Haarige Geschichten
Kurzgeschichte - Haar, Haare, Frisur, Friseur, Haarfarben, blond, Blondine, Rothaarige, Glatze, Haarausfall, Bart, Rasur, Zöpfe, Locken, Dauerwellen ...
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Geliebter Stufenschnitt

© Karl-Heinz Franzen

Warum gehst du immer wieder zu Pauline? Es ist doch immer wieder das gleiche Bild. Kurz geschnitten, Stufen drin. Länger gelassen, Stufen drin. Wie macht die denn das? Glotzt sie immer aus dem Fenster? Sabbelt und quasselt sie mit dir oder den anderen Kunden rum? Geht sie zwischendurch immer wieder ans Telefon? Kann sie sich keine Mitarbeiter leisten? Bei den Stundenlöhnen! Auch keine willigen Polinnen? Was hast du bloß an der? Kurze dicke Beine. Der Hintern so breit gemeißelt auf den beiden Jahrhunderteichen. Dann kommt auf den Hüften, ha, ha, ha, Hüften, direkt 'ne so dicke Rolle, dann der krumme Rücken, vom riesigen Wabbelbusen nach vorne gezogen. Die kurzen, fetten Arme mit den Wurstfingern, in denen Kamm und Schere spurlos verschwinden können. Zwei Zentner Lebendgewicht auf höchstens einen Meter und sechzig Zentimetern und immer Schweißränder auf der Bluse um die Achselhöhlen. Ich verstehe dich nicht. Wirklich nicht. Was soll ich dazu noch sagen?

Ja, eines. Ja, wahrhaft eines. Ihr Gesicht ist wirklich hübsch. Ihre dunklen, lockigen Haare umrahmen eine ebenmäßige, glatte Stirn. Ein entzückendes, gerades Näschen. Runde und volle Lippen über dem zarten und zugleich energischen Kinn. Doch, das muss ich wirklich sagen. Und diese Augen. Was wäre dieses so schöne Gesicht ohne diese grünen, leuchtenden, blitzenden, wissenden, lachenden Augen. Hineintauchen in diesen Amazonas der ungetrübten Freude. Wunderbar. Wie konnte unser Herrgott auf diesen prallen Körper einen so strahlenden Kopf setzen? Aber was soll das? Du gehst dort alle acht Wochen hin. Sogar zu festem Termin. Wo du doch sonst Termine bei Dienstleistern ablehnst. Entweder gleich dran oder gar nicht. Lässt dir für 35 Euro Stufen schneiden. Verrückt!

Ich habe Pauline gefragt. Sie ist wirklich gut gebucht. Jeder Kunde bekommt von ihr 30 Minuten. Genau 30 Minuten. Nicht mehr. Nicht weniger. Dann nimmt sie sich 10 Minuten Zeit zum Abwischen und Haarefegen, einige hastige Züge an der Zigarette im Hinteraufgang, dann der nächste Kunde auf den Stuhl. Und so weiter und so weiter. Pauline hat zwei Stühle in ihrem Salon stehen zum genüsslichen Warten bei Kaffee, Wasser oder Saft. Und natürlich den Stuhl, auf dem sie alle Haare verschneidet. Nur bei der glatten Rasur gelingen ihr keine Stufen. Dafür mal ein paar rote Schnitte. Wie sie die hinbekommt, ist auch mir ein Rätsel, obwohl ich es selbst gesehen habe. Nur Herren schneidet sie die Haare; und die Kopfhaut beim Rasieren. Oder flotte Frauen mit Herrenschnitt sind auch auf ihrem Stuhl zu sehen. Ihre Pünktlichkeit ist legendär. Absolut zuverlässig. Den Bus um 16.31h schaffe ich mit Zahlen und geschlossenen Augen. Wenn ich zu ihr gehe, dann lande ich mit Tempo so zwanzig Minuten vor meinem Termin auf ihrem Zuschauerrang. Es ist eine Augenweide, wie sich ihre quadratische Michelinfigur federleicht und tänzelnd um meinen Vorgänger herum bewegt. Die ewige bluesige Negermusik aus den Lautsprechern im Hintergrund beflügeln ihre Körpermassen wie bei den Muttis in Crocodile's Bar in Atlanta. Ihre fleißigen Hände schneiden im Takt der Musik. Und ihre Augen. Ihre Augen dringen über den Spiegel in sein und mein Herz und pflanzen einen Samen, der sofort aufspringt und berauscht und uns davonschweben lässt mit dem brummenden Geräusch der vor der Salontür abfahrenden Busse. Wie in einem Urlaubsjet weit weg in die Karibik. Als ich aufwache, hat sie mich schon mit ihren fleischigen Händen berührt und führt mich, noch immer mit einem Bein im Garten Eden, zu ihrem meinem Stuhl vor dem alles enthüllenden Spiegel.

Hast du bei Aldetto nachgesehen, ob sie die Auslage mit den Sonderartikeln schon aufgebaut haben? Hallo?! Hast du schon nachgesehen ...? Ich hatte dich doch gebeten! Der Laden liegt doch zweimal auf deinem Weg zu Pauline. Ja, zweimal. Auf dem Hinweg und auf dem Rückweg. Ich glaube, die hat dir für die 35 Euro nicht nur Stufen beschert, sondern auch den Verstand beschnitten. Muss ich alles selbst erledigen? Du warst doch genau in der Gegend. Was hat diese fette Kuh außer Augen und Gesicht? Was hat diese Matrone, dass du meine Bitte vergisst? Wenn ich von Udo komme, vergesse ich nie, bei Aldetto reinzuschauen.

Acht Wochen später.

Ich habe Pauline gefragt. Die 30 Minuten auf ihrem Friseurstuhl gehören wirklich nur mir. Nur ihr und mir, so sage ich es still zu mir. Zunächst war sie sehr erstaunt zu meiner Bitte. Sie hat gelächelt. Ein bisschen gequält, so schien es mir. Aber gelächelt. Ich habe sie zu ihrem "ja" angestrahlt und dann hat sie gelacht. Zum ersten Mal habe ich ihre Zähne gesehen. So weiß und ebenmäßig. Einer wie der andere. So lückenlos und in genau die richtige Größe abgestimmt zu ihren Kussmundlippen. Ach, ich könnte in dich hineintauchen. Du, meine Friseuse. Platz ist genügend in deiner Hülle und Fülle für uns beide.

Waschen und Luftschnitt bitte. 35 Minuten für mich, weil das Fegen wegfällt.

Beim Rauschen des Wasserhahnes im Kopfwaschbecken starte ich los und hebe mit dem Gedanken an die Kopfmassage langsam ab. Schwebe hoch in die Lüfte unter ihrem sanften wie festen Druck ihrer wurstigen Finger. Entschwebe leicht wie eine Feder und freudig erregt wie beim ersten Abschlussball unter warmen Wasser und Shampooduft. Bei der zweiten Spülung lande ich gleitend sachte im heißen Sand der Copacabana in Rio. Hebe wieder ab beim kräftigen Rubbeln mit dem weichen gewärmten Handtuch und düse mit den ersten Kammstrichen Richtung HulaHoop auf Hawaii. Kurzer Zwischenstopp nur und dann im freien Raum mit ihrem fleißigem Schnippeschnappe, Schnippeschnappe der Schere zu meinem Lieblingshafen, dem Hafen der Liebe.

Hhm, wie sie mich verwöhnt. Durch jede Wurzel durchströmt es mich den Körper hinunter über die Hüften und zurück. Dann bis zu den Zehenspitzen und zurück mit kleiner, kribbeliger, Pause zwischen Herz und Magen. Wenn sie es wüsste. Ich würde ihr jetzt und sofort alle meine Geheimnisse zu Füßen legen und um ihre Hand anhalten. Schnippeschnappe. Schnippeschnappe. Mit wohligen Wogen beherrscht sie meinen Körper über Schere und Kamm. Wenn ich meine Augen zur Sicherheit meiner Gefühle einen Spalt breit öffne, dann sehe ich dieses atemberaubende Gesicht mit diesen Dschungelaugen auf der grandiosen urbanen Körperfülle und begebe mich behütet und befreiend seufzend an meinen Lieblingsort zurück.

Sie spürt meine Schwerelosigkeit instinktiv und summt mir zum Finale mit ihrer rauchigen Stimme die letzten Takte von What to do with MEW ins Ohr und leitet mich über den etwas wackeligen Steg von Bord meines Hafens auf festen Grund zurück.

Ich schwebe aus ihrem Salon hinaus und schaue auf dem Weg nach Hause in die neue Auslage von Aldetto. Alle Artikel sind vorhanden und so aufgebaut wie in der jüngsten Sonderbeilage beschrieben.

Aller guten Dinge werden drei. Ich kaufe einen erdigen roten Bordeaux.

Endlich hast du mal den Friseur gewechselt. Das wurde aber auch Zeit. Wo warst du denn hin? Ein bisschen mehr hätten die schon zurückschneiden können. Doch, doch. Und etwas schärfer den Nacken ausrasieren. Aber gut sonst. Wirklich, drehe dich mal um. Da kannst du wieder hingehen. Danke für deinen mutigen Schritt. Warst du bei Aldetto?

Ich halte ihr den dunkelroten, den erdigen Bordeaux entgegen und lächle sie an. Und auf keinen Fall verrate ich ihr heute meinen neuen Friseur. Und auf keinen Fall verrate ich euch, wo wir den roten Franzosen getrunken haben.

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Ein haariges Lesevergnügen


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Abenteuer im Frisiersalon Abenteuer im Frisiersalon
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