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Robert verlernt das Lesen

© Oliver Simon Bär


Aus Leidenschaft war er nicht Schriftsteller geworden, und auch mochte Robert den eigentlichen Akt des Schreibens nicht, mehr noch, er verabscheute ihn. Das Beobachten, die Selbstreflexion, der Umgang mit dieser so abgrundtief hässlichen deutschen Sprache, nein, zuwider war es ihm, und es verging kein Tag, an dem er nicht wünschte, einen anderen Beruf erlernt zu haben. Dabei trug sein Vater, ein emeritierter Romanistik-Professor, die Hauptschuld. Aufgewachsen in einer angesehenen jüdischen Familie, wurde Robert die Liebe zu den verstaubten, schweren Büchern der väterlichen Bibliothek ans Herz gelegt, und so lungerte er jeweils an sonnigen Nachmittagen in der düsteren Studierstube und las, derweil seine Schulkameraden Baumhütten bauten und Verstecken spielten.
Mit zwölf hatte er schon Schopenhauer und Nietzsche gelesen, kannte Kafka und Zweig, Tolstoi und Musil und einiges von Proust. Die zu lesenden Bücher durfte er aber nie selbst wählen, nein, der Vater legte ihm jeden Sonntag ein frisches Buch auf den Tisch, das er gefälligst zu studieren hatte. Allwöchentlich bestellte der Vater Robert ins Arbeitszimmer. Dort stand er jeweils, klein, mit gebückter Haltung und ängstlichem Blick vor dem massiven Arbeitstisch und wartete auf die väterliche Inquisition.
"Nun denn", richtete sich der Vater gegen seinen Sohn, "sag mir, bei welchem Buch zieht Nietzsche die markanteste Zäsur zwischen seiner philologischen Jugend und seiner philosophischen Reife?", würde er fragen und dabei die Brauen hochziehen, wodurch ihm die scharfen Falten der Stirn etwas aggressives ins Gesicht legten.
Robert dachte nach, während dem er mit dem linken Fuss in den dicken Teppich bohrte. Langsam den Kopf schüttelnd, drehte sich der Vater um, ihn mit einem kurzen Kommentar ermahnend, er möge noch einmal genauer nachlesen.
Als er die Matura mit herausragenden Noten bestand, schickte der Vater den jungen Robert nach Heidelberg, wo er Germanistik und Romanistik studieren sollte. Er wehrte sich nicht, kannte und konnte er doch nichts anderes. Sechs Jahre verbrachte Robert dort, und als er abschloss mit summa cum laude und Doktortitel, wurde er Schriftsteller.
Robert schrieb pointiert, exakt und nüchtern, mitunter elegant und mit einer technischen Raffinesse, die im deutschen Raum seinesgleichen suchte. Seine Argumente waren überraschend, die Schlussfolgerungen glasklar, der Aufbau kontrolliert. Und er hasste es, zu schreiben. Die Peitsche des Vaters hatte ihn in eine und nur eine einzige Richtung getrieben, er kannte nichts als die Literatur, das Spiel mit Gedanken und Worten. Tief in seinem Innern fühlte er etwas dumpfes, frustriertes, doch fand er keine Worte dafür. Wenngleich er jeden noch so komplexen Sachverhalt zu deuten und umschreiben gelernt hatte, an sich selbst, da scheiterte er. Und so kam es, dass Robert ein neues Buch publizierte.
Wovon es handelte, ist nicht von Belang, doch hoben es sämtliche Kritiker umgehend auf den Olymp der zeitlosen Bücher. "Ein Vermächtnis eines beispielhaften Denkers", "ein Meisterwerk zeitgenössischer Prosa", sogar "ein literarisches Ereignis von erstaunlicher Präzision" wurde das Buch betitelt, die Fachpresse überbot sich gegenseitig mit Lobreden aller Art, und folgerichtig wurde Robert für eine Lesung in seiner Heimatstadt, nämlich Zürich, eingeladen. Robert selbst hatte keine grosse Meinung von seinem Werk. Es war für ihn nicht mehr als eine geschickte Darlegung bereits bekannter Tatsachen, mit zwei Einflechtungen neuer Perspektiven.
Am Abend bevor er nach Zürich fuhr, erreichte ihn ein Anruf seiner Mutter. Vater sei gestorben. Robert reagierte verwirrt, er wusste nicht, wie er fühlen sollte. Selten hatte er seinen Vater besucht, und wenn er sich dazu überwinden konnte, dann nur mit Unbehagen. Nichtsdestotrotz trat er nach einer schlaflosen Nacht am nächsten Morgen seine Reise nach Zürich an. Seine Gedanken waren während der ganzen Fahrt bei seinem Vater, seiner Kindheit; er fühlte sich, als wäre ihm eine Trennwand zwischen Gefühl und Rationalität, zwischen Kopf und Bauch, weggerissen worden und seine so effiziente Vernunft wurde von einer gigantischen Welle ungekannter Emotionen geflutet.
Am Nachmittag erreichte er den für die Lesung vorbereiteten Saal im Schauspielhaus von Zürich, wo das Publikum bereits wartete. Man unterhielt sich über Roberts neues Buch. Ein Raunen ging durch die Menge, als Robert den Saal betrat und auf das Podium stieg.
Der Vorredner erhob sich; er beschrieb Roberts Werdegang, lobte seine bisherigen Werke, unterstrich seine Erfolge, schwärmte von der überwältigenden Resonanz seines neuesten Buches. Und übergab Robert das Wort. Robert schaute auf, spürte die gespannt horchende Menge. Er setzte seine Lesebrille auf, öffnete den Buchdeckel und sah... nichts. Respektive konnte er nichts lesen. Robert stutzte. Er versuchte, die einzelnen Buchstaben zu erfassen, zu erkennen, er blätterte durch das ganze Buch, tauschte sogar sein Exemplar mit dem des Vorredners, aber vergeblich. Robert konnte sein Buch nicht lesen.
Ein erregtes Flüstern erinnerte ihn an die gespannt wartende Masse von Menschen vor ihm, doch ruhte sein Blick suchend, fragend, auf dem von ihm verfassten Buch.
Und auf einmal verstand er. Ein überwältigendes Gefühl neu errungener Freiheit durchströmte ihn, still schaute er in die Menge, die bereits, teilweise fluchend, teilweise kopfschüttelnd, den Saal verliess. Der Vorredner rüttelte ihn an den Schultern, doch Robert war glücklich. Er stand auf, und mit einem kindlichen Lächeln verliess er das Rampenlicht.
Die Zeitungen versuchten am nächsten Tag, den Auftritt mit Worten wie "Nervenzusammenbruch" und "Künstler-Allüre" zu verarbeiten. Verstehen aber, tat es niemand. Von Robert hörte man nie wieder.


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Eingereicht am 04. Februar 2007.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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