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Verlockend© Christian BaumeltDie goldene Nachmittagssonne versuchte sich verzweifelt an den Dachzinnen festzuhalten, um der kleinen Straße noch ein wenig ihrer wohligen Wärme zu gönnen, bevor sie sich auf den Weg zur anderen Seite der Welt machen würde. Jeder, der es sich leisten konnte, versuchte einen der begehrten Plätze an der Sonne zu ergattern, um sich vielleicht das letzte Mal in diesem Jahr noch einmal bis auf die Seele durchscheinen und durchwärmen zu lassen. In den zwei kleinen Cafés summte eine süße Meloldie, gebildet aus den zahllosen Stimmen, die, in ihren Gesprächen unterschwellig, ein letztes Loblied auf den bereits vergangenen Sommer sang. Die wenigen Wolken, die den Himmel verzierten, wirkten wie ein achtlos hingeworfener Schleier und schienen sich gleichfalls genüsslich in den rot werdenden Strahlen zu aalen. Er mochte diese goldenen Tage des Herbstes, auch wenn sie in ihren frühen Abendminuten bereits die Melancholie des Winters mit sich trugen. Doch in diesen kostbaren Momenten im strahlenden Sonnenlicht schien der Winter ein weiteres, letztes Mail besiegt und die Hoffnung auf Wärme und Licht keimte noch einmal auf. Er spazierte durch die Gasse. Wie hatte sich das kleine Städtchen verändert. Kaum ein Geschäft, das er noch aus seiner Kindheit wieder erkannte. Nur die Bäckerei an der Straßenecke kam ihm vertraut vor, doch selbst damit war er sich nicht sicher. Die Zeit hatte den Faden seiner Erinnerungen langsam aber sicher zerschlissen und abreißen lassen. Ausgeblichen und verfärbt waren all die farbigen Kopffotos seiner Jugend. Er atmete die kühle und doch noch sonnigwarme Luft tief ein und schmeckte den Duft dieser Stadt, die so ganz anders roch als die Städte, in denen er in den letzten Jahren gelebt hatte. Warum war er nicht eher wiedergekommen? Warum war er so lange fort von diesem Ort, der so vertraut roch, sich so gut anfühlte? Nach zu Hause. Er sah sich um. Die Straße kam ihm wie verwandelt vor. Die alten Fassaden glänzten in herrlich neuen Farben, die Geschäfte boten in bunten und lebhaften Schaufenstern eine unglaubliche Vielzahl von Dingen an und die Gasse war inzwischen zu einer Fußgängerzone geworden. Er genoss es sichtlich, die Spuren seiner Jugend zu suchen, als wären die Kopfpflastersteine ein warmer Sand, in dem er seine Spuren hinterlassen hatte und denen der Wind, das Wasser und die Zeit nichts anhaben konnten. Fast sah er sich mit seinen Freunden einen Fußball vor sich herschießend durch die Gassen rennen. Sah sich sein erstes Tor schießen. Seinen letzten Pfennig für ein Rosinenbrötchen ausgeben. Spürte seinen ersten Kuss. Ein Lächeln flog über sein Gesicht. In dieser Gasse steckten mehr Erinnerungen als in seinem Kopf. Das Straßenpflaster, auch wenn es inzwischen ausgetauscht worden war, schien sein eigenes Gedächtnis zu besitzen und es hatte nichts vergessen. Nichts. Mit jedem Schritt flüsterte es ihm das Vergangene leise säuselnd in sein Ohr. Er ging weiter zu dem kleinen Platz am Ende der Gasse mit der Bank unter der Kastanie, die damals direkt gegenüber dem Süßwarenladen gestanden hatte. Die Kastanie gab es noch, und sie war inzwischen zu einem riesigen Baum herangewachsen. Sie beherrschte den Platz und beschützte durch eine sanfte Umarmung mit ihren Ästen. Beim Blick in das Schaufenster des ehemaligen Süßwarenladens musste er betrübt feststellen, dass dort nun ein Drogeriemarkt eröffnet hatte. In der Auslage standen Windeln und Waschmittel. Kein Vergleich zu den damaligen süßen Verführungen, wegen derer sich die Kinder die Nase an der Fensterscheibe platt gedrückt hatten. Etwas enttäuscht schaute er zu der kleinen Bank, auf der er oft mit seinen Freunden ihre gerade erworbenen zuckersüßen Kostbarkeiten vernascht hatte. Auf dieser Bank war es damals geschehen. Sie hatten gemeinsam auf den harten Holzbalken gesessen. Er hatte ihr einen seiner Sahnebonbons spendiert und sie hatte sich mit einem Kuss dafür bedankt. Sein allererster. Er war fassungslos gewesen, daran konnte er sich noch gut erinnern. Sie war so hübsch. Ihre goldenen Engelslocken waren stadtbekannt. Jeder Junge hatte versucht ihr Freund sein, doch sie hatte jeden abgelehnt. Aber er, er hatte einen Kuss von ihr erhalten. Es war ein Geschenk, das für keinen Preis der Welt zu erkaufen war. Er schloss die Augen und der Wind hauchte ihm noch einmal den leichten Kuss direkt auf seine spröden Lippen. Seine Hand wanderte tief in seinen Mantel und umfasste fest das kleine Samtkästchen, das inzwischen so abgegriffen war, dass man fast nur noch das Holz darunter spüren konnte. Das feste Holz, welches ihm nun im Taumel der Erinnerung etwas Halt gab. Es war seine letzte verbliebene Kindheitserinnerung. Ein Stück von ihr. Vermutlich hatte er sich deshalb niemals davon trennen können und war es ihm auch unvorstellbar gewesen ohne diesen kleinen Schatz in seine Heimat und damit in die Vergangenheit zurückzukehren.
Er öffnete seine Augen. Auf der Bank saß eine ältere Dame und ließ sich von den letzten Sonnenstrahlen verwöhnen. Er zögerte, doch dann ging er auf sie zu. "Darf ich?", fragte er vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken. "Aber sicher", sagte sie. "Es wäre viel zu egoistisch, einen so herrlichen Platz wie diesen nicht zu teilen." "Danke", sagte er und ließ sich langsam auf die harten Holzbalken nieder. Die Bank war inzwischen ebenfalls ersetzt worden. Das alte Holz von damals hätte ihn nun sicher nicht mehr getragen. Er schaute in die untergehende Sonne und konnte fast den Geschmack der Sahnebonbons seiner Kindheit auf der Zunge spüren. " Sie sind nicht von hier, oder?", fragte sie mit einer sanften und freundlichen Stimme. "Nein", log er, weil die Vergangenheit ihm zu weit entfernt schien. "Ich bin aus San Diego." "Aus Amerika?" Ihre Stimme wurde etwas höher und sie klang nun sehr interessiert. "Ja", sagte er nur. "Ach Amerika", seufzte sie. "Waren sie schon einmal dort?" "Nein, noch nie. Bin in meinem Leben fast nie aus dieser Stadt herausgekommen. Aber das macht mir nichts. Ich bereue es nicht. Ich mag diese Stadt. Ich habe hier alles was ich brauche und liebe. Na ja, fast alles", sagte sie am Schluss und die letzten Silben schienen von schmerzhaften Erinnerungen durchdrungen. "Ja, letztendlich ist es nirgends so schön wie zu Hause, oder?" "Da haben sie Recht. Aber zu Hause ist leider nicht da, wo dein Haus steht, sondern da wo dein Herz ist." "Ein weiser Satz", sagt er anerkennend. "Wo ist ihr zu Hause?" "Inzwischen ist es wieder hier, aber es war einmal in Amerika, auch wenn ich selbst noch nie dort gewesen bin." "Und wie konnte es dann zu ihrem zu Hause werden?" "Ich sagte doch, zu Hause ist da wo dein Herz ist. Und mein Herz habe ich jemandem mit auf die Reise nach Amerika gegeben." Er zögerte und drehte sich etwas zu ihr. Sie hatte die Augen geschlossen und das Gesicht lag unterhalb ihrer Nase bereits im Schatten der umliegenden Dächer, doch ihre Haare glühten im Abendrot. Die grauen, ja fast weißen Haare ringelten und lockten sich, als könnten sie das Sonnenlicht für einen Moment festhalten und in den dunklen Abend hinein retten. Ihre sanften Gesichtszüge zeigten deutlichen Falten, doch sie konnten die Offensichtlichkeit ihrer Schönheit verbergen. "Wo ist ihr zu Hause? Haben sie ihr Herz in San Diego gelassen?" "Nun", sagte er und musste sich räuspern, weil sich der Staub vergangener Zeiten auf seine Stimme gelegt hatte. "Wenn sie mich das vor drei Stunden am Flughafen gefragt hätten, dann hätte ich ziemlich sicher mit ja geantwortet, doch nun…" "Nun? … Nun haben sie ihr Herz verloren? In den letzten drei Stunden?" "Vielleicht ist verloren das falsche Wort. Vielleicht habe ich einen Teil wiederentdeckt, den ich vor langer langer Zeit verloren hatte." "Und wo ist ihr Herz jetzt?" "Wenn ich es recht vermute, dann trage ich es in diesem Moment einfach in meiner Jackentasche", sagte er und griff erneut fest nach dem kleinen Kästchen. Die Erinnerungen umhüllten ihn, wie die Schatten der Häuser, die inzwischen sein Gesicht bis zum Stirnansatz in Dunkelheit getaucht hatten. "Sind sie hier aufgewachsen?" fragte er, nachdem die Sonne gänzlich hinter den Häusern versunken war. "Ja. Genau hier." Ihre Hand zeigte einmal die kleine Gasse auf und ab. "Das hier war einmal quasi mein Wohnzimmer. Wann immer es ging, hielt ich mich hier auf. Es waren schwere Zeiten, aber auch glückliche. Es gibt Momente in der Kindheit, die kein Alter auslöschen kann." "Da haben sie recht", stimmt er ihr zu und nickte vor sich hinsinnend mit dem Kopf. "Dort drüben war einmal ein Süßwarenhändler. Der einzige in der Stadt und der Treffpunkt aller Kinder. Jeden sauer verdienten Pfennig trugen wir über diese Schwelle, um uns an dem herrlichen Duft in diesem Laden zu berauschen und unglaubliche Köstlichkeiten zu kaufen, die direkt aus dem Himmel zu kommen schienen." Er drehte sich noch weiter zu ihr und ihr ganzes Gesicht schien zu strahlen. Die Erinnerungen konnte er fast direkt aus ihrem Gesicht lesen, das nun zwanzig Jahre jünger erschien. "Vermutlich würde heute niemand mehr die harten und manchmal auch schon leicht ranzigen Bonbons essen, doch im Rückblick auf die alten Zeiten scheint es mir nichts zu geben, das diesen Hochgenuss überbieten könnte." "Meine Oma hatte mir damals erzählt, dass die Sahnebonbons kleine Wolkenstückchen sind, die erst auf der Erde hart werden. Ich habe bus heute keinen Grund daran zu zweifeln." "Sie waren damals hier? Sie kennen die Sahnebonbons von Herrn Radler?" Er nickte nur und spürte, wie sich die Wehmut wie ein Schatten über sein Herz legte. "Wann haben sie die Stadt verlassen?", fragte sie nun sichtlich erregt. "Vor fast genau 56 Jahren." "Sie waren im Sommer 51 noch in dieser Stadt?" "Hm-hm", machte er. Seine Stimme versagte. Ihre Stimme hingegen wurde immer heller und jugendlicher. Ein längst vergangenes Kinderlachen hallte in seinen Ohren. "Und sie sind damals nach Amerika aufgebrochen", flüsterte sie fast nur noch. Nun sah er sie an. Wie hatte er es übersehen können. Aber hatte er es wirklich übersehen oder wollte er das offensichtliche nicht sehen? Diese Haare könnte es auf der ganzen Welt nicht noch einmal geben und selbst ein halbes Jahrhundert konnte diesen Engelslocken nichts anhaben. Er griff in seine Jacke und zog das kleine Kästchen aus der Tasche, um es ihr zu geben. Sie hielt den Atem an, legte es ganz vorsichtig, als sei es aus dem brüchigen Papier der Erinnerungen geformt, auf ihre Handfläche. Er sah die Tränen in ihren Augen, als sie das Kästchen öffnete. "Es war mein Abschiedsgeschenk", sagte sie fast tonlos und schluchzend. "Sie hat etwas an Farbe verloren, genau wie du. Doch sie hat ihre Form behalten, als hättest du sie gerade erst abgeschnitten", sagte er und wusste, dass er nun zu Hause war. Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors. Ein haariges Lesevergnügen
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