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Eingereicht am
07. Juni 2007

Das geheime Laster des Mustergatten

© K. Gesell

Neulich einmal fühlte ich mich am Abend ganz schlapp. Leichte Kopfschmerzen machten mich zusätzlich gereizt, und um meinem hart arbeitenden Mann nicht auf die Nerven zu gehen und um ihm die wohlverdienten Stunden der Ruhe nicht zu verderben, beschloss ich, zeitig ins Bett gehen. "Gute Nacht, Schatz!", "Schlaf gut, Liebling!", Küsschen links und Küsschen rechts, und er blieb mit einem Glas Weizenbier allein vor dem Fernseher sitzen.

Mein Mann ist das Traumbild von einem Ehegatten, und man kann ihn im Familienkreis sowie vor Besuch gar nicht genug loben. Er ist intelligent, hat das wohlgefällige Aussehen eines Sportsmanns und die notwendige Menge von Haaren auf der Brust, um draußen auf der Straße die Blicke neugieriger Frauen auf sich zu ziehen. Er hilft gern im Haushalt. Einkaufen und Abwaschen sind sein Hobby. Er raucht nicht, ist kein Trinker, und obwohl schon im mittleren Alter, hat er immer noch keinen Bierbauch. Letzteres ist mein heimlicher Stolz, denn dies hat Seltenheitswert unter den deutschen Männern. V., die teuere Freundin in der fernen Heimat, die mich seit langem um mein häusliches Glück beneidet, hat häufig versucht, bei meinem Gatten ein verborgenes Laster zu entdecken. Bis zum heutigen Tag ist sie jedoch erfolglos in ihren Bemühungen geblieben. "Du hast einen echten Schatz zu Hause, meine Liebe", sagen mir alle, und ich bin damit vollkommen einverstanden.

So verließ ich denn an diesem Abend meinen Schatz beruhigt und widmete mich dem Erhalt des eigenen Wohlbefindens. Nach fünfzehn gemeinsamen Ehejahren wusste ich mit Sicherheit, dass von ihm keine schockierenden Taten zu befürchten waren. Er würde sein gutes Bier trinken, dazu ein paar Käse- oder Wursthäppchen essen, würde sich die Tagesthemen ansehen, vielleicht ein wenig lesen oder in einer Zeitschrift blättern und dann - ins Bett gehen. Alles ganz normal also. Und da ich kein Freund vom Pillenschlucken bin, machte ich mir einen duftenden Johanniskrauttee, der angeblich die Nerven beruhigt und brachte ihn mir ans Bett. Eine leichte Lektüre sollte zusätzlich helfen, mich allmählich ins Reich der Träume zu befördern. Dieses vertraute Rezept hatte bislang immer funktioniert. Nur an diesem Abend gerade nicht. Ich las eine Geschichte nach der anderen, trank fünf Tassen von dem beruhigenden Tee und wurde zunehmend munter. Ein winzig kleines Männchen mit dünnen Beinchen zappelte in meinem Hirn, kratzte und zupfte dort herum und ließ mich nicht müde werden. Gegen 23.00 Uhr hatte sich die Unruhe schon dermaßen gesteigert, dass ich es im Bett nicht mehr aushielt. Kurz entschlossen schlüpfte ich in die Pantoffeln, zog mir den leichten Morgenmantel über und machte vorsichtig die Zwischentür zum Wohnzimmer auf. "Na, wenn der Tee nicht hilft, versuche ich es eben mit einem Glas Wein in der Gesellschaft meines Schatzes", dachte ich.

Der Schatz saß wie erwartet in seinem Sessel mit dem Rücken zu mir und las etwas. "Liebling, ich kann absolut nicht einschlafen", flötete ich und wollte um Erlaubnis bitten, mich zu ihm setzen zu dürfen. Da blickte er erschrocken auf, sein Gesicht lief in Sekundenschnelle rot an, er klappte schnell eine dicke Zeitung zu und warf sie auf einen flachen Gegenstand auf dem niedrigen Couchtisch. Dabei fiel das leere Bierglas herunter, und auf dem hellen Teppich bildete sich ein kleiner unregelmäßiger dunkler Fleck.

"Aber was ist denn", stotterte ich überrascht "störe ich dich etwa?" Der Katalog eines Erotik-Shops mit Probiermustern auf der letzten Seite - das hatte mein Mann soeben studiert - rutschte langsam von der Tischkante herunter und fiel mit leichtem Klatschen auf den Bierfleck. Eine große, fast leere Pralinenschachtel lag nun da und sprach Bände. Ich wurde ganz konfus, spürte das Gesicht blass werden, und ein leichtes Kribbeln in den Fingern kündigte bereits für den nächsten Augenblick eine drohende Ohnmacht an. Mein sportlicher, tüchtiger und überhaupt mustergültiger Ehegatte, Liebling seiner Schwiegermutter und Augenfreude vieler Frauen, aß Schokolade! In Mengen!!! Vor meinem geistigen Auge erschien ein schweres, zuckerkrankes männliches Wesen mit schlappen runden Wangen, schlechten Zähnen und fauligen Mundgeruch. Sein Bauch quoll schwabbelnd über der Hose hervor, am Hemd fehlten unten zwei Knöpfe. Der Mensch schmatzte mit schokoladenverklebten Lippen und streckte die Hand aus, um mich streicheln. Ein Albtraum!

Doch plötzlich musste ich laut und ganz weit gähnen. Der Schock zeigte eine unerwartete Wirkung, und ich wurde schlagartig schläfrig. Die Müdigkeit senkte sich endlich mit einer Gewalt über mich, der ich mich nicht zu widersetzen vermochte. Mit weichen Knien drehte ich mich um, überließ meinen Mann den Folgen seines schwachen Charakters und ging langsam ins Schlafzimmer zurück, um dort den Bedürfnissen der Natur Folge zu leisten.

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