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Eingereicht am
31. März 2007

Es war einmal ... oder: Als kein Holzwurm mehr da war

© Claudia Rinne

Der letzte Baum war gefällt. Das letzte Geld verspeist. Die Flüsse rochen nun nur noch dezent nach Schwefel. Und Fäulnis. Und alle hatten Hunger. Jemand, der an gar nichts mehr glaubte (das meiste Geld war auf Konten im bargeldlosen Zahlungsverkehr) ging in eine Kirche. Er wies Anzeichen von Verzweiflung und großem Appetit auf. Gern hätte er sich auf eine Bank gesetzt, um im Sitzen den schwer gewordenen Kopf in Richtung Brust fallen zu lassen. Er hatte vor, in dieser Position noch einmal tief durchzuatmen. Doch ließ sich seine Absicht nicht verwirklichen. Es gab keine Bänke mehr. So blieb er für eine Weile etwas versteift an der Eingangstür der Kirche stehen. "Guten Tag! Was kann ich für Sie tun?" fragte die Nonne, die als einzige Person in der Kirche übrig geblieben war. "Ich glaube nichts", sagte der Mann. "Ich wollte mich nur einmal hinsetzen, um etwas auszuruhen." "Mit dieser Absicht kamen schon viele. Leider wurden sämtliche Sitzbänke aus Holz verspeist. Allerdings hatten die Besucher vor Ihnen mehr Glück im Vergleich zu Ihnen. Jene kamen auch an nichts glaubend hier her und fanden etwas zu essen." "Ach, wie romantisch. Und, haben Sie die Mahlzeit gesegnet?" "Nur für jene Menschen, die mit reinen Absichten hier eintraten. Welche auch gleich sagten, worum es ihnen ging. Um deren Hunger." "Ist denn wirklich alles aufgegessen?" Wenn sie möchten, hängt im linken Seitenschiff noch ein Holzkreuz. Leider ohne Wurm darin. Insofern weniger Nahrhaft als es die Bänke waren." Der Mann bedankte sich, ging in das linke Saitenschiff und aß das Holzkreuz samt der Figur Christi darauf auf. Nach dem Vorgang der Essensaufnahme begab er sich in etwas entspannteren Gang zum Eingangstor. Er drehte sich noch einmal um und sagte: "Danke". Während sein langer Mantel ihm noch nachschwang, blieb er wieder stehen. Diesmal in verdutzter Form. Die Nonne kam nun vom Altar her einige Schritte auf ihn zu. Ihre Haube war wohl derweil verspeist worden. In Ihrem Gang wehte ein langes, eng tailliertes Kleid das einmal weiß gewesen sein musste. Ihr langes, brünettes Haar wehte dem Kleid hinterher. Sie sprach mit einem schelmischen, liebevollen Lachen in ihren smaragdgrünen Augen: "Na bitte, es geht doch. Wann haben sie sich zum letzten Mal für eine Mahlzeit bedankt? Und das mit ganzen Herzen?" "Ich gestehe: heute zum ersten Mal." "Und, war es denn so schlimm?" Nun ging er aus der Position es Türrahmens einige Schritte in Richtung des Altares. Sein langer schwarzer Mantel wippte lässig in seinem Schritt. Er hatte Schuhe an, die aus feinen Leder waren. Das war trotz des abnehmenden Tageslichtes deutlich zu erkennen. Seine blauen Augen hatten so ein rührseliges, schiefes Lächeln im Blick. Sein Mund war natürlich gerade, um ein verzagtes Lächeln bemüht. Das ehrlich war. Na ja, dann waren da noch ein abgetragenes Holzfällerhemd und eine Jeans. Eine Gestalt, in Ihrer engen Jeans von hinten durchaus eines Blickes würdig. (Sie hingegen war barfuss. Auch, weil noch Spät-Sommer war.) Er zog die rechte Augenbraue hoch und begann zu sprechen: "Ach wissen Sie, das Kreuz mit dem Leib Christus aufzuessen tat mir wirklich gut. Es war auch recht freundlich zu meinen Magen. Das heißt, ähm, er natürlich auch. Und ich muss zugeben, ich fühle mich etwas beschämt. Bin ich jetzt ein Sünder?" "Einer alten Lehre der Inquisition nach: selbstverständlich. Was heute hier und jetzt Jesus dazu sagen würde, das weiß ich leider nicht." "Sie meinen, weil ich ihn gerade verspeist habe?" "Vermutlich würde er dazu schweigen. Von daher gäbe es keine Anklage. Ergo auch keinen Freispruch. Und wenn sie ihm einen Gefallen erweisen wollen, dann verzichten sie einfach auf die Einreichung ihrer Anklage. Es ist davon auszugehen, dass er zurzeit sehr viel beschäftigt ist. Erlauben sie mir, in seinem Namen die Verfahrensaufnahme wegen dem Nichtigkeitsprinzip der Selbstanklage in unbegründeten Fällen abzulehnen? Sehen sie, Hunger ist keine Sünde. Und Liebe macht auch schon mal das Tor in der Not auf, ohne dass jemand anzuklopfen braucht." "Das ist ja fantastisch. Sie haben nicht zufällig noch eine Bibel da? Zum lesen?" "Ja, natürlich zum Lesen. Gerade jetzt, in diesen schwierigen Zeiten. Tut mir leid. Das letzte Exemplar ist leider nur zum Essen da. Die Gesangsbücher gingen so Mitte letzter Woche aus. Und insgesamt auch zwei Kronen. Die waren aber nur aus Keramik. Die Beiden hatte ich auch ansonsten nie zuvor hier gesehen." "Ach Gott, das ist aber auch alles recht bedauerlich." "Na ja", meinte dann die Nonne. Schüttelte kurz ihr langes Harr, strich es mit der linken Hand elegant durch und ließ einen tiefen Lufthauch aus. "Danke zu sagen haben sie heute gelernt. Und das ist sehr viel. Auch gerade angesichts der Situation, die hart ist und uns alle betrifft. Somit ist Ihr Danke mehr als nur ausreichend. Es ist weit mehr als das." "Tja, ich habe lange schon kein Buch mehr in den Händen gehalten. Na gut, ab und an Geschäftsbücher mit Zahlen über Zahlen. Und dann diese Diskussionen, wenn selbige in roter Schrift zu schreiben waren. Mein letztes verzweifeltes Stoßgebet galt allen Mitarbeitern der Etage. Ich wünschte, wir alle wären farbenblind geworden. Nur, um mal wieder einen ruhigen Tag zu haben. Bis der Schwindel auffliegen würde. Nun bedaure ich es zutiefst, all die Jahre zuvor muss ich wohl eine andere Art von Blindheit vertreten haben. Tja, wer nicht kommt zur rechten Zeit... findet dann hoffentlich noch den Lichtschalter als Letztes." "Nein, Sie waren nicht blind. Sie hatten lediglich genug zu essen. Das war alles, glauben Sie mir! Und selbst wenn sie jetzt das letzte Exemplar des Buches an einem sicheren Ort lesen würden..." "Wäre es zu spät?" "...so gäbe es nichts, was sie davon abhalten könnte, das Buch zu verspeisen." "Tjaha, ich glaube... dass sie den Punkt in des Pudels Kern getroffen haben. Sie schissen sehr scharf und recht präzise. Nun zu mir, und der Frage, was mir auch im allgemeinen an diesem armen Tropf hängend denn nun übrig bleibt. Vielleicht die Briefmarkensammlung meines Schwagers, die er einmal bei einem Familientreffen im Haus meiner Eltern vergessen hatte?" Beide waren froh, über diese fröhlich feinen Anspannungen in den Mundgrüpchen. Die Nonne schnallte mit ihrem rechten Daumen. Die Sonne zeigte erste Anzeichen eines trüben, rötlichen Szenarios ihres abendlichen Werdeganges. Nachdem ihr Fingerschnipsen wie von einer Kastagnette im Flamenco-Hall verschwand, räusperte sie sich. Als ob sie sich gerade ihre feine Nase geputzt hätte. Aber Taschentücher waren ja alle. "Wenn sie möchten, können sie morgen jedoch zum Essen vorbei kommen. Ich freue mich über ihre Gesellschaft. All die anderen sind schon längst gegangen. Wären sie mit 12h einverstanden?" "Ja, ich komme gerne. Ich glaube mich daran zu erinnern, dass meine Nachbarin auf der Flucht vor der Gewalt der Plünderer eine Mohrrübe im Garten hinter sich lassen musste. Sie hatte sie extra im Erdreich versteckt. Mal schauen, ob diese noch da ist. Mag sein, dass jene Rübe im Tumult der Plünderungen vom Pöbel übersehen worden ist. Wissen sie, ich hielt es für angebracht, mich angesichts der Gewalt des Szenarios aus dem Staub zu machen." "Schön. Das sie vorbeischauen möchten. Mit der Rübe, wäre prima wenn das noch klappen sollte. Sollte sie fort sein, gibt es eben nur eine kleine Bibel. Sie wird als Mahlzeit für den morgigen Tag für zwei Personen ausreichen." Sie gingen nun aufeinander zu, ganz vorsichtig, als wollten sie um Himmels Willen ihr Gegenüber keinesfalls erschrecken. Somit war der erste Schritt zögerlich, der zweite fester und das Händedrücken als vorgesehenes Abschiedsprocedere entspannt. "Ach wissen sie, ich hätte gerne mehr über ihre Sünden erfahren. Und sie haben so schöne, blaue Augen. Sie haben es gut, ihre Sünde vor Gott macht sie menschlich. Meine Sünde vor der Welt raubt mir fast den Atem. Verstehen Sie das?" "Ich gebe zu, nicht so recht zu wissen ob mein Herz noch vollständig schlägt. Was mussten sie mich auch so schelmisch anlächeln, mit ihren beiden Smaragden unter den Augenbrauen. Und alles nur, weil ich in diese wunderschöne romanische Kapelle eintrat. Fürchten Sie, dass es niemals genug zu spät ist, für so charmante und attraktive gottesfürchtige Frau wie sie es sind?" "Wofür zu spät? Etwa für eine Sünde? Oder zugleich dem Sündenbekenntnis einer einst katholischen Nonne?" "Kann es denn jemals früh genug sein, zusammen mit einen heidnischen evangelischen Blinden frei nach Lutter noch einen Apfelbaum zu pflanzen? Lutter sagte, dass wenn heute die Welt untergeht, dann hätte er gestern bereits einen Apfelbaum gepflanzt. Na ja, ich gebe zu, das ist nur sinngemäß wiedergegeben. Im Rezitieren war ich nie ein Held. Wäre das ein Angebot, auch wenn morgen alles vorbei ist?" "Nun, die Geschichte mit dem Apfelbaum wäre schon verzeihlich. Meinen sie, es lohnt sich eine Einladung betreffend der Einnahme des Essens auf das morgige Frühstück zu verschieben? Nun, dann wird es aber höchste Zeit als Eva guten Abend zu sagen." Ja, schönen guten Abend Eva. Ich heiße Albert. Und es freut mich sehr." "Nun denn, du hast mir verziehen. Das ich mich habe von der Magie deines langen wehenden Mantels im Abendrot habe verzaubern lassen. Wie könnte ich Nein sagen, falls du einen Menschen brauchst, der dich hinsichtlich der größten Sünde vor Gott und vor der Welt bewahrt?" "Du meinst diejenige, nicht geliebt zu haben? Ich denke, hier schon zumindest einen kleinen Schritt weiter gekommen zu sein. Na, dann hole ich noch einige Autoreifen, falls es kalt wird in der Nacht." Er war schon etwas müde geworden, rieb sich die Augen und unterdrückte ein Gähnen. Trotz der üblen Lage ringsherum hatte Eva Bedenken, einfach die letzten Ressourcen unnötig zu verheizen. Außerdem machte sich eine Feuerstelle aus Gummireifen nicht gut in der Kirche. Aus dem Radio kamen Warnungen, dieses Material nicht zum Heizen zu verwenden. Obgleich sich wenige daran hielten. Somit litten viele an schweren Atembeschwerden. "Besorge sie doch lieber als Brennmaterial für den Fall, dass wir Morgen frühstücken möchten. Was sich ja auch gegebenenfalls auf 12h verschieben lässt." Dann sind wir beide wohl... gemeinsam früh genug zu spät...dran. Ach, schauen wir doch zusammen nach Autoreifen. Und vielleicht hat ja jemand in seinem Auto gar ein Buch liegen lassen." "Allein zu gehen ist auch manchmal nicht so angenehm." "Ja, die Plünderer kennen kein Erbarmen. Meinst du, die Briefmarkensammlung im Haus deiner Eltern lässt sich auftreiben?" "Ach, ich glaube die Mohrrübe aus dem Garten der Nachbarin ist ein lohnenderes Ziel. Es ist auch recht sicher, dorthin zu gehen. Der Plündererpöbel dürfte schon auf neuen Wegen sein." "Aber wir können doch mal schauen, ob wir nicht mit den Briefmarken Memory spielen können."

Ja, so war das als in diesen Horrorzeiten ein jeder zum Geisterbahnfahrer wurde. Und natürlich freuten sich Eva und Albert über diese poetische und sinnliche Begegnung. Das das erste Problem darin bestand, welchen Weg sie gehen sollten kannten sie schon von früher. Insofern machte ihnen ihre Zweisamkeit nicht so viel aus. Der halbe Mond war nun die einzige Lichtquelle. Auszumachen war die Silhouette der romanischen Kapelle, und zwei Schatten. Sie bewegten sich wie geisterhaft in den ansteigenden Dunst des Flusses, dessen Ufer ein Teil ihres Weges ausmachte. Die Mondlichtlampe flackerte durch zerrußte Wolkengebilde, bis sie auszugehen schien. Dieses Schauspiel änderte sich am nächsten Abend nicht. Es bleibt offen, ob jene zu besorgenden Utensilien noch frei verfügbar waren. Und wenn ja, welche zuerst besorgt wurde. Nur ein kleiner Apfelbaum stand jetzt auf dem Kirchenvorplatz. Aber das war den meisten, die daran vorbei gingen egal. Oder es fiel ihnen nicht auf.

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