Haarige Geschichten
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Um ein Haar

© Teresa Tinte

Es war ein Morgen wie jeder andere. Der Wecker gab seinen schaurigen Morgenruf von sich, ich stolperte wie immer über den Bettvorleger, Rembrandt bellte ein lautstarkes "Guten Morgen, Meister!", ich trottete schlaftrunken ins Bad und suchte mit mäßiger Erwartung nach meinem Spiegelbild. Wie gut, dass der Blick nach dem Aufstehen noch unscharf ist, so sieht man nur die allerschlimmsten Veränderungen. Da diese glücklicherweise nur selten vorkommen, huschte ich an dem gläsernen Ungeheuer schnell vorbei und warf einen flüchtigen Blick hinein. Eigentlich alles wie immer! Mit einem Fuß stand ich schon unter der Dusche, als sich meine Augen weiteten und mir bewusst wurde, dass heute doch etwas anders war. Mit nassem Fuß und plötzlich verflogener Müdigkeit sprang ich klaren Blickes vor den Spiegel: Die Nase war nicht kleiner geworden und der ulkige Huckel existierte noch immer; die Augen waren leicht gerötet, wie jeden Morgen nach dem Aufstehen - das Sandmännchen ist das fleißigste Wesen auf der Welt; die Zähne waren vollzählig und nach Vorschrift aufgestellt; die Ohren zeigten wie immer ihre Bereitschaft zum größten Lauschangriff aller Zeiten - es war alles beim Alten. Und doch war etwas anders.

Rembrandt knurrte auf dem Badezimmerteppich. Mein treuer Wegbegleiter erwartete sehnsuchtsvoll sein Frühstück und war es nicht gewohnt, sein Herrchen Grimassen schneidend vor eine Glasscheibe zu beobachten. Trotz seiner leidenschaftlichen Blicke ließ ich mich nicht erweichen, ich hatte Wichtigeres zu tun. Es vergingen wohl einige Minuten der eingehenden, jedoch ergebnislosen Betrachtung. Rembrandt war ungeduldig geworden und kam mit der Tageszeitung zwischen den Zähnen ins Bad und warf sie mir vor die Füße. Manchmal gibt es nichts Schlimmeres als einen gut erzogenen, gewissenhaften, hungrigen Vierbeiner!

Nach dieser eindringlichen Geste trabten wir - ich gedankenverloren, er vor Freude mit dem buschigen Schwanz wedelnd - in die Küche. Die Raubtierfütterung konnte beginnen. Rembrandts Freude war so groß, dass er in seinem Eifer das kleine Eckregal umriss. Auf dem Fußboden tummelten sich alte Rechungen, einige Suppennudeln, ein leeres Marmeladenglas, diverse Kugelschreiber, eine vergilbte Rätselzeitschrift und ein Souvenir an meine Großmutter: ihre alte LUPE. Ich konnte Rembrandt gar nicht böse sein und stürzte auf das Objekt meiner Begierde.

Mit dem gewaltigen Vergrößerungsglas in der Hand fand ich mich im Spiegel wieder. Das Unternehmen erforderte Systematik. Zunächst suchte mein Gesicht Quadrat für Quadrat ab. Da war nichts Auffälliges. Dann entschloss ich mich für die regionale Erschließung: Ich begann am Kinn, ging über zu den Ohren, kam schließlich zur Stirn - und fand wieder nichts. Frustriert stand ich da; ohne zu wissen warum, fühlte ich mich wie ein anderer Mensch. Verzweiflung machte sich breit, Hilflosigkeit, die Frage nach dem Sein. Plötzlich schrak ich auf aus meiner Melancholie: Da war es!

Rembrandt hatte sein Frühstück beendet und leistete mir schon seit einer Weile Gesellschaft. Er erschrak ebenso - wohl eher durch mein Zucken - und stimmte ein lautes Geheul an. Ich ließ mich nicht stören.

Es war ganz allein mitten auf meinem Kopf. Dem Spiegel ganz nah betrachtete ich es mit der Lupe, es gab keinen Zweifel und doch konnte es nicht möglich sein. Rembrandt schien genauso entrüstet wie ich. Ich neigte den Kopf nach hinten, nach vorn, zur Seite; ich betrachtete mich aus jeder erdenklichen Position. Rembrandt schaute belustigt und bellte freudig. Nein, es war tatsächlich da: ein Haar auf meiner glänzenden Glatze! Nun, es war nicht besonders lang und die Farbe nicht definierbar, es war nicht gelockt und stand nicht ab - aber es war meins, mein Haar, mein eigenes Haar! Ich konnte es nicht fassen: Mein Haar, das kam einem Weltwunder gleich.

Ich wurde schon mit einer Glatze geboren, glänzend und weiß. Sie war das Erbe meiner Vorväter, alle hatten sie, ausnahmslos. Ich hatte sie mein ganzes Leben. Fünfzig Jahre kein Geld für Friseure und Shampoos, Kämme und Bürsten, Badehauben und Staubsaugeraufsätze - und jetzt, über Nacht, war alles anders.

Wieder betrachtete ich mich im Spiegel, es war noch immer da. Ich streichelte es, streckte es, betastete es zwischen Daumen und Zeigefinger: mein Haar! Über Nacht war ich ein anderer Mensch geworden. Ich fühlte mich wie Rapunzel persönlich. Von Freude übermannt tanzten Rembrandt und ich durch die Wohnung. Vom Bad in den Flur, vom Flur ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer in die Küche. Dort nahm mein Freudentanz ein unheilvolles Ende, als ich auf den Suppennudeln ausrutschte. Ich fiel hin und stieß mir den Kopf am Küchentisch. Mit messbar weniger Elan machte ich mich wieder auf den Weg zum Spieglein an der Wand. Im Bad angekommen konnte ich in Originalzeit auf meiner Stirn eine riesige Beule wachsen sehen. Sie wuchs und wuchs und erreichte schließlich die Größe eines Hühnereis, aus dem einmal ein stattlicher Hahn hervorgehen würde. Trotzdem war meine Freude so unermesslich, dass sie selbst durch dieses unansehnliche Missgeschick, das auf meines Hauptes Stirn einen so gewaltigen Ausdruck fand, nicht getrübt werden konnte.

Als ich an diesem Tag zur Arbeit ging, hatte ich das Gefühl, dass ich die Blicke der Menschen auf der Straße auf mich zog. Alle sahen sie mich an. Ich meinte einen Hauch von Neid in ihren Gesichtern zu sehen. Und das erfüllte mich mit Stolz.

Schließlich beäugten sie alle dieses Wunder der Natur: mein HAAR!

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Ein haariges Lesevergnügen


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Abenteuer im Frisiersalon Abenteuer im Frisiersalon
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