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Rachels Haar© Anika KlüverAls Rachel zwölf Jahre alt war, hörten ihre Haare nicht mehr auf zu wachsen. Auf den ersten Blick mag das nicht besonders ungewöhnlich erscheinen, denn schließlich ist das Wachsen die einzige Aufgabe, die Haare haben. Doch bei Rachel war es anders. Ihre Haare wuchsen plötzlich sehr viel schneller als bei anderen Menschen. Rachel hatte den Unterschied sofort bemerkt. Eines Morgens war sie aufgewacht und hatte festgestellt, dass ihr langes, blondes Haar, das sie meistens in einem ordentlich geflochtenen Zopf trug und auf das sie sehr stolz war, gute zehn Zentimeter gewachsen war. Sie lief sofort hinunter in die Küche, um es ihrer Mutter zu erzählen, doch diese schien wenig beeindruckt. Sie murmelte etwas von Wachstumsschub und Pubertät und schob ihrer Tochter eine Schale mit Cornflakes entgegen, ohne von ihrer Zeitung aufzusehen. Seit Rachels Vater nicht mehr bei ihnen wohnte schien sie oft nicht bei der Sache zu sein. Als Rachel sich kurz darauf für die Schule anzog und sich ihren Zopf neu flechten wollte, sah sie, dass ihr Haar schon wieder ein ganzes Stück länger war. Es reichte ihr jetzt fast bis zu den Knöcheln. Nun wurde ihr die Sache doch ein wenig unheimlich, und sie lief wieder zu ihrer Mutter, die endlich anfing zumindest ein wenig verwundert zu wirken. Allerdings kam es für sie nicht in Frage, Rachel eine Entschuldigung für die Schule zu schreiben. Stattdessen griff sie hinter sich, öffnete eine der vielen Küchenschubladen und zog eine handliche Schere mit rosa Plastikgriff heraus. Dann nahm sie aus derselben Schublade ein Stück Kordel, band die Schere daran fest und hängte sie ihrer Tochter um den Hals. "So", sagte die zufrieden, "jetzt kannst du deine Haare jederzeit abschneiden, falls sie zu lang werden oder dir im Weg sind." Damit drehte sie sich um und fing an Pausenbrote für Rachel zu schmieren. Rachel war zwar nicht der Meinung, dass die Sache mit der Schere die Lösung für ihr Problem war, aber sie sah auch, dass sie mit ihrer Mutter im Moment wohl nicht darüber reden konnte, also beschloss sie, erst einmal abzuwarten.
Rachel hatte an diesem Tag nicht besonders viel Spaß in der Schule. Sie war eigentlich eine gute Schülerin und lernte immer gern etwas Neues, aber die neugierigen Blicke der anderen Kinder und der Lehrer machten sie ein wenig nervös. Ihre Banknachbarin Mary Cooper, die in der Schule sehr beliebt war, wollte wissen, warum sie eine Schere um den Hals trug. "Damit ich meine Haare schneiden kann, denn sie hören nicht mehr auf zu wachsen", erklärte Rachel. "Stimmt mit dir denn etwas nicht?" fragte Mary forsch. "Ich weiß nicht", antwortete Rachel unsicher. "Meine Mutter meint, es ist eine Pubertät." Daraufhin nahm Mary wortlos ihre Sachen, stand auf und setzte sich zwei Tische weiter weg neben Norma Dean, die verdutzt aufblickte, denn neben ihr wollte eigentlich nie jemand sitzen. Die Lehrerin sagte nichts, sondern runzelte nur die Stirn und schüttelte dann den Kopf. Rachel konnte sich an diesem Tag kaum konzentrieren, und die Unterrichtsstunden erschienen ihr unendlich lang. Immer wieder nahm sie zwischendurch die Schere und schnitt ihren Zopf ein Stück ab. Dann ließ sie das Stück so unauffällig wie möglich in ihre Schultasche fallen, in der sich gegen Mittag schon ein ganzer Haufen blonder Zopfstücke angesammelt hatte. In der letzten Stunde hatten sie Sport. Rachel war klar, dass die Lehrerin es ihr verbieten würde, die Schere dabei um den Hals zu tragen, also nahm sie sie ab und band ihre Haare zu einem festen Knoten auf ihrem Kopf zusammen. Während der Sportstunde musste sie den Knoten allerdings einige Male neu drehen und festziehen, weil das Ende jetzt zusehends weiter wuchs und sich immer wieder Strähnen lösten. Rachel war froh, als der Unterricht endlich vorbei war. Sie wollte nur noch nach Hause und eine dauerhafte Lösung für ihr Problem finden.
Ihre Mutter allerdings sah das Ganze nach wie vor als wenig dramatisch an. Erst als Rachel behauptete, dass ihr Kopf vom ständigen Wachsen der Haare wehtat, willigte ihre Mutter ein, mit ihr zum Arzt zu gehen. Dr. Scott, der Kinderarzt, wirkte ratlos. Er untersuchte Rachels Hals, hörte ihr Herz ab, testete ihre Reflexe, schüttelte den Kopf und schnitt ihr dann mit einer großen Schere ein Büschel Haare ab. "Leider kann ich Ihrer Tochter im Moment nicht helfen, Ms. Parks", sagte er schließlich zu Rachels Mutter. "Sie scheint völlig gesund zu sein, und es gibt keine Anzeichen, die den rapiden Haarwuchs erklären würden. Ich schicke diese Probe ins Labor, vielleicht hilft uns das weiter." Aber wie sich nach einigen Tagen herausstellte half es nicht weiter. Das Labor hatte nichts Ungewöhnliches feststellen können. Die Ärzte rieten Rachel und ihrer Mutter zuerst einmal abzuwarten. Solange Rachel keine körperlichen Beschwerden hatte war ihr Haarwuchs zwar lästig, aber nicht gefährlich. "Es sei denn, du stolperst über deinen eigenen Zopf und brichst dir ein Bein", witzelte Dr. Scott, als er die Nachricht überbrachte. Rachel konnte darüber nicht lachen. Aber da sie ein gut erzogenes Mädchen war, dankte sie dem Arzt höflich für seine Mühe und verließ mit ihrer Mutter die Praxis.
So vergingen die nächsten Wochen, und Rachel lernte mit ihrer Situation umzugehen. Natürlich wäre es ihr immer noch lieber gewesen, wenn ihr Haar irgendwann einfach aufgehört hätte zu wachsen, aber sie sah ein, dass sie nicht den Rest ihres Lebens damit verbringen konnte auf diesen Tag zu warten. Alles ging weiter. Die neugierigen Blicke in der Schule wurden mit der Zeit weniger, und obwohl sie sich nach wie vor nicht ganz wohl fühlte, konnte Rachel bald wieder genauso gut am Unterricht teilnehmen wie früher. Mary Cooper wollte allerdings nichts mehr mit ihr zu tun haben, und das schien auch die anderen Kinder von ihr fern zu halten. Hin und wieder hatte Rachel den Eindruck, dass Norma Dean zu ihr herübersah, aber jedes Mal, wenn Rachel den Blick erwidern wollte, wandte das andere Mädchen sich erschrocken ab und blickte verlegen auf ihre Bücher. In den Pausen stand Rachel allein auf den Schulhof, die Schere um ihren Hals ihr einziger ständiger Begleiter, und jeden Tag trug sie nach der Schule einen Beutel mit abgeschnittenen Zopfstücken nach Hause, wo ihre Mutter ihn wortlos zu den anderen stellte.
Und dann kam eines der Wochenenden, an dem Rachel ihren Vater besuchte. Er wohnte in einem modernen Hochhaus in der Stadt und musste viel arbeiten, aber hin und wieder hatte er Zeit für Rachel. Anders als ihre Mutter hatte er das Problem mit Rachels Haaren nicht so einfach hinnehmen wollen und hatte einen befreundeten Arzt zu Rate gezogen. Aber als dessen Antwort dieselbe war wie die der anderen Ärzte, gab Rachels Vater schließlich nach und akzeptierte, dass seine Tochter ein wenig anders war. Rachel war gern bei ihrem Vater, denn er dachte sich immer etwas Besonderes aus. An diesem Morgen war er schon früh losgegangen, um zum Frühstück die Donuts zu kaufen, die Rachel so liebte. Er war schon eine Weile weg und Rachel ging zum Fenster, um über die Stadt hinauszusehen, denn sie war schließlich nicht jeden Tag im dreiundfünfzigsten Stockwerk. Sie öffnete das Fenster und lächelte, als der kühle Wind an ihrem Zopf zerrte. Dann hörte sie wie jemand leise zu sprechen schien, aber der Wind ließ nur einzelne Wortfetzen an ihr Ohr. Vorsichtig beugte Rachel sich aus dem Fenster und sah hinunter in die Tiefe. Zuerst wurde ihr ganz schwindelig von dem Anblick, aber dann sah sie einen runden Kopf um dessen kahle Spitze ein wirrer Haarkranz flatterte. Auf dem schmalen Fenstersims direkt in dem Stockwerk unter ihr stand ein nervös aussehender Mann. Rachel war unsicher was sie tun sollte. Sie wollte den Mann nicht erschrecken, damit er nicht den Halt verlor, aber sie konnte auch nicht einfach wieder das Fenster schließen und auf ihren Vater mit dem Frühstück warten. Schließlich traf sie eine Entscheidung. "Entschuldigen Sie bitte, Sir", sagte sie so sanft wie möglich. Der Mann zuckte zusammen, erneuerte seinen Halt und sah dann nach oben. Er schien sehr verwirrt zu sein, als er Rachel sah. "Warum stehen Sie denn auf dem Fenstersims? Das ist doch sehr gefährlich." Etwas im Blick des Mannes veranlasste Rachel dazu, sehr ruhig zu sprechen. "Ich denke, Sie sollten besser wieder zurück in Ihre Wohnung gehen." Der Mann sah sie traurig an. "Das kann ich leider nicht. Ich habe das Fenster hinter mir zugemacht." Seine Stimme klang zittrig und Rachel überkam eine schreckliche Ahnung. "Wollen Sie etwa runter springen?" Der Mann schien kurz zu überlegen, sah dann aber offenbar ein, dass er sich in einer sehr eindeutigen Situation befand. "Nun ja, eigentlich schon. Das heißt dieses Mal habe ich zumindest dafür gesorgt, dass es kein Zurück gibt." Rachel wusste, dass sie versuchen musste, den Mann aufzuhalten, zumindest so lange bis ihr Vater zurück kam und ihr helfen konnte. Obwohl sie sehr nervös war, bemühte sie sich freundlich zu lächeln. "Wie heißen Sie eigentlich?" "R-Ronald, Ronald Tibbs", erwiderte der Mann verdattert. "Schön Sie kennenzulernen, Mr. Tibbs. Ich bin Rachel." Ronald Tibbs lächelte dünn und rückte etwas dichter an die Wand heran. "Du scheinst ein nettes Mädchen zu sein, Rachel. Deswegen solltest du jetzt besser vom Fenster weggehen und vergessen, dass du mich gesehen hast, denn ich bin ein Niemand." "Nein", sagte Rachel bestimmt und war selbst ein wenig überrascht von der Festigkeit in ihrer Stimme. "Ich werde nicht weggehen, und ich möchte auch nicht, dass Sie runter springen. Ich kenne Sie zwar noch nicht lange, aber ein Niemand können Sie nicht sein. Ich rede ja schließlich mit Ihnen, also müssen Sie zumindest ein Jemand sein." Ronald Tibbs schüttelte traurig den Kopf. "Kein Jemand von Bedeutung. Meine Frau hat mich verlassen, ich sitze seit 23 Jahren in dem gleichen grauen Büro, in dem mich niemand bemerkt, mein Chef nimmt mich nicht einmal wahr und mir gehen die Haare aus, so dass ich schon bald eine Glatze haben werde." Da musste Rachel plötzlich lachen. Sie kicherte wie nur zwölfjährige Mädchen es können und versuchte gar nicht erst es zu unterdrücken. Ronald Tibbs sah sie verwirrt an. "Siehst du, selbst du lachst über mich." "Aber nein, ich lache doch nicht über Sie", prustete Rachel. "Ich lache, weil es so verrückt ist, dass wir beide uns hier getroffen haben, denn wir sind gar nicht so verschieden." Jetzt wirkte Ronald Tibbs erst recht verwirrt. Rachel hörte auf zu lachen und holte tief Luft. "Mein Daddy und meine Mutter haben sich nicht mehr verstanden und seitdem leben sie nicht mehr zusammen. Das macht mich oft traurig, wissen Sie. Und in der Schule will niemand mehr etwas mit mir zu tun haben, seit meine Haare nicht mehr aufhören zu wachsen. Sehen Sie wie ähnlich wir uns sind, Mr. Tibbs? Jeder hat Probleme, aber ich denke, sie sind gar nicht mehr so schlimm, wenn man sie erst einmal ausgesprochen hat. Wenn ich Sie jetzt bitte, nicht zu springen, würden Sie mir den Gefallen dann tun?" Ronald Tibbs schluckte und nickte dann kaum merklich. "Allerdings habe ich dann ein neues Problem. Wie komme ich denn jetzt hier weg?" Rachel grinste nur und griff nach der Schere um ihren Hals. Ohne groß zu zögern schnitt sie ihren langen Zopf kurz unterhalb ihres Nackens ab und verknotete das Ende fest an den Heizungsrohren. Dann nahm sie das große Knäuel und hievte es aus dem Fenster, wo es sich an der Wand des Hochhauses entlang ausrollte. Ronald Tibbs konnte seinen Augen nicht trauen, doch er griff beherzt nach dem Zopf und hangelte sich schnaufend daran entlang, bis er endlich neben Rachel zum Fenster hinein plumpste. In diesem Moment kam Rachels Vater zur Tür herein. "Daddy, das ist Mr. Tibbs. Er wohnt ein Stockwerk unter dir. Kann er zum Frühstück bleiben?"
Rachel erzählte ihrem Vater die ganze Geschichte. Ronald Tibbs aß währenddessen fröhlich Donuts und nickte hin und wieder bestätigend. Plötzlich strich Rachels Vater seiner Tochter verwundert mit der Hand über den Kopf. "Rachel, dein Haar--- es ist nicht nachgewachsen." Ungläubig fühlte Rachel selbst nach. Tatsächlich, ihr Haar bedeckte gerade mal ihren Nacken, und das obwohl schon über eine Stunde vergangen war. Auch am nächsten Morgen hatte ihr Haar noch dieselbe Länge, und Rachel ließ ihre Schere an diesem Tag zu Hause. Es war ein ungewohntes Gefühl und sie ertappte sich ständig dabei wie sie nach ihrem Zopf greifen wollte, aber so wirklich vermisste sie ihn nicht. Stattdessen fühlte sie sich frei, und sie freute sich zum ersten Mal seit Monaten wieder auf die Schule. Dort schien allerdings niemand eine Veränderung zu bemerken. Eigentlich war Rachel sehr froh darüber, denn sie hatte in letzter Zeit mehr als genug Aufmerksamkeit gehabt. Dann kam in der Pause plötzlich Norma Dean auf sie zu. "Deine neue Frisur steht dir wirklich gut, Rachel", sagte sie schüchtern, und in der nächsten Unterrichtsstunde setzte sich Rachel neben Norma.
Als Rachel am Nachmittag nach Hause kam lag ein Päckchen auf dem Küchentisch. "Das hat ein Mr. Tibbs für dich abgegeben", rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. Rachel nahm das Päckchen, öffnete es vorsichtig und lächelte. Ronald Tibbs hatte ihr ein Buch geschickt. Die Geschichte von Rapunzel. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
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