Rien ne va plus
© Christian Schröder
Es brummte, es quietschte, es krachte. Es war ein sonniger Freitagabend. Der alte Zug aus dem 19. Jahrhundert fuhr in den Hauptbahnhof von Berlin ein. Es war ein ausrangierter Personen-Dampfzug, mit dem gelegentlich Rundfahrten veranstaltet wurden. Doch heute war das anders, ganz zum Ärger von Oliver, der eigentlich möglichst schnell geschäftlich nach Berlin gewollt hatte. "Mensch, das darf nicht wahr sein!", hatte er deshalb die ganze Fahrzeit in sich hereingenuschelt. Doch was half das noch? Der eigentlich
geplante Zug war eben ausgefallen und da an dem entsprechenden Bahnhof keine andere Bahn außer der Museumsbahn gewesen war und es auch keine Aussicht auf einen weiteren Zug in den folgenden drei Stunden gegeben hatte, hatte er mit diesem Bummelzug und einer riesigen Touristengruppe an Bord von München nach Berlin gondeln müssen. Da war Oliver nun. Er war in Berlin, an seinem Ziel. Toll. Nun konnte er seinem Geschäft nachgehen. "Also los!", sagte sich der nun wieder einigermaßen Zufriedene. Er machte
sich also auf in eine Bank.
Nein, nicht in eine gewöhnliche Bank, sondern in eine Spielbank. Ein großes Gebäude mit einer abgerundeten Glasfront und einer riesigen Drehtür. Dort ging er zielstrebig in die Roulette-Ecke und stieg ins Spiel ein. Als Startkapital wählte Oliver 250 Jetons. Das Spiel ging los. Nach seinen ersten fünf Runden stand es für ihn recht gut, er war schon 20 Jetons im Plus gegenüber dem Start. Doch das genügte ihm noch ganz und gar nicht. Oliver war von diesem Spiel besessen, er musste einfach einmal pro Woche ins Casino,
diesmal war eben eine Spielbank in Berlin dran. Später, nach seiner 76. Runde, wurde er dann schließlich müde und ging ins Hotel, wo er für eine Nacht ein Zimmer gebucht hatte. Auf dem Zimmer angekommen, zählte der heute erfolgreich gewesene Spieler seinen Gewinn genau durch. Es waren immerhin 70 Euro. Nicht schlecht. Es war auch schon mal etwas im Minusbereich gewesen. Um genau zu sein, schon so oft, dass die Verluste die Gewinne der letzten zwei Jahre, die er sein er Roulette-Sucht erlegen war, bereits überstiegen.
Oliver erinnerte sich immer wieder an seine Anfänge als Spieler - mit Freuden. Damals hatte ihn ein Freund aus Spaß mit ins Casino genommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht einmal Roulette spielen können. Doch OIiver hatte es schnell gelernt und seine Begeisterung war ebenso schnell von 0 auf 100 gestiegen. Er hatte dann auch so viele Spiele gewonnen - bis zu jenem Tag vor etwa einem Jahr. Da hatte er zum erstenmal in seiner einjährigen Casino-Zeit, wie er sie gern genannt hatte, an einem Abend kein einziges
Spiel gewonnen und so einiges an Verlust gemacht, den er sich anfangs ja auch noch hatte leisten können.
Doch bald hatte er anfangen müssen, seine Besitztümer zu verkaufen, als Erstes die, die er sich von seinem Gewinn gekauft hatte: Heimkino, Motorrad, die wertvollen Ledermöbel aus seinem Wohnzimmer und so weiter. Das war so weitergegangen, bis von seinem Besitz fast nichts mehr übrig gewesen war, auch von dem, den er schon vor seiner Spielerkarriere gehabt hatte. Es war schlimm gewesen. Er hatte nicht aufhören können zu spielen. Daher hatte er immer mehr von seinen materiellen Dingen verspielt, in der Hoffnung,
doch noch wieder auf den Pfad des Glücks zu gelangen. Ja, dann hatte Oliver da gestanden. Ohne Besitz, bis auf seine nur noch schäbige Wohnung. Sie war früher richtig gepflegt und schön gewesen, hatte Oliver immer gefunden. Und nun war sie leer gewesen und die Putzfrau, die sonst oft dort gewesen war, hatte nicht mehr bezahlt werden können. Und er hatte es immer noch im Casino versucht. Seine letzten paar hundert Euro hatte er ins Roulette stecken wollen, wovon ihm glücklicherweise jemand abgeholfen hatte: sein
Notar. Nun ja, einfach der Notar, der sich darum gekümmert hatte, dass das hinterlassene Erbe eines verstorbenen, entfernten Verwandten Olivers an ihn überreicht würde. Es war ein kleines Haus gewesen, nicht viel wert, aber immerhin etwas. Das hatte Oliver als Ansporn genommen. Nun hatte er etwas Eigenes gehabt. Etwas, was er nicht hatte verspielen wollen, was ihm auch bis jetzt gelungen war. Es ist vielleicht schwer zu beschreiben, doch es war wie mit einem Haustier gewesen, für das er Verantwortung übernehmen
musste. Doch von seiner Spielsucht hatte ihn das Häuschen auch nicht befreit. Jedoch war er ab dann nur noch einmal pro Woche in ein Casino gefahren. Ansonsten hatte er sich um das Haus gekümmert. Sogar einen Job hatte er sich gesucht. Das hört sich alles sehr merkwürdig an, doch es hatte funktioniert. Er hatte begonnen, ein nahezu normales Leben zu führen, durch das Haus ausgelöst. Ja, Oliver war schon sehr eigenartig, obwohl so etwas doch irgendwie auch nachvollziehbar ist...
Doch nun wieder zur derzeitigen Situation. Wie schon gesagt: Es gab immer noch die Casinobesuche. Die wollte er eigentlich auch einstellen, doch das Verlangen war da, wenn auch nur einmal in der Woche. Nun, für heute hätte er genug nachgedacht, fand Oliver und legte sich ins Bett - im Jackett.
Am nächsten Morgen fuhr er wieder nach München zurück - diesmal mit einem richtigen Zug, wie er ihn nannte. Zu Hause angekommen, verbrachte er noch das restliche Wochenende mit zum Beispiel Gartenarbeit und Grillen, es war bei seiner Ankunft am Haus ja erst Samstagmorgen gewesen.
In den nächsten Wochen passierte eigentlich nichts Besonderes. Nur das, was auch in den letzten Wochen geschehen war: Oliver arbeitete in der Woche, fuhr am Freitagabend immer in eine andere Stadt, ging dort ins Casino und spielte, übernachtete in einem Hotel und verbrachte das restliche Wochenende zu Hause. Doch dann geschah etwas, an das er noch nie gedacht hatte: Es war ein einfacher Gedanke, den er hatte. Er wollte ihn festhalten, ihn genussvoll zu Ende denken. Es war traumhaft. Ihm kam die Idee, einfach
und ganz simpel abzuschalten. Einfach nicht mehr ins Casino zu gehen. Einfach mit allem Stressigen aufzuhören. Er wollte zwar seinen normalen Job eigentlich behalten, doch das war ihm dann doch schon wieder fast egal. Er fasste den Entschluss noch innerhalb der nächsten zehn Minuten: Er würde sich zurückziehen. Weit weg. Ja, das musste es sein. Er würde alles vergessen, was mit Geld, Job oder Stress zu tun hatte. "Das wird wunderbar...", versprach er sich selbst. Und dieses Versprechen schien er auch
zu halten, denn er ist mittlerweile schon ein Jahr fort. Wo? Was fragt man mich? Ich bin nur der Autor. Wann er wiederkommen wird? Keine Ahnung! Ich denke mir nur, dass er jetzt vielleicht an irgendeinem Strand sitzt und den Möwen, die über dem hellblau erscheinenden Meer kreisen, zuruft: "So ist das schön, so gefällt mir das! Rien ne va plus!"
Eingereicht am 17. Juni 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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