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Allerheiligen

© Enrico Andreas Brodbeck


Die Friedhofsanlage "Ruhe sanft" lag nur wenige Minuten vom Stadtkern des kleinen verträumten Städtchens entfernt. Aus der Vogelperspektive betrachtet, ähnelte sie der rechteckigen Ausdehnung einer Parkanlage. Zwei Hauptgänge, einer in Nord- Süd- und einer in Ost- und Westausrichtung, teilten den Friedhof in vier gleichgroße Felder, auf denen die Grabparzellen gleichmäßig mit kleinen Wegläufen angeordnet waren. Ein Rondell, das in der Mitte angelegt war, zierte eine vollwüchsige hundertjährige Eiche das Geschehen und vor ihr, in südlicher Richtung, stand ein großes Kreuz aus Stein, an dem das Leiden Christie in altehrwürdiger Kunst dargestellt war. An der Westflanke des Friedhofs säumte eine mannshohe Mauer die Grenze zum Stadtwald und die anderen Flanken waren durch hohe Hecken und einem Maschendrahtzaum begrenzt. An ihnen entlang verlief im Innern ein Gehweg, auf dem man den Friedhof umrunden konnte. Die Bewohner der Stadt liebten ihren Friedhof, und sahen in ihm nicht nur die letzte Ruhestätte, sondern auch ein Kleinod, das von ihnen gerne besucht wurde. Hier konnte man sich auf eine Bank setzen, die Ruhe genießen und abschalten, oder sich an den kunstvoll angelegten Grünanlagen und liebevoll gestalteten Gräbern erfreuen.
Oma Fiene war seit nunmehr drei Jahren ein steter Gast auf diesem Friedhof. Die Seele ihres lieben Ehemannes Gerd hatte sich von der aufgebrauchten Hülle vor Jahren für immer gelöst. Es war ein Tag vor Allerheiligen gewesen, als die Hinterbliebenen und viele Bekannte von Gerd Grüther ihm das Letzte Geleit gaben. Seit jenem Tag kommt Oma Fiene nun zum Grab, um nach dem Rechten zu sehen, und um in einem inneren Dialog zu ihrem Gerd zu sprechen.
In wenigen Tagen jährte sich der Todestag von Gerd Grüther, und für die besonders aufwendige Grabpflege galt es noch ein paar Besorgungen zu tätigen. In der Gemeinde sankt Sixtus wurde seit je her ein besonderer Brauch zelebriert. Vor der eigentlichen Messe, am Feiertag zu Allerheiligen, pilgerte Pastor Pottebaum mit seiner Gemeinde zum Friedhof und segnete die liebevoll gestalteten Gräber. Während der anschließenden Messe verlas er die Fürbitten für die kürzlich Verstorbenen auch jene Toten, deren Gräber ihm persönlich besonders gut gefallen haben und endete mit dem segensreichen Zuspruch: "Und mögen sie Ruhen in Frieden, Amen." Die Gemeinde wusste um die Vorlieben für kunstvoll angelegte Gartenanlagen ihres Pastors und verziehen ihm die kleine Schwäche.
Der Name Gerd Grüther wurde in den letzten Jahren immer als erster erwähnt, was Oma Fiene mit sichtlicher Genugtuung entgegen nahm. Sie saß immer andächtig unter der Kanzel und schaute demütig zum Pastor empor. Liebend gern wäre sie in diesen Momenten aufgestanden und hätte sich in Richtung des Vorstandes des Kleingärtner Vereins "Grüne Versuchung" demonstrativ verneigt. Vor Jahren hatte der Vorsitzende Hans Haberstein aus purer Boshaftigkeit, so die Meinung von Oma Fiene, ihren Gerd für nicht würdig erachtet, als dieser der Kleingärtnergemeinde beizutreten ersuchte. Dank ihrer aufopfernden Arbeit am Grab kam ihr Gerd doch noch zu Ehren, und das sogar mit dem außerordentlichen Segen vom Pastor.
Die "Minigang" Rudis Rasselbande, war eine Gruppe von Dreikäsehochs, die es faustdick hinter den Ohren hatte. Um als vollwertiges Mitglied aufgenommen zu werden, sollte Gerd Griesbach, ein Junge von sechs Jahren, eine allerletzte Prüfung bestehen. In der Nacht zu Allerheiligen, sollte er um Mitternacht mit abschreckender Verkleidung an das Grab eines frisch Verstorbenen treten, die Totenruhe der armen Seele stören und sie von ihrem Platz vertreiben. So lauteten die Statuten der gefürchteten Bande. Peter Plum, der Älteste und Anführer ging, wie die anderen Mitglieder auch, seit August schon zur Schule. Nur Gerd Griesbach noch nicht. Deshalb hatte sich Peter auch einen besonders hässlichen Plan ausgedacht, damit Gerd die Prüfung nicht bestehen würde.
Oma Fiene war eine sehr religiöse alte Dame die daran glaubte, dass um Mitternacht zu Allerheiligen die Toten aus dem Gräbern steigen um sich das Grab einmal im Jahr von oben anzuschauen. Als sie noch ein Kind war, wussten ihre Großeltern noch zu berichten, dass mancherorts auf dem Friedhof lautes und gruseliges Wehklagen von den Verstorbenen zu vernehmen war, weil sich die Hinterbliebenen mit der Grabpflege wenig oder gar keine Mühe gegeben hatten. Ihr Gerd, so war sich Oma Fiene sicher, hatte keinen Grund zur Klage und so hoffte sie auf dem Friedhof um Mitternacht noch einmal einen Blick auf ihn zu erhaschen. Schließlich wollte sie sich davon überzeugen, dass es ihm im Jenseits auch wirklich gut ging.
Der besagte Feiertag rückte näher, und Gerd Griesbach hatte die Order, sich um dreiviertel Elf auf dem Friedhof an der großen Eiche einzufinden. Seine Kameraden, die zum Teil Messdiener in der Pfarrgemeinde sankt Sixtus waren, wussten das ein neues Grab nahe der Friedhofsmauer lag. Dorthin sollte sich Gerd Griesbach gegen Mitternacht hin begeben. Nach der Meinung seiner Kameraden, sollte er mit einem frischen Toten keine Probleme haben, da dieser sich in Eigentumsfragen noch nicht so gut auskennen, und beim Anblick der gruseligen Verkleidung verwirrt das Weite suchen würde. Wenn das geschehen wäre, wovon sie sich von der Friedhofsmauer aus überzeugen wollten, würden sie ihn in ihrer Bande aufnehmen.
Oma Fiene machte sich gegen dreiundzwanziguhrdreißig auf den Weg zum Friedhof. Wegen eines Neuzugangs in der Nähe ihres Grabes, konnte sie den regulären Weg nicht benutzen und ging quer durch die Reihen der anderen Gräber.
Peter Plum hatte in der Woche ein paar Wasserschildkröten aus der Zoohandlung besorgt. Mit Klaus Kärseböhmer, seinem besten Freund, war er rechtzeitig über die Friedhofsmauer gestiegen und hatte die Wasserschildkröten, denen er zuvor Kerzen auf den Panzer befestigt hatte, an eine günstige Stelle nahe des neuen Grabes platziert, das in der Nähe von Gerd Grüthers Grab lag, und die Kerzen angezündet. Ein wenig später, fast zur gleichen Zeit, bewegten sich zwei unscheinbare Gestalten vorsichtig auf ein und dieselbe Stelle zu. Oma Fiene war die erste, der die seltsamen Bewegung von kleinen Lichtern nahe ihres Grabes auffiel. War das wohlmöglich die Seele ihres verstorbenen Gatten Gerd?
"Bist du das Gerd", flüsterte sie mit zittriger Stimme und blieb erst einmal stehen und harrte aus.
Es war noch nicht Mitternacht, denn die große Kirchturmglocke hatte vor ein paar Minuten drei Mal dumpf geschlagen. Gerd Griesbach, der sich als Zombie verkleidet hatte, befand sich zu diesem Zeitpunkt fast auf gleicher Höhe. Lediglich eine Reihe von Lebensbäumen versperrte den beiden die Sicht auf den anderen.
"Gerd, Gerd bist du das", fragte Oma Fine noch einmal mit festerer Stimme, nachdem sich die Lichter nahe ihres Grabes unregelmäßig in Bewegung gesetzten hatten.
Es war eine dunkle und seltsam ruhige Nacht. Die Friedhofsbeleuchtung war aus unerklärlichen Gründen plötzlich ausgegangen, und die Wolken hatten das Antlitz des Mondes verschleiert. Die wenigen Grablichter, die vereinzelt auf einigen Gräbern standen, gaben nur ein diffuses Licht an die Umgebung ab. Die Wasserschildkröten, denen der trockene Boden nicht behagte, waren bemüht eine Wasserstelle ausfindig zu machen, änderten die Richtung und krabbelten nun auf den verdutzten Gerd Griesbach zu, der vor lauter Verwirrung glaubte, just in diesem Moment seinen Namen vernommen zu haben.
"Ja, wer ist denn da", entfleuchte es seinem verkrampften Mund.
Oma Fiene, die endlich die ersehnte Antwort erhielt glaubte nicht nur an den Heiligen Geist, sondern auch an die Auferstehung in Person und frönte in höchster Ekstase:
"Gerdchen, ich bis doch, dein Fienchen!"
Den Kameraden von Gerd Griesbach wurde es an der Friedhofsmauer ein wenig unheimlich. Eine dichte Nebelbank zog hinter ihnen auf und wälzte sich wie von Geisterhand getrieben geschmeidig über die Friedhofsmauer. Ein kalter Schauer lief ihnen sprichwörtlich eiskalt den Rücken herunter. Doch bevor sie die Flucht ergriffen, hatte Klaus Kärseböhmer noch ein schauriges "HUHUHHH" in Richtung Friedhof gerufen, um den Angstfaktor bei Gerd Griesbach zu dieser schaurigen Zeit noch ein wenig zu erhöhen. Oma Fiene war immer noch in dem Glauben, dass ihr Gerd tatsächlich aus dem Grab gestiegen war um mit ihr in Kontakt zu treten.
"Huhuhhh", fragte sie ungläubig, "Gerdchen sprich deutlicher, was willst du mir damit sagen?"
Die Nerven von Gerd Griesbach waren unterdessen sehr angespannt. Stark verunsichert dachte er darüber nach, was er mit einem vermeintlich erwachten Toten machen sollte, zumal dieser recht lebendige Fragen stellte und zudem auch noch seinen Namen kannte.
"Wer bist du Toter denn, und wie heißt du", fragte er ganz zaghaft und stellte sich schon einmal in Position, um unter widrigen Umständen schnell das Weite zu suchen.
Die Kirchturmuhr setzte an und läutete zur Mitternacht. Mit dumpfen Tönen schalten die Glockenschläge schwerfällig von der Innenstadt herüber auf die Friedhofslandschaft. Einige Dohlen, die in der großen Eiche ihr Nachtquartier gefunden hatten, waren durch die nächtliche Aktivität ein wenig unruhig geworden und krächzten lauthals in die Nacht, und das kunstvolle Antlitz von Christus am steinernen Kreuz, blickte in die Richtung wo sich zu diesem Zeitpunkt sonderbares ereignete. Oma Fiene war ein wenig verwirrt, da sie schon die Lebenden schlecht verstand, aber noch weniger den vermeintlichen Toten. War diese seltsame Erscheinung wohlmöglich gar nicht ihr Gerd? Aber wer zum Teufel war es dann? - TEUFEL?
Hastig kramte sie in ihrer Tasche und holte eine Brille hervor, um ihrem angespannten Blick die notwendige Schärfe zu verleihen. Die Kameraden von Gerd Griesbach waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr anwesend, und der wallende Nebel hatte bereits die neue Grabstelle erreicht. Die Wasserschildkröten hatten sich am Boden neu formiert und krabbelten nun gleichmäßig im Kreis. Mit seichten Bewegungen blieb der Nebel unheilvoll über ihnen stehen und eine leichte Brise des Windes gestaltete ihn zu einer gruselig anmutenden Gestalt. Mit sehr viel Phantasie konnte man meinen, der Leibhaftige hätte dem Friedhof einen Besuch abgestattet und würde nun in voller Größe, und mit lodernden Füßen über dem Boden schweben. Den beiden menschlichen Gestalten, die in unmittelbarer Nähe standen, hatte die Phantasie längst eingeholt. Hätten ihre Stimmbänder in diesem Moment ihnen nicht den Dienst versagt, ein grauseliger Urschrei ungeahnten Ausmaßes hätte sich an der Friedhofsmauer reflektiert und wäre bis weit über die Stadtgrenze hinaus noch zu hören gewesen. Gerd Griesbach setzte seinen zuvor gefassten Plan in die Tat um, und machte sich angsterfüllt von dannen. Oma Fiene verhielt sich dank ihres Alters den Umständen entsprechend etwas gelassener. Sie ging davon aus, wenn dies tatsächlich der Teufel in menschlicher Gestalt wäre, dass dieser es im Ernstfall nur auf junges Gemüse abgesehen hätte und entfernte sich ruhigen Schrittes vom Ort des Geschehens. Sich selber gab Oma Fiene das heilige Versprechen dieser Unsitte, in der Nacht zu Allerheiligen ihrem Gerd einen Besuch abzustatten, für immer abzuschwören.
Vor der Frühmesse am besagten Feiertag war die Anzahl der Gläubigen sehr groß. Sie folgten dem Pastor, andächtig im Gebet vertieft, auf den Friedhof. Die Segnungen der Gräber folgte in alterwürdiger Weise mit Weihrauch und gesegnetem Wasser. Nur beim Grab von Gerd Grüther blieb der Pastor mit seiner Gemeinde etwas länger stehen. Verwundert nahm der Pastor die Grabgestaltung zur Kenntnis. Sechs erschöpfte Wasserschildkröten mit ausgebrannten Kerzen auf ihrem Panzer, waren um die Grabumrandung verteilt liegengeblieben. Welche Absicht Oma Fiene mit dieser Dekoration verfolgte, wollte der Pastor in diesem Moment nicht hinterfragen, segnete bereitwillig das Grab und auch die armen Geschöpfe.
Während der anschließenden Messe, verlas der Pastor den Namen von Gerd Grüther erst zuletzt, was Oma Fiene andächtig aber mit gesenktem Kopf vernahm. Und der Pastor schaute auf Oma Fine hernieder und fügte in frommer Weise hinzu: "Erbarme sich der Herr ihrer, und das ewige Licht leuchte, Amen!"


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Eingereicht am 03. November 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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