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Eingereicht am
01. Juni 2011

Der Big-Brother-Geist

© Agnes Jäggi

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Agnes Jäggi: Der fremde Tote

Agnes Jäggi
Der fremde Tote

Dr. Ronald Henss Verlag
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Ich bin Veronika und habe mich vor ungefähr vierzig Jahren freiwillig ins Jenseits befördert. Liebeskummer hatte ich gehabt. Der Mann, der mich wollte, den durfte ich nicht heiraten, weil meine Eltern dagegen waren. Und der Mann, den ich heiraten sollte, den wollte ich nicht. Er war einige Jährchen älter als ich, ein fürchterlicher Langweiler und Besserwisser. Nun, ich fand die Idee damals außerordentlich romantisch, mich mit Gift umzubringen. Ich stellte mir vor, wie ich in elfenhafter Blässe, inmitten von wilden Rosen aufgefunden würde. Wie meine Eltern mich weinend um Verzeihung bittend, ihre Sturheit verfluchend, neben mir knieten. Wie der Mann, der nicht der meine sein wollte, vor Kummer tot über mich sank und so weiter und so fort. In Wirklichkeit war die ganze Sache aber eine riesige Enttäuschung, und eklig dazu. Mir wurde von dem Rattengift erst einmal speiübel. Ich musste kotzen, bekam Bauchkrämpfe und als ich mich endlich aus meinem Körper herausgekämpft hatte, lag dieser alles andere als malerisch auf den vollgekotzten Rosen und mein Gesicht wirkte weder vornehm blass noch lieblich. Was da unter mir lag war eine grässlich verkrümmte dickliche Gestalt mit einer verzerrten Fratze.

Nun ja, ich muss zugeben, ich habe damals etwas voreilig gehandelt. Schon meine Mutter hat immer gesagt, ich würde in gewissen Situationen überreagieren, hätte mich rasch einmal nicht mehr unter Kontrolle. Dies war so eine Situation gewesen, allerdings eine, die leider nicht mehr umkehrbar war. Wenigstens heulten meine Eltern, obwohl wahrscheinlich eher aus Schreck und Ekel vor meinem Anblick, genau wie mein Liebster, der bald nach meinem Hinscheiden seine Jugendfreundin ehelichte und zwei putzige Kinder zeugte. Meine romantische Tat endete als Desaster und anstatt in das vielgepriesene Paradies einzutreten, wurde ich vom Obergeist dahingehend informiert, dass ich bis auf Widerruf am Orte meines Dahinscheidens als Wiesengeist zu fungieren hätte.

Vor allem in den ersten Jahren war das eine langweilige Sache. Ich beobachtete die Pärchen, die sich dann und wann auf die kleine Wiese schlichen, lauschte verächtlich den schmalzigen Liebeserklärungen, die sie sich in die Ohren flüsterten und nahm neidisch Anteil an den Zärtlichkeiten, die sie dabei austauschten. Oft kam ich mir wie die letzte Idiotin vor. Es ist doch so: Wir alle sterben einmal, warum also konnte ich denn nicht einfach abwarten und das Leben bis dahin genießen? Nach einer gewissen Zeit gelang es mir, mich von meinem Selbstmitleid zu befreien und stürzte mich in die Arbeit. In regelmäßigen Abständen überbrachte mir ein geschwätziger Briefboten-Geist eine Liste mit Aufträgen, die ich zu erfüllen hatte. In der Regel sollte ich junge Mädchen davor bewahren, ungewollt schwanger zu werden oder allzu stürmische oder brutale Liebhaber zu vertreiben.

Der Briefboten-Geist blieb meist noch auf ein ausgedehntes Schwätzchen und ich lauschte begierig seinen Schilderungen über das Weltgeschehen, die neuesten Geister-Skandale und was mich besonders interessierte, die Erlebnisse meiner Berufsgenoss(inn)en, also der anderen Wiesengespenster. Hin und wieder, so erzählte mir der joviale Briefbote, fanden Treffen der einzelnen Geistergattungen statt und etwa alle fünf Jahre trafen sich sämtliche Gespenster zu einem riesigen Fest und zum Gedankenaustausch im Himmel, dem gewaltigsten Gasthaus des Universums. Wenigstens etwas, auf das ich mich freuen konnte. Manchmal sehnte ich mich nämlich schon nach etwas Gesellschaft. Andererseits hatte ich aber auch Spaß in meinem Job und viele dazu erforderliche Hilfsmittel. Zauberei zum Beispiel. Wie neulich, als sich ein fünfzehnjähriges Mädchen und sein verheirateter Liebhaber auf die Wiese schlichen. Da verwandelte ich mich kurzerhand in die Mutter des Mädchens und zauberte auch die Gattin des Ehebrechers herbei. Als sich die zwei in innigster Umarmung am Boden wälzten, nahmen wir "Frauen" die beiden Turteltauben in die Mangel. Das Mädchen erschrak beinahe zu Tode, als es über die Schulter ihres Freundes hinweg direkt in mein, respektive in das Gesicht seiner Mutter blickte. Rasch verwandelte sich ihr Schrecken jedoch in Trotz. "Ich habe Toni lieb. Wir bleiben zusammen, ob es dir passt oder nicht." Darauf brauchte ich gar nichts zu erwidern, denn Toni rollte blitzschnell von dem Mädchen herunter, sprang auf die Füße und stand direkt vor seiner erbosten Gattin: "Dieses kleine Luder", stammelte der feige Hund, "sie hat mich, ich meine … ich bin halt auch nur ein Mann ..." Das Mädchen begann zu weinen, beschimpfte ihn noch ein bisschen und rannte nach Hause. Dem Ehebrecher aber wurden die Knie weich, als sich seine Gattin plötzlich in Luft auflöste und er sich allein auf der Wiese wiederfand. Für mich war die Welt in Ordnung. Ich hatte Unheil verhindern können und dabei noch Spaß gehabt.

Wieder waren einige Jährchen ins Land gezogen, und ich rüstete mich für die Reise zur Milchstraße, um am Treffen der Wiesen-Gespenster teilzunehmen. Angesagt waren Gedankenaustausch und verschiedene Plauschwettbewerbe, Ferien also. Das Hotel war eine Wucht mit jedem nur erdenklichen Luxus. Es gab reichlich zu Essen und zu Trinken, obwohl wir Geister eigentlich weder Nahrung noch Flüssigkeit brauchen. Trotzdem war es schön, sich für kurze Zeit wieder wie ein Mensch zu fühlen. Mit dem Gedankenaustauschen war es allerdings nicht weit her, denn die Gespenster wollten für einige Zeit einfach nur ihren Spaß haben. So kehrte ich also nach dem Urlaub bestens gelaunt auf meine Wiese zurück und freute mich auf das nächste Treffen.

Aber was war das? Vor meiner Wiese stand ein merkwürdiges langgezogenes Häuschen. Und Scheinwerfer tauchten die ganze Umgebung in ein grelles Licht. Außerdem herrschte ein unbeschreiblicher Lärm. Lauter kreischende Menschen standen vor dem Haus hinter metallenen Absperrungen. In regelmäßigen Abständen fuhren große schwarze Limousinen vor, denen weitere Männer und Frauen entstiegen, die alle je einen großen Koffer mit sich trugen. Die Meute hinter den Absperrungen jubelte den Ankömmlingen begeistert zu, worauf diese zurückwinkten und ins Haus eintraten.

Während des ganzen Trubels saß ich auf der Abschrankung und verfolgte begierig das ganze Geschehen. "BigBrother!", kreischten die Menschen hinter mir, "hallo BigBrother". Aha, hier wurde also ein großer Bruder erwartet. Wahrscheinlich eine hohe Persönlichkeit aus der Politik, vielleicht auch ein amerikanischer Filmstar, so in der Art von Cary Grant oder Rock Hudson. Im Laufe des Abends erfuhr ich dann allerdings, dass es sich beim BigBrother um ein neuartiges Fernsehprojekt handelte, bei dem zehn junge Frauen und Männer für eine geraume Zeit zusammenleben mussten und das Haus, vor dem eine Wiese - meine Wiese stand - nicht verlassen durften. Das ganze nannte sich BigBrother, das Haus in dem die Leute wohnten, der BigBrother-Container. Nun, das war so ähnlich wie bei mir. Ich durfte die Wiese auch für mindestens zweihundert Jahre nicht verlassen, außer für die seltenen Gespenster-Treffen. Da ich aus eigener Erfahrung wusste, wie langweilig so ein Leben auf Dauer sein konnte, beschloss ich, den jungen Leuten dann und wann einen Besuch abzustatten und ihnen beratend zur Seite zu stehen. Vielleicht lag ja auch hin und wieder ein bisschen Schabernack drin. Ich durfte die Scherze nur nicht übertreiben. Das ganze konnte noch richtig aufregend werden. Vorerst erholte ich mich aber auf meiner Wiese von den Strapazen meiner Heimreise. Gespenstertreffen sind ja ganz lustig, aber ich war den Trubel nicht mehr gewohnt und ganz schön geschafft. Langsam ebbte auch der Lärm auf dem Gelände ab, die Nacht brach herein, die Leute und die Kameras zogen ab. Nach einer Weile langweilte ich mich. Vor allem aber war ich neugierig auf die "Container-Geister" wie ich sie scherzhaft nannte. Natürlich waren es keine Geister, sie konnten auch nicht zaubern, doch wie gesagt, sie waren an dieses Haus gebunden, so wie ich.

Sie saßen um den großen Tisch im geräumigen Wohnzimmer und plauderten. Dazu knabberten sie Salzgebäck und tranken Wein. Ich spürte hinter ihrem aufgekratzten Getue Spannung und Unsicherheit, ahnte dass die ständige Anwesenheit der vielen Kameras ihnen Angst machte. Ein riesiger roter Kühlschrank stand mitten im Raum. Schnell schlüpfte ich hinein, um die vielen guten Dinge darin zu begutachten. Sie müssen nämlich wissen, dass ich zu Lebzeiten ein ausgesprochener Vielfraß war. Anschließend machte ich einen Rundgang durch die beiden Schlafzimmer, legte mich zum Spaß in eines der Kajütenbetten und döste ein wenig.

Erst dachte ich, ich träume, denn ich begegnete Danielas beiden Kindern, war sehr traurig, aber auch aufgeregt. Ich überlegte, wie das wohl wäre, wenn ich als Erste in zwei Wochen den Container verlassen müsste, dabei wollte ich doch so gerne gewinnen, vor allem eben für meine Kleinen. Einen Moment mal, durchfuhr es mich plötzlich, ich hatte doch gar keine Kinder, auch keinen Ehemann, geschweige denn einen Ex-Ehemann. Erschrocken schwebte ich gegen die Decke - und war wieder ich selber. Ich war versehentlich im Bett der Containerfrau Daniela eingeschlafen, und als diese sich hinlegte, verschmolz ich mit ihren Gedanken. Wäre eigentlich gar nicht so übel gewesen. Ihre Identität annehmen, dafür sorgen, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen und dann frei sein. Ach, Träume sind Schäume. Ich denke nicht, dass der große Geist mich so einfach hätte ziehen lassen. Aber wollte ich das denn noch, jetzt nach all der Zeit? Ich sinnierte noch eine Weile über das Leben, die Welt und das Geisttum nach, als ich die Kamera hinter der Wand entdeckte. Jetzt war mir nach Schabernack. Ich schwebte hinter die Wand und gelangte in einen Raum, wo ein Mann zwei kleine Bildschirme überwachte. Beim Näherkommen erkannte ich die beiden Schlafzimmer, in dem die Bewohner schlummerten, schön getrennt nach Weiblein und Männlein. Eine Weile überlegte ich, dann nahm ich die Gestalt der süßen, sanften Janine mit dem langen blonden Haar an. Mit einem verführerischen Negligé angetan, näherte ich mich dem gelangweilten Kameramann, hauchte einen Kuss auf seine Wangen und streichelte ihm übers schüttere Haar. Er zuckte herum, und seine Augen weiteten sich vor Schreck. Es war als hätte er ein Gespenst vor sich, was ja genau genommen auch der Fall war. Er kniff die Augen zusammen, rieb mit den Fingern dagegen, öffnete sie - und sah noch immer die blonde Schönheit auf seinem Pult sitzen. Fieberhaft drückte er einige Knöpfe an seiner Tastatur, starrte auf den Bildschirm, sah Janine im Bett liegen, blickte wieder zu mir, wieder zurück auf den Bildschirm, rieb sich wieder die Augen. Ich amüsierte mich köstlich, obwohl ich wusste, dass diese Spielerei mir Ärger einbringen konnte. Wir Gespenster durften uns zwar hin und wieder einen Spaß erlauben, je nach Auftrag mussten wir sogar Zauberei anwenden, doch wir durften auf keinem Fall Aufsehen erregen. Ich konnte mich nicht mehr bremsen. Vielleicht war es die Aufregung nach dem Gespenstertreffen, vielleicht auch die lange, meist öde Zeit davor. Ich weiß es nicht. Gnadenlos quälte ich den Mann mit immer neuen verrückteren Trugbildern, während er wie erstarrt in seinem Sessel saß mit weit aufgerissenen Augen und aufgeklapptem Mund. Ich war in meinem Element, mal spazierte ich als Remo mit nacktem Oberleib und kurzen Hosen auf und ab, dann wieder sank ich mit Evelines Augen verheult zu Boden. Schließlich ließ ich Nadim und Daniela auffahren, während ich als Conny die beiden fürchterlich anschrie und eine filmreife Eifersuchtsszene aufführte. Puff, aus und vorbei! Ich war zu weit gegangen. Urplötzlich stand der Kerkergeist vor mir, packte mich unsanft und sperrte mich in einen winzigen muffigen Gespensterkäfig. Dann trug er mich schimpfend davon. Der Bildschirmmann wurde derweil von einem eiligst herbeigerufenen Klinikgespenst in tiefen Schlaf versetzt. Beim Aufwachen würde er sich zwar an das wüste Treiben erinnern, es aber als wirren Traum abtun. Na also, war doch gar nicht so schlimm. Der Richter sah das jedoch anders und verbannte mich in ein strenges Internat für schwererziehbare Gespenster. "Wir haben eine wichtige Funktion zu erfüllen", donnerte der Richtergeist, "und Geister, die dem Ruf unserer Gemeinschaft schaden, werden unerbittlich zur Rechenschaft gezogen." Ich schrie und weinte, bat den Richter um Verzeihung, beteuerte bei meinem Gespensterdasein, niemals wieder Schabernack zu treiben. Nach drei Jahren im Internat hatte mein ständiges Flehen den gestrengen Richter weich gemacht, und ich durfte wieder auf meine Wiese zurückkehren. Der Container und die Menschen waren inzwischen verschwunden, und der Briefbotengeist klärte mich darüber auf, dass BigBrother zwar eine gute Sache gewesen sei, mit der Zeit aber langweilig geworden wäre. "Tja, es ist eine schnelllebige Zeit, die Leute langweilen sich heute so schnell", seufzte er. Wem sagte er das?

Ich verrichte also wieder meinen gewohnten Dienst, bewahre junge Mädchen und verheiratete Männer vor Dummheiten und dergleichen. Bald findet auch wieder ein Wiesengeister-Treffen statt, und ich darf daran teilnehmen. Insgeheim hoffe ich, dass bei meiner Rückkehr wieder so etwas Aufregendes geschieht wie damals vor drei Jahren. Zwar schaudert mich noch immer bei der Erinnerung an den strengen Richter und die Zeit im düsteren Internat. Doch nächstes Mal halte ich mich zurück, ganz bestimmt, vielleicht.

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