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Den Tod vor Augen

© Christine Kühnel


Es klingelt. Wieso denn das? Es soll nicht klingeln, ich schlafe einfach weiter! Bis es noch einmal klingelt. Zuerst wird das kleine Kind in mir wach. Es reibt sich die Äuglein und quengelt. Es will nicht raus aus dem kuschlig warmen Bettchen, will liegen bleiben in der sanften Dämmerung. Nur noch drei winzig kleine Sekündchen ... Doch da ist es wieder, das schrille Geräusch direkt aus der Hölle und dabei ist es gerade mal ... Moment, ein Auge auf, ganz genau; nur eines ... mich trifft der Schlag, gerade mal halb elf am Vormittag! Das heißt ich bin vor gerade mal drei Stunden ins Bett gegangen. Nach dieser Berechnung wird mir das Ausmaß dieser hysterischen Klingelei erst so richtig bewusst. Jetzt ist Schluss mit lustig. Ich schwinge meine geballte Körperfülle dermaßen furios aus dem Bett, dass ich mit dem Möbelhaus-Lammfell, das als Vorleger dient, fast einen Abflug mache. Unterwegs greife ich mir einen Morgenmantel sowie Hausschuhe und stampfe zur Türe. Wer auch immer diese lebensmüde Gestalt ist, sie klingelt wahrhaft schon wieder. Rache!
"Möge dir doch die Fingerkuppe abfallen, mögest du von einem tödlichen Stromschlag dahingerafft werden", murmele ich heiser vor mich hin und schüttele drohend die Faust dazu. Bevor ich jedoch aufmache, drehe ich noch mal um und schmeiße den faulen Hund aus dem Bett. Ich meine damit nicht meinen Freund, sondern das kleine Säugetier mit vier Pfötchen, das bei uns lebt. Egal ob Mensch oder Tier, keiner schläft, wenn ich zum Wachen verdammt bin. So nun aber Tür auf, dem Ungetüm, das mir das antut in den Hintern getreten und wieder ab ins Bett. Ich drücke auf den Öffner, dass sich mein Daumen fast ins Hartplastik bohrt. Und da ist er, der Störer, der Wecker, der Feind! Ich höre seine Schritte unten auf dem Flur. Und da fällt mir auf einmal etwas ein, was mein Selbstbewusstsein erheblich mindert und damit auch meine Wut verpuffen lässt. Ich bin ungekämmt, ungewaschen mit verkrusteten Augen und verwilderten Haaren. Unter dem Morgenmantel schaut mein ausgeleiertes Nachthemd mit "Love me baby"-Aufdruck hervor und dazwischen und den Hauspantoffeln, die wie Tigertatzen aussehen, leuchten meine kalkweißen, stoppeligen Beine.
Ich bin definitiv nicht zurecht gemacht.
Dabei hatte ich mir doch geschworen, dass ich mich keinem lebendigen Wesen jemals so zeigen wollte, es sei denn, ich wäre tot oder ähnliches. Zu spät, unter der Tür hindurch erkennt man bereits einen Schatten. Ich atme tief durch, öffne sie gerade weit genug, um einen Blick nach draußen zu werfen und da steht es, ein Bürschlein - fein zurecht gemacht. Es hat engelsblonde, mit Gel durchtränkte Haare und ist adrett angezogen. Sieht irgendwie offiziell aus.
"Ja?" Ich spreche so würdevoll wie möglich durch den Türspalt.
"Guten Tag, mein Name ist Heiko von DEN RETTENDEN KAMERADEN", posaunt das Bürschlein und strahlt mich an.
Ich mag zwar so aussehen, aber ich habe keinen Rettungsdienst nötig. Daher habe ich auch keinen gerufen und dementsprechend verständnislos blicke ich es an, das feine Bürschlein. Es schaut zurück und sieht dabei so unschuldig wie ein Butterblümchen aus, bleibt jedoch stumm. Damit es endlich weiterredet, kann ich mich schließlich dazu überreden, die Tür noch um etwa weitere fünf Grad zu öffnen. Das Bürschlein mustert mich kurz und - ist da tatsächlich Hohn in seinen Augen?! Niemals, die rettenden Kameraden höhnen nicht, sie retten. Das zumindest behauptet jetzt das Bürschlein vor meiner Türe und während es sein Hohelied auf sich selbst und seine Kumpane singt, wird mir klar, es begehrt Einlass und unmittelbar damit zusammenhängend: Geld. Kohle. Asche. Penunzen. Moneten. Kreuzer.
Das schlechte Gewissen kriecht in mir hoch, solche Menschen braucht schließlich die Welt! Nur drei Stunden Schlaf und ein fleckiger Teint hemmen jedoch wohltätige Gefühle und ich beschließe meine Würde zu behalten. Der schemenhafte Anblick, der sich durch den Türspalt bietet, darf ihm niemals zur Gewissheit werden.
"Es tut mir sehr leid, aber ich glaube, das ist jetzt ein sehr ungünstiger Moment, wenn ich einen Vorschlag machen dürfte ..."
Seine Maske fällt! Obacht und wie! Und wie!!! Das Bürschlein verliert den zahmen Schein, der sein Gesicht umrandete. Die Stimme verliert an Zerbrechlichkeit, als es leicht genervt zu lamentieren anfängt, dass es an einem solch schönen Morgen sicher auch besseres zu tun hätte als von Tür zu Tür betteln zu gehen. Dabei betrachtet es mich bohrend und sein Blick sagt jetzt: Untermensch! Untermensch!! Doch ich bin kein Untermensch! Bin einfach nur Mensch! Habe Gefühle und neben Pflichten doch auch Rechte! Ich wehre mich, wehre mich, jawohl!!
"Aber Sie müssen doch Verständnis haben, dass ich Sie nicht hinein bitten kann, wenn ich Sie nicht in meinen Tagesablauf eingeplant habe, es passt mir wirklich überhaupt nicht." Ich beginne mein Sätzlein sehr zielstrebig mit fester Stimme, doch ich werde leise, beginne zu stammeln. Es liegt am Bürschlein, denn wie um mir die Show zu stehlen, fängt es an zartrosa anzulaufen. Zu einem obszönen, dunklen Rot kann es sich wohl selbst in einer solchen Krisensituation nicht hinreißen lassen. Mieses Bürschlein, knurre ich innerlich, da rafft es sein Ledertäschchen eng an den Oberkörper und zetert drauflos, dass mir die Ohren schlackern.
Ich würde sehen, wohin mich meine ignorante Haltung führen würde, ganz und gar respektlos sei ich ihm gegenüber, ihm und seiner rettenden Burschenschaft. Es käme der Tag, an dem ich auf ihn und seine Kameraden angewiesen sei, dann würde ich sehen, dass man stets das erntet was man sät.
Mir wird mulmig zu Mute. Kommen mich am Ende nur noch die vier apokalyptischen Reiter holen? Und selbst die erst nach mindestens sechs Anrufen? Dem Redeschwall des keifenden Jünglings ist derweil nur noch durch das sachte Verschließen der Tür Einhalt zu gebieten. Ich lehne von innen dagegen, lausche wie die einst frommen Füßchen über die Treppen davontrappeln und schließlich höre ich die Tür am Hauseingang ins Schloss fallen. Die Zeit war zu kurz, um mir ein unangenehm riechendes Geschenk im Briefkasten zu hinterlassen. Hoffe ich. Ich richte mich zitternd auf. Sogar der Hund scheint nun betrübt.
Das Bürschlein hat einen gewaltigen Eingriff in mein Leben vorgenommen. Wird meine Umwelt nur am schlechten Geruch erkennen, dass mit mir etwas nicht stimmt? Soll ich nur noch Rohkost verzehren, um diesen Tag hinauszuzögern? Soll ich mich mit Kissen polstern, bevor ich die Treppen hinabsteige? Keine naturbelassenen Produkte mehr und außerdem muss ich mich jetzt, in dieser unheilvollen Sekunde, von meinem Freund trennen, der wunderbar ist, aber er will regelmäßig mit mir schlafen und immer wenn wir das tun, droht uns am Ende einer von diesen lebensbedrohlichen Sexualunfällen. Wenn ich in die Dusche steige, so wird mir klar, ist das so lebensgefährlich wie in ein Flugzeug zu steigen. Die Überquerung einer Straße, der Gang zum Bäcker, den Müll rauszutragen kommt mir auf einmal vor wie eine Todesfalle, muss mich fortan nur noch schleichend fortbewegen und einen Sturzhelm tragen, um die Gefahr zu reduzieren. Mein Fahrrad werde ich verschenken, an Teufelskerle, die noch das Abenteuer, die Herausforderung suchen.
Die diabolische Fratze des Bürschleins erscheint mir auf einmal vor meinem inneren Auge - lacht da auch jemand gehässig? - und ich fange an zu wimmern, rutsche an der Wand herunter, schwöre weiter allem ab, was mich zum Pflegefall machen könnte, da -ein Schlüssel in der Tür. Mein Freund schaut ein wenig irritiert aus der Wäsche. Dann grinst er und blickt anzüglich auf mich herunter.
"Was machst du denn da unten? Schon wach? Ich wollte dich eigentlich im Bett überraschen ... I Love you Baby." Er beugt sich vor, zupft an meinem Nachthemd und küsst mich sanft auf die Nasenspitze, mich Höhlentroll.
Und siehe da, so schnell mich meine Stoppelbeinchen tragen, eile ich ins Bett.



Eingereicht am 06. Mai 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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