Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.
Haare wie Erinnerung© Marie Anne HahnKarl kämpfte sich durch bis zu seinem Platz in der Mitte der Reihe. Es war ihm peinlich und er sah in den Gesichtern der Leute, dass ihnen die Störung nicht gefiel. Die meisten Besucher in diesem Kino waren viel jünger als er und hatten sich schon häuslich eingerichtet, die Süßigkeiten und Getränke bereitgestellt. So erhoben sie sich nur zögerlich von ihren Sitzen um ihn vorbei zu lassen. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, so im Mittelpunkt zu stehen, das war noch nie seine Art. Doch er hatte sich vorgenommen diesen Film zu sehen, was sollte er an diesem tristen Sonntag Ende November auch anderes machen. Hier gab es sie wenigstens: Die Stimmen um ihn herum, die sich miteinander unterhielten, oder auch mal zankten. Stimmen von größeren Kindern, Frauen, Männern. Alte und junge. Manchmal wünschte er sich, sie sprächen mit ihm. Das wäre mal eine Abwechslung für ihn und eine gute Gelegenheit zu testen, ob seine Stimme noch funktionierte. Doch er fühlte sich nur angesprochen, wenn er, wie vorhin, zu seinem Platz wollte; aber es waren banale Dinge, die sie sagten. Auf eine Antwort wartete bestimmt keiner, und auch er murmelte nur hin und wieder leise 'danke' oder 'Entschuldigung', je nachdem, wie seine Störung aufgefasst wurde. Seine Erscheinung blieb nicht im Gedächtnis haften. Er hatte sich daran gewöhnt und nahm es ihnen nicht übel. Was konnte er auch erwarten, er kannte hier niemanden. Auch sonst wüsste er noch nicht einmal wen er einladen könnte, ihn zu begleiten. Er war froh, als er endlich auf seinem Platz saß. Wie immer war er rechtzeitig gekommen, er hatte es gern, wenn er noch die Zeit hatte, sich umzusehen und zu beobachten. Es gab ihm das Gefühl, ein bisschen am Leben der Anderen teilzuhaben. Und dann sah er sie. Sie saß drei Reihen vor ihm, nicht direkt auf seiner Höhe, etwas rechts davon. Wie gebannt versuchte er einen Blick auf ihr Gesicht zu werfen, doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht. Sie war in ein Gespräch mit ihrem Begleiter vertieft, der rechts neben ihr saß. So sah er nur, was über die Rückenlehne ihres Sitzes hinausragte. Es waren ihre Haare, die ihn bannten: diese wunderbaren, dunkelroten, glänzenden Haare, die in sanften Wellen bis über die Schulter fielen. Wie elektrisiert starrte er auf diese wogende Pracht, kaum fähig zu atmen. An der Bewegung ihres Kopfes erkannte er wenn sie lachte, denn sie warf dabei ihre Locken zurück und reckte den Kopf ein wenig nach oben. Und wenn ein winziger Moment der Stille eintrat, hörte er sie sogar. Für ihn gab es in diesem Augenblick nichts anderes als diese leuchtende Aura vor ihm. Es war ein Déja vu von einer Intensität, das ihm das Gefühl gab, als würde sich Glut in seinem Körper ausbreiten. Dieser Moment war der Moment der Erinnerung. An eine glückliche und traurige Zeit. Vor fast einem halben Jahrhundert. Die schrecklichen Ereignisse von damals hatte er vor vielen, vielen Jahren sorgsam in den Tiefen seines Herzens verpackt und nie wieder angesehen. Und plötzlich stieg alles wie eine mächtige Welle in ihm empor - und schleuderte die geschnürten Päckchen hoch hinauf in seinen Kopf, es gab kein Ausweichen und schon gar kein Entrinnen. Er konnte nichts mehr dagegen tun - die Vergangenheit brach ihr Schweigen. In dieser Erinnerung sah er sie vor sich. Rita. So wie er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Auf dem Bahnsteig in Hamburg, kurz bevor sich sein Zug in Bewegung setzte, der ihn, zusammen mit unzähligen anderen Soldaten, nach Frankreich bringen sollte. Sie mussten Abschied nehmen. Rita und er wollten sich nicht voneinander lösen, klammerten sich hart aneinander, verzweifelt, nicht wissend, was kommen mag. Er hatte keine Wahl, er musste in diesen verdammten Zug einsteigen und sie dort allein zurücklassen. Ihr trauriges Gesicht mit den vom Weinen geröteten Augen war ihm zugewandt, als sich das prustende Ungeheuer in Bewegung setzte und ihn von ihr fortbrachte. Ritas von innerem Schmerz verzerrte Gesichtszüge waren umgeben von dieser geliebten, roten, schimmernden Lockenpracht, deren Bild in der Anonymität des Kinos wieder zum Leben erweckt wurde. Er sah sie, genau so wie damals, allein gelassen in der Menschenmenge, auf dem zugigen Bahnsteig stehend. Immer kleiner werdend, zuletzt ein winziger Punkt am Horizont. Seine eigene Eiszeit hatte dort begonnen. Er fragte sich jetzt, ob sie es geahnt hatten, Rita und er. Damals, als sie Abschied nehmen mussten. Das sie sich niemals mehr wiedersehen würden. Vielleicht hatten sie dieses dumpfe Gefühl in sich, jeder für sich alleine. Doch sie sprachen nicht darüber, was kommen könnte. Von dem Tag an, als sie erfuhren, dass er weg musste, entstand ein großes Schweigen zwischen ihnen. Es wurde weiterhin gescherzt und gelacht. Doch es waren andere, falsche Töne dabei. Die Art von Rücksichtnahme aufeinander, die liebende Menschen an den Rand des Erträglichen bringt. Indem sie ihre schrecklichen Ahnungen und Befürchtungen für sich behielten, errichteten sie eine Mauer. Ein Hindernis, das, je höher es wird, mit seinem Schatten die Strahlen der Liebe verdunkeln kann. Wohl wissend, dass der geliebte Mensch genauso leidet, hatte er in seinem Herzen das erste Päckchen der Taubheit geschnürt. Hätte er doch nur den Mut gehabt, diese Stille zu brechen und ihr gesagt, dass ihm die Angst vor der Trennung und vor dem Ungewissen die Kehle zuschnürte! Vielleicht hätte er mit den anschließenden Erlebnissen dann besser leben können. Diese unausgesprochenen Worte haben sein weiteres Leben geprägt, sie haben ihm diese schmerzenden Gefühle bereitet, unter deren Last er anfangs drohte zu zerbrechen. Er deckelte sie zu. Irgendwann hatte er sich daran gewöhnt sie zu fühlen. Und dann verloren. Jetzt waren sie zurück - mit aller Macht. Im Kino sitzend war ihm, als nähme er diesen unverwechselbaren, zarten Rosenduft, der Rita stets begleitete, wahr, und registrierte kaum, dass es dunkel war und der Film schon längst begonnen hatte. Er war mit seinen Gedanken und Gefühlen in die Zeit von damals zurückgekehrt und klammerte seinen Blick an die Frauengestalt drei Reihen vor ihm, die das alles ausgelöst hatte. Vielmehr ihr Haar, das genauso herrlich rot leuchtete wie das von Rita. Diese Reise zurück in seine Vergangenheit ließ sein Herz im Staccato-Rhythmus schlagen und er bemerkte, dass sein ganzer Körper zitterte. Schweiß stand auf seiner Stirn, er fühlte sich krank und ihm war elend zumute. Er trank ein paar hastige Züge aus seiner Wasserflasche, atmete mehrmals tief ein und aus um seinen Herzschlag zu normalisieren. Die Vibration in seinem Innern beruhigte sich nur langsam. Die Reflexion vergangener Tage hatte ihn buchstäblich überrollt. Es war sein ganz persönlicher Film, der dort in seinem Kopf ablief und nicht mehr zu stoppen war. Rita war 18, Karl 19 Jahre alt, als sie sich heftig ineinander verliebten. Steckten den Kopf in ihre wunderbare Liebe, lebten so gut es eben ging in dieser Zeit des Krieges und der Ungewissheit und liefen vor der Realität davon. Das war einfacher und viel wunderbarer als darüber nachdenken zu müssen, was der nächste Tag bringen mochte. Karl sagte oft: "Ich liebe dich bis hinter den Horizont, den Himmel hinauf bis zum Mond." Sah ihr dabei glücklich in die herrlichen grünen Augen, verwuschelte ihre wunderbare Lockenpracht und wusste genau, dass sie anschließend so tat, als wäre sie ihm böse deswegen. Es dauerte immer nur kurz bis sie ihn keck anblinzelte und erwiderte: "Und ich lieb dich bis hinter den Horizont, den Himmel hinauf bis zum Mond und zurück, Karl!" Gleichzeitig warf sie den Kopf zurück und lachte in den Himmel. Ihre Arme schwangen dabei hoch, als wolle sie Gott lobpreisen. Er nahm sie in die Arme und bedeckte ihre Augen, ihre Stirn und ihren Mund mit Küssen, um sie anschließend an sich zu drücken und sein Gesicht in ihre duftenden Haare zu schmiegen. Das alles sollte niemals aufhören. Sie schworen es sich gegenseitig, voller Bereitschaft und Tatendrang. Diese schwierige Kriegszeit wollten sie meistern. Wie alle jungen Menschen glaubten sie, alles werde gut, wenn man nur stark genug daran glauben würde. Zwei Jahre war er in Frankreich und durfte sein Vaterland verteidigen. Er überlebte, doch es war eine schreckliche Zeit, und als er nach Hause kam, beraubt vieler Illusionen, traf ihn die Nachricht wie ein Schlag: Rita ist tot. Sein lebenslustiger, geliebter Engel hatte einen Angriff kurz vor Ende des Krieges nicht überlebt. Sie war gestorben in den Trümmern ihres Hauses. Warum sie nicht in einem der Luftschutzkeller Schutz gesucht hatte wusste niemand und er sollte es nie mehr erfahren. Ein Briefwechsel zwischen ihnen war nur sporadisch möglich gewesen. Es funktionierte nichts mehr richtig in den schweren Zeiten; dass die Post ihr Ziel fand, war oft eine Ausnahme. Jeder der Briefe war ein Zeugnis ihrer beider Hoffnung auf eine gemeinsame und gute Zukunft, geschrieben mit den Worten der Liebe. Zwei Menschen, die sich nach einander sehnten und nicht aufgaben. Und die es auch weiterhin nicht wagten, sich zu öffnen. Das Gelübde der gegenseitigen Schonung brachen sie auch da nicht. Nach Ritas Todesnachricht war das Leben für ihn eine Qual. Er fühlte nicht mehr, konnte nicht begreifen. Gab der Trauer keinen Raum, wollte nicht wahrhaben, was geschehen war. Verlieh seiner Verzweiflung keinen Ausdruck, merkte, dass eine Schuld in ihm wuchs. Begrub sie mit allem möglichen - bis er es nicht mehr zu fühlen glaubte. "Kriegszeiten sind so, Karl", hatte seine Mutter einmal gesagt. "Wenn man nicht lernt zu akzeptieren, hat man verspielt." Und so war es geschehen. Er begriff, in diesem Kino sitzend, dass er sein Leben verspielt hatte. Diese schrecklichen Ereignisse hatten ein Loch in seine Seele gebrannt. Er hatte sich keine Chance gegeben, eine Narbe darüber wachsen zu lassen, um es zu verschließen. Seitdem fühlte er keine richtige Lebendigkeit mehr. Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und Resignation wurden seine Begleiter. Er baute sich ein anderes Leben auf, hatte auch zwei längere Beziehungen. Doch er konnte sich nie wieder auf diese Leichtigkeit einlassen, die Rita und ihn verbunden hatte. Die Erstarrung in seinem Inneren diktierte seine zukünftigen Handlungen. Und so lebte er meistens ein einsames Leben. Karl erwachte aus seinem tranceähnlichen Zustand und fand nur ganz allmählich in die Gegenwart zurück, blinzelte ins grelle Licht. Das Kino hatte sich schon halbwegs geleert. Auch die Frau drei Reihen vor ihm hatte sich erhoben, scherzte mit ihrem Begleiter und er konnte endlich einen Blick auf ihr Profil werfen. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeiten mit seiner toten Liebsten. Ihr Gesicht war schön, aber schmäler. Die blauen Augen standen viel weiter auseinander und ihr Minenspiel kam ihm völlig fremd vor. Für ihn wäre sie weiter nichts gewesen als einer der Menschen in der Menge, wenn sie ihm anderswo begegnet wäre und er sie von vorne gesehen hätte. Nur diese wunderschönen, lockigen, roten Haare brachten es fertig, dass er dem Gespenst in seinem Innern begegnen konnte. Diese zwei Stunden im Kino an einem Sonntag im November im Jahre 1992 öffneten Karls Kanäle für seine verschütteten Empfindungen. Die Begegnung mit einer Erscheinung aus der Vergangenheit gab ihm die Gelegenheit, das lange in ihm schlummernde Tier der Trostlosigkeit zu wecken. Er wusste nun, er sollte hinsehen. Gefühle und Gedanken mussten beleuchtet, gewendet und von allen Seiten betrachtet werden. Er würde nicht daran sterben, sondern Heilung erfahren. Hinsehen - das war seine Chance. Das Ende seiner Eiszeit war näher gerückt. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
|