junges Ding an seine Haare ließ. Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht. Oder so ähnlich. Und nun hatte sie eine Kurzhaarfrisur mit dem Charme einer zerfledderten Klobürste.

Die Türklingel ließ sie erschrocken zusammenfahren. Wer konnte das denn sein? Die Zeugen Jehovas vielleicht. Besuch erwartete sie keinen, und sie wollte auch ganz sicher niemanden sehen. Oder - ob er es war? Wider alle Vernunft blitzte für einen Sekundenbruchteil eine verrückte Hoffnung in ihr auf. Das böse Ende mit der anderen und seine leidenschaftliche Versöhnung mit ihr selbst liefen wie ein Film in ihrem Kopf ab.

"Quatsch! Das kannst du vergessen", rief sie sich selbst zur Ordnung, konnte es sich aber trotzdem nicht verkneifen, zur Wohnungstür zu schleichen und vorsichtig einen Blick durch den Spion zu riskieren.

Er war es nicht, erkannte sie mit einem Stich in der Herzgegend. Groß, sportlich, Dreitagebart. Den Typ, der nun schon zum zweiten Mal läutete, kannte sie nicht.

'Ich hab keine Lust auf Vertretergespräche, und ich will auch nichts spenden. Am besten, ich tu so, als sei ich nicht zu Hause', dachte sie. Doch wie sie mit einem Blick zu ihrer Stereoanlage zugeben musste, war das gar nicht so einfach, wenn Lionel Richie auf voller Lautstärke 'Hello, is it me you're looking for?' sang. Diese CD war eindeutig ein Fehler. Mit einem Fluch zwischen den Zähnen drückte sie die Klinke herunter und öffnete genau in dem Moment, als es zum dritten Mal klingelte.

"Was?", raunzte sie dem jungen Mann entgegen, der vor ihrer Tür stand.

Ein überraschter Blick aus blauen Augen traf sie. Aus sehr blauen Augen, wie sie fast widerwillig registrierte. Unwillkürlich schnellte ihre Hand nach oben, um ihre Frisur zu glätten. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, als ihr im selben Moment klar wurde, dass so was wie eine Frisur auf ihrem Kopf momentan ganz sicher nicht zu finden war.

Der Blick des Unbekannten folgte ihrer Hand, senkte sich dann aber sofort wieder auf ihre Augenhöhe, als hätte er gemerkt, dass ihr ihr Aussehen peinlich war. Mit einer schnellen Bewegung, die ihrer gar nicht unähnlich war, griff auch er sich kurz durch seine leicht verstrubbelten Haare. Machte der Typ sich etwa lustig über sie? Sie atmete tief durch und machte sich bereit. Dann konnte er aber was erleben.

"Entschuldigung, ich wollte nicht stören", begann er mit einem freundlichen Lächeln, das eindeutig signalisierte: Tu mir nichts, ich komme in Frieden. "Aber es geht um einen kleinen Notfall, wissen Sie. Ich bin gerade bei der Arbeit, und damit mir da was Vernünftiges einfällt, brauche ich literweise Kaffee." Er grinste halb verlegen. "Aber der schmeckt mir nur mit viel Zucker - und der ist mir ausgegangen ... Hätten Sie vielleicht ein bisschen für mich übrig?"

Erst jetzt bemerkte sie, dass er ihr fast schüchtern ein Müslischälchen aus geblümtem Steingut entgegen hielt. Das Muster hatte bestimmt seine Freundin ausgesucht - oder seine Mami. Sie verbiss sich ein Grinsen.

'Wie bist du denn drauf?', hörte sie ihre innere Stimme im selben Moment. 'Der Typ hat dir doch gar nichts getan. Obendrein sieht er auch noch richtig nett aus. Selbst mit Strubbelhaaren.' Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen räusperte sie sich.

"Oh, Mann, wo hab ich bloß meinen Kopf", rief er lachend, als er sah, dass sie sich nicht rührte. "Das liegt nur an der komischen Frisur, die mir meine Schwester verpasst hat. Aber sie ist noch in der Ausbildung, wissen Sie, und da brauchte sie ein freiwilliges Versuchskaninchen. Ich hab mich noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Ihr neuer Nachbar." Er deutete mit dem Daumen lässig über die Schulter. Die Tür der Wohnung gegenüber war einen Spalt breit geöffnet.

"David Kellermann." Er streckte ihr seine freie Hand entgegen, die sie mehr aus Reflex ergriff, als wirklich zu begreifen, was gerade vor sich ging. Neuer Nachbar? Wann war das denn passiert? Da fiel ihr der Möbelwagen ein, den sie vergangene Woche auf dem Weg zur Arbeit nur im Vorbeigehen vor der Haustür flüchtig gesehen hatte. 'Wird wirklich Zeit, dass du wieder unter die Lebenden gehst, Herzchen', hörte sie wieder ihre innere Stimme. 'Nun beglotz ihn doch nicht auch noch so wie ein unterbelichtetes Mondkalb! Er muss ja denken, er sei neben einer Entsprungenen eingezogen.'

Mit einem versöhnlichen Lächeln wollte sie sich ihrem neuen Nachbarn vorstellen, als sie bemerkte, wie er plötzlich misstrauisch in der Luft schnupperte.

"Sagen Sie, riechen Sie das auch? Brennt da vielleicht irgendwas an?"

Erschrocken wirbelte sie auf dem Absatz herum, als hätte ihr jemand einen Kübel voll Eiswasser über den Kopf geschüttet. "Oh, Scheiße! Meine Wäsche!"

Mit einem Satz rannte sie ins Wohnzimmer und riss das Bügeleisen von dem Kissenbezug hoch, der noch immer geplättet auf dem Brett lag. Aber das Eisen hatte schon sein tiefbraunes Brandzeichen auf dem Stoff hinterlassen. Eine kleine Rauchwolke verbreitete einen strengen Geruch im ganzen Raum.

"Einfach großartig, das musste jetzt natürlich auch noch passieren", schimpfte sie vor sich hin und riss fluchend das Wohnzimmerfenster weit auf, um frische Luft herein zu lassen. Im selben Moment war vom Hausflur her ein lauter Knall zu hören. Ruckartig drehte sie sich um und sah, dass David ihr in die Wohnung gefolgt war und sich nun wie sie umwandte, um zu sehen, was das Geräusch verursacht hatte.

"Oh, Scheiße! Meine Tür!"

Verständnislos beobachtete sie, wie ihr neuer Nachbar lossprintete und verzweifelt am Griff seiner Wohnungstür rüttelte.

'Jetzt hast du ihn auch noch mit dem Durchzug, den du verursacht hast, bei ihm ausgesperrt.' Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn. 'Deine Glanzleistungen finden heute ja überhaupt kein Ende mehr.' Warum tat sich nicht einfach die Erde auf und verschluckte sie?

Mit hochrotem Kopf ging sie ihrem Nachbarn entgegen, der langsam in ihre Wohnung zurückkehrte. Verlegen räusperte sie sich, als sie sein frustrierter Blick traf.

"Möchten Sie vielleicht noch Ihren Zucker?", fragte sie kleinlaut und deutete unsicher auf das geblümte Schälchen, das er noch immer in der Hand hielt. "Ich hab auch Kandis im Haus."

Einen Augenblick lang sah er sie an, als überlegte er, wer von ihnen beiden nicht ganz bei Trost war. Doch dann warf er plötzlich seinen Kopf in den Nacken und fing lauthals an zu lachen. "Und ich hab noch gedacht, nachdem sich meine Freundin mit meinem besten Freund abgesetzt und mir mein liebes Schwesterherz zum Trost diesen Superschnitt verpasst hat, hätte ich für diesen Monat eigentlich genug Hauptgewinne gezogen."

Ohne zu wollen, begann sie zu kichern. "Sehen Sie es als neuen Anfang."

Wie vom Donner gerührt riss David seinen Kopf zurück und sah ihr mit tränenfeuchtem Blick entgeistert in die Augen. "Salon Gigi?"

Sie hielt den Atem an. "Was? Sie auch?"

Wieder warf David den Kopf in den Nacken und lachte noch lauter als zuvor. Er übertönte sogar ihre CD. Celine Dion ging mit ihrem Titanic-Song heillos unter. "Der Spruch ist von mir! Meine Schwester fühlt sich noch ein bisschen unsicher, was den Umgang mit der Schere angeht. Und da hab ich ihr geraten, wenn bei einem Kunden mal was nicht hundertprozentig hinhaut, soll sie diesen Spruch bringen. Frech kommt weiter, verstehen Sie?"

"Und ob", meinte sie bei der Erinnerung an ihr Erlebnis im 'Salon Gigi' knapp und fasste sich unwillkürlich ins Haar. Doch dann begegnete sie Davids Blick, der vor Vergnügen zu funkeln schien und brach ebenfalls in schallendes Gelächter aus.

"Könnte ich vielleicht mal bei Ihnen telefonieren?", fragte David nach einer Weile ein wenig atemlos und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. "Ich glaube, ein Schlüsseldienst könnte jetzt nicht schaden."

"Aber klar", rief sie und deutete auf das Telefon, das halb versteckt hinter dem Bügelbrett auf einem Beistelltisch stand. Dann machte sie sich auf in die Küche. So leichtfüßig wie schon seit Monaten nicht mehr.

"Ich koche uns in der Zwischenzeit einen Kaffee - mit viel Zucker, nicht wahr?", meinte sie mit einem Lächeln über die Schulter zu ihrem neuen Nachbarn, der bereits die Nummer der Auskunft gewählt hatte und nun darauf wartete, weiterverbunden zu werden.

David erwiderte ihr Lächeln und hielt für einen Moment ihren Blick fest. Dann nickte er. "Schicke Frisur."

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Ein haariges Lesevergnügen


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