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Kurzgeschichtenwettbewerb Weg-Kreuzungen Als Karl zum Fenster hinaus schaute

Weg-Kreuzungen - ein Schreibwettbewerb

© Martina Jura


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
... mit dem silberfarbenen Taschenspiegel überprüfte sie kurz ihr Aussehen. Eine attraktive Frau Anfang zwanzig, mit langen blonden Haaren, vollen, sinnlichen Lippen, großen, tiefblauen Augen, einer zierlichen geraden Nase. Ihre weiblichen Rundungen betonte sie mit einem rosafarbenem, eng anliegenden Kostüm. Nervös verschränkte sie die Arme ineinander und setzte sich kerzengerade auf. In diesem Moment gab es einen hässlichen Ruck, der Zug schien zu schlingern, um dann in voller Geschwindigkeit zum Stehen zu kommen. Der Waggon, in dem Sheryll eben noch kerzengerade gesessen hatte, lag nun auf der Seite, irgendwo zwischen Köln und Frankfurt. Die Passagiere in dem gut besetztem Zug schrien auf, wirbelten durcheinander, Gepäckstücke flogen durch die Gegend. Sheryll lag benommen unter zwei Gepäckstücken und spürte noch, wie eine warme Blutspur über ihre Schläfe die Wange herunterlief. Dann verlor sie für eine Weile das Bewusstsein. Inzwischen gingen die ersten Notrufe ein. Die Rettungsstelle, die Karl leitete, befand sich nur wenige Kilometer vom Unglücksort entfernt. Seit sechsunddreißig Jahren war Karl dort tätig, von allen geschätzt, zuverlässig und korrekt im Dienst, beliebt in der Freizeit durch seine Grillabende, an denen er seine selbstverfassten Gedichte vortrug. So schnell wie möglich fuhren sie mit drei Einsatzwagen vor. Als sie den ersten auf der Seite liegenden Waggon erreichten, sah Karl eine junge blonde Frau zusammengekrümmt in der Nähe des Fensters liegen. Gesagt, getan, mit einem Spezialhammer ....
Klaus wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seit drei Stunden saß er an seinem alten Computer und versuchte, eine spannende Geschichte zu schreiben. Vor genau sechs Monaten, zwei Wochen und vier Tagen hatten ihn die Kollegen mit einer Feierstunde verabschiedet: ein Bildband über rheinische Baudenkmale, ein Präsentkorb mit erlesenen Weinen und ein letztes Händeschütteln mit allen Abteilungsleitern. Am nächsten Tag ging Klaus morgens um 8.30 Uhr nicht mehr aus dem Haus, um an seinem Schreibtisch im Bauamt Platz zu nehmen. In der ersten Zeit löste Klaus Kreuzworträtsel, suchte nach Flüssen in Brasilien, italienischen Vornamen und griechischen Göttern. Dann bat ihn seine Frau, sich etwas zurückzunehmen, da sie die Hefte tauschte und die anderen sich auch die Zeit vertreiben wollten. Da begann Klaus Gedichte zu verfassen und sie auf Geburtstagsfeiern vorzutragen. "Abendstund hat Gold im Mund, und dies tu ich hiermit kund." Mit der Länge der Gedichte wuchs die Langeweile der Gäste und seine Frau bat ihn, sich auch hier etwas zurückzunehmen.
Als er beim täglichen Surfen auf seinem Computer den Wettbewerb entdeckte, schien es ihm wie ein Fingerzeig des Schicksals. Ein Schriftsteller, ja, das war eine angesehene Person. Im Fernsehen gab es manchmal Interviews mit ihnen, meist saßen sie vor einem Kamin und ein Glas mit Rotwein stand vor ihnen auf einem kleinen Tischchen. Klaus geriet ins Träumen. "Und nun begrüßen wir Klaus Erlgrin, den bekannten Autor und Erzähler, in unserer Sendung. Wie kam Ihnen die Idee zu Ihrem spannenden Kriminalroman?" "Klaus, komm in die Küche, die Erbsensuppe ist fertig", unterbrach seine Frau die hoffnungsvolle Karriere. Missmutig stand Klaus auf und setzte sich an den Küchentisch. "Du hockst seit drei Tagen vor dem Computer und isst kaum was. Du solltest mal spazieren gehen, ist doch gar nicht so kalt draußen" versuchte sie ihn aufzumuntern. "Ich nehme an einem literarischen Wettbewerb teil", belehrte sie Klaus. "Und was kann man da gewinnen?" "Es wird veröffentlicht." " Na, wenn man da nichts gewinnen kann, kannste von mir aus wieder ein paar Kreuzworträtsel machen." Kopfschüttelnd räumte sie den halbvollen Teller weg und sah ihm hinterher, wie er mit gesenktem Kopf und schlurfenden Schritten das Zimmer verließ und die Treppe zum Schlafzimmer hinaufstieg.
Oben legte sich Klaus aufs Bett und dachte nach. Irgendwie war die Geschichte mit dem Zugunglück ins Stocken gekommen. Wenn Karl alle anderen noch retten musste, wie sollte er dann bei Sheryll in Erinnerung bleiben? Ob man Verletzten die Visitenkarte zustecken konnte oder mit einem großen Blumenstrauß einen Krankenbesuch machen? Die erste Lösung barg die Gefahr, dass die Visitenkarte in der Aufregung verloren ging, die zweite Lösung könnte unter Umständen peinlich werden. Zudem hatte Klaus bisher nur von solchen Fällen gelesen, in denen der Unglücksfahrer am Krankenbett mit einem Blumenstrauß erschien und um Vergebung bat. Nein, er musste die Sache anders angehen. Ob den Schriftstellern abends am Kamin die Einfälle kamen? Leider hatten sie vor Jahren im ganzen Haus eine Zentralheizung eingebaut, und seine Frau würde es sicher sehr komisch finden, wenn er plötzlich abends allein sein möchte. Doch dann erinnerte sich an eine Begebenheit aus seiner Jugend. In der kleinen Stadt in der Nähe Kölns hatte es ein Café gegeben, wo sie nach Schulschluss manchmal zusammenhockten. Ein Ecktisch im hinteren Teil blieb stets reserviert. Dort saß ab Mittag ein älterer Herr in einem dunklen Anzug, bestellte Kaffee und Sachertorte und kritzelte ab und ab etwas in ein Heft. " Der Schriftsteller. Er recherchiert", flüsterten einige ältere Leute fast ehrfürchtig, wenn er hereinkam. Das war eine gute Idee! So würde er es angehen.
Eine halbe Stunde später kam Klaus in Anzug und Krawatte die Treppe herunter. "Ich mache einen Spaziergang", verkündete er und war bereits im Vorgarten des Reihenhauses, bevor sie nachfragen konnte. Nach einer Viertelstunde erreichte Klaus die Fußgängerzone und entschied sich für ein kleines Cafe im alten Stil, das noch eine Bedienung hatte, die an den Tischen servierte. Um die frühe Nachmittagszeit war nicht viel Betrieb, am Nebentisch saßen ein paar junge Mädchen in bauchfreien Pullovern und Jeans. Alle paar Minuten ging eines ihrer Handys lautstark an. Sie beugten sich alle drüber, lasen die Nachrichten im Display und brachen in ein lautes Gekicher aus. Klaus warf betont genervte Blicke herüber. Schließlich war er nicht zum Vergnügen an diesem Ort und musste sich konzentrieren. Zwei Bauarbeiter vor einem Bier und dem Tagesgericht am Eingang, unterhielten sich halblaut in sächsischem Dialekt und kamen für seine Recherche ebenfalls nicht in Frage. Dann stockte ihm fast der Atem... Eine junge blonde Frau in einem rosafarbenen Kostüm, einen Trolley hinter sich her ziehend, kam herein und setzte sich an den Tisch vor Klaus. An ihrer Seite ein kräftiger Mann in Trenchcoat und Anzug. Die beiden winkten die Bedienung heran. Klaus beugte sich diskret vor, um auch jedes Wort zu verstehen. Das war kein Zufall! "Ein Espresso und eine Sekt für die Dame", glaubte er zu hören. Dann tuschelten die beiden in einer Sprache, die Klaus nicht verstand. Mal meinte er italienische Sprachbrocken herauszuhören, mal deutsche Wörter wie "Schnelltrasse" und "Frankfurt." Einmal tätschelte der Mann die Hand der blonden Frau und sagte etwas wie "Cherie, Cherie." Hatte er da gerade Sheryll gesagt? Klaus hielt es kaum noch auf seinem Sitz, er beugte sich weiter und weiter vor, die Krawatte schwebte mit dem unteren Ende bedrohlich über der Kaffeetasse. In diesem Moment stand der Mann im Trenchcoat auf und kam herüber. " Eh, du da. Seit Stunde glotzen meine Freundin an. Jetzt ist Schluss!" Zur Bekräftigung stieß er heftig gegen den Tisch. Als Klaus das Gleichgewicht verlor, riss er im Fallen das Tischtuch mit herunter. Scheppernd ging die Kaffeetasse mit zu Boden, mühsam rappelte er sich wieder auf. "So, nun halten Sie mal still!" Die freundliche ältere Bedienung versuchte, mit einem feuchten Wischtuch die Kaffeeflecken aus dem weißen Hemd zu entfernen. "Ist alles in Ordnung?" Klaus nickte und verließ mit hochrotem Kopf leicht humpelnd das Café. Die beiden Bauarbeiter am Eingang sprachen zum Glück ein paar Worte Russisch und schafften es, den Mann im Trenchcoat zu beruhigen. Nun saßen sie zu viert an einem Tisch und tranken einen Kognak auf die neue Freundschaft. Klaus schlug sich durch Seitenstraßen heimwärts, einer Bekannten seiner Frau konnte er im letzten Augenblick in einen Hauseingang ausweichen. Seine Frau saß vor dem Fernseher und Klaus gelang es, die Treppe heraufzuhuschen und sich umzukleiden, bevor sie Fragen stellen konnte. Er beschloss, seine Recherchen am nächsten Tag vorsichtiger angehen zu lassen.
Er erinnerte sich an einen Arbeitskollegen, der vom Dienst freigestellt wurde, da er eine zweitägige Ausbildung als Ersthelfer bei einem Rettungsdienst machte. Das war sein Mann! Es war Samstag, seine Frau beim Friseur, die Gelegenheit günstig. Aufgeregt suchte er im Telefonbuch die Nummer, wie hieß er doch gleich, ...Heinz Meyer, davon gab's ja gleich drei. Der erste klang verschlafen und meldete sich nur mit "hallo." "Erlgrin, haben Sie mal eine Ausbildung als Ersthelfer gemacht?" "Finden Sie das witzig?" "Ich recherchiere..", bevor Klaus weitere Erklärungen abgeben konnte, wurde aufgelegt. Beim zweiten Anruf ging niemand ran und ein Anrufbeantworter mit einer hellen Frauenstimme bat darum, eine Nachricht zu hinterlassen. Beim dritten Versuch ein knappes "Meyer." Diese Stimme kam Klaus vertrauter vor. Vielleicht sollte er es geschickter angehen und erst ein wenig Small Talk machen." Ja, guten Tag, Erlgrin, Wir waren mal in der gleichen Abteilung beim Bauamt. Sie erinnern sich?" Am anderen Ende eine längere Denkpause. "Ach, Herr Erlgrin, ja, jetzt erinnere mich. Mensch, das ist ja eine ganze Weile her. Ich bin doch dann in eine andere Abteilung versetzt wurden. Um was geht es denn? " Jetzt bloß nicht mit der Tür ins Haus fallen. "Ich bin ja seit einigen Monaten in Rente und sammele gerade die Adressen von ehemaligen Kollegen. Falls meine Frau und ich mal ein Grillfest machen wollen." "Na, bis zum Sommer ist es aber noch lang", scherzte Heinz Meyer am anderen Ende der Leitung. Mist..., daran hatte er nicht gedacht. Doch da kam ihm ein Gedanke. "Ich hab in letzter Zeit so viel in der Zeitung über Unglücksfälle beim Grillen gelesen. Sie haben doch eine Ausbildung als Ersthelfer gemacht, wenn ich mich recht erinnere?" "Daraus ist nicht mehr allzu viel geworden. Ich hatte einen Autounfall und darf seitdem nicht mehr schwer heben." "Aber Sie werden sich doch sicher an Details der Ausbildung erinnern können", forschte Klaus nach. Nicht gleich aufgeben, etwas Information musste ihm doch zu entlocken sein. "Ich meine, war es nicht aufregend, sich über einen Verletzten zu beugen und ihn wieder zum Atmen zum bringen?" "Nee, das war eine Puppe und wir standen in einer langen Schlange an, weil jeder das machen musste. Sagen Sie mal, Herr Erlgrin, ist alles in Ordnung?" Klaus hörte, wie seine Frau den Schlüssel in der Haustür umdrehte. Dabei zog sie immer die Tür ein wenig an, weil das Türblatt sich bei der kalten Witterung verzog. "Ja, ja, alles in bester Ordnung. War nett, mit Ihnen geplaudert zu haben." Hastig drückte er das Gespräch weg, bevor seine Frau den seltsamen Dialog verfolgen konnte. Nach dem Mittagessen beschloss er, die Personenrecherche aufzugeben und an den in der Geschichte vorgegebenen Orten zu recherchieren. Hatten ihm die Kollegen nicht so einen dicken Bildband über rheinische Baudenkmäler geschenkt?
Den Samstagnachmittag verbrachte Klaus auf dem Sofa, vertieft in seinen Bildband. "Na ja, besser als wenn du ständig vor dem Computer sitzt", kommentierte seine Frau die neue Tätigkeit. Leider fand sich kein geeignetes Objekt in der näheren Umgebung, auf das die Beschreibung genau zutraf. Enttäuscht wollte Klaus den Bildband beiseite legen, da fiel sein Blick auf die vorletzte Seite. "Die mittelalterliche Marienkirche mit ihrem Turm aus dem 15. Jahrhundert ist ein begehrtes Ausflugsziel, da man vom Turm aus einen herrlichen Blick auf die rheinische Tiefebene hat." Die Marienkirche, die war doch ganz in der Nähe. Vielleicht kamen ihm da oben Ideen, warum dieser Karl zu so einem Turm heraufsah. Am Sonntagvormittag zog er sich den Wettermantel an und eröffnete seiner Frau, er ginge zur Kirche. "Da warst du seit Jahren nicht mehr", kopfschüttelnd sah sie ihm hinterher. Immer seltsamer erschien er ihr in den letzten sechs Monaten. Vor der Kirche wartete bereits eine kleine Schlange, um auf den nur sonntags geöffneten Turm heraufgelassen zu werden. Endlich war Klaus an der Reihe, über hundert steinerne Treppenstufen bis zur Plattform, und dann noch eine kleine Wendeltreppe bis zum schmalen Rundgang. Nach den ersten zwanzig, dreißig Stufen begann Klaus zu schwitzen. Er öffnete den Mantel und legte die Krawatte ab. Zwischendurch musste er mehrmals stehen bleiben, zu Atem kommen und weiter ging's. Unterwegs kamen ihm junge Leute beim Abstieg entgegen, scheinbar leichtfüßig und ohne Anstrengung. Die letzten Meter bis zur Plattform schaffte Klaus nur, indem er sich kräftig am Geländer weiterzog. Eine Familie mit zwei Kindern kam gerade vom Rundgang. "Guck mal, der alte Mann da. Der schafft das gar nicht", rief ein etwa zwölfjähriger Junge seinem Vater zu. Der sah Klaus entschuldigend an und schob seinen Sohn hastig an ihm vorbei. Oben war es herrlich. Die kalte frische Luft tat dem völlig durchgeschwitzten Körper gut. Tief atmete Klaus sie ein und genoss den Blick über das Tal. In der Ferne meinte er die Reihenhaussiedlung zu erkennen, in der seine Frau und er seit dreißig Jahren wohnten. Beim Abstieg schmerzten ein bisschen die Gliedmaßen, aber "kein Preis ohne Fleiß." In der Hoffnung, dass dieses Erlebnis ihm am nächsten Morgen neue Ideen und Inspirationen verleihen würde, schlief Klaus ein. Am nächsten Morgen erwachte er vor der üblichen Zeit und fühlte sich sehr schlecht. Die Gliedmaßen schmerzten kaum erträglich und er schleppte sich ins Bad. Dort sah ihm im Spiegel ein blasser Mann mit belegter Zunge und völlig verquollenem Gesicht entgegen. "Du bleibst im Bett", befahl seine Frau, nachdem sie Fieber gemessen hatte. Die nächsten Tage kurierte Klaus einen grippalen Infekt aus und durch seine fiebrigen Träume geisterte gelegentlich ein Karl, der russisch sprach und das Wort "Rettungssanitäter" in kyrillischen Buchstaben auf einer Armbinde trug. Manchmal erschien auch eine kleine blonde Fee, die sich Sheryll nannte und Klaus ein Sektglas entgegen hielt. Nach vier Tagen war alles überstanden und Klaus fühlte sich allmählich bereit zu neuen Recherchen. Seine Frau wurde am Samstagmorgen zu einem Klassentreffen in ihrer Heimatstadt abgeholt und würde vor Sonntagabend nicht zurück sein. Sie ließ ihn ungern allein, aber Klaus versprach ihr, keine anstrengenden Klettertouren zu machen. Höchstens ein bisschen mit dem Wagen durch die Gegend zu fahren.
Bis zum Hauptbahnhof Köln hielt er sein Versprechen ein. Dort parkte er den Wagen in der Tiefgarage und buchte am Schalter den ICE "Köln-Frankfurt". Mit dem Abendzug würde er zurück sein, bevor seine Frau wieder zu Hause war und dazwischen konnte er sich ganz gemütlich Frankfurt ansehen. Er musste ja nicht auf Türme klettern. Im Großraumwagen machte es sich Klaus mit Würstchen und Kaffee gemütlich. Neben ihm saß eine ältere mollige Frau mit Kurzhaarfrisur, die in eine Fachzeitschrift über Gastronomie vertieft war. Sie schien ihm nicht sonderlich bemerkenswert und er bemühte sich nicht um ein Gespräch. Derartige Recherchen sollte man nicht mit überflüssigen Dingen belasten. Draußen flog die Landschaft geradezu vorbei. Das hätte er gleich am Anfang machen sollen, am Tatort recherchieren sozusagen. "In wenigen Minuten erreichen wir Frankfurt Hauptbahnhof. Wir freuen uns, dass Sie als Gäste bei uns gewesen sind und wünschen Ihnen einen schönen Aufenthalt." Die ersten Reisenden machten sich schon zum Ausstieg bereit, auch Klaus legte seinen Mantel wieder an. Diesmal hatte er sogar einen wärmenden Schal dabei.
"Bitte bring diese Unterlagen Frau Maibaum. Sie kommt an Bahnsteig 5 mit dem ICE Köln-Frankfurt an. Sie wird die Zeitschrift "Gastronomie in Deutschland" hochhalten. Aber beeil dich, der Zug ist in wenigen Minuten da und Frau Maybaum braucht die Unterlagen für ihren Vortrag über ihr Projekt auf der Messe heute Nachmittag. " Karl, der vor wenigen Stunden noch eine der wildesten Tänzer auf der Technoparty war, grinste. "Auf mich ist Verlass, Chef." Er schwang sich auf sein Mountainbike und radelte los. Rote Ampeln, kein Problem. Mal kurz auf den Bürgersteig ausgewichen, die Reaktionen der Fußgänger interessierten ihn schon lange nicht mehr. Sicher würde diesmal ein gutes Trinkgeld bei rausspringen. Am Bahnhof nahm er das Rad über die Schulter und hechtete die Rolltreppe zum Bahnsteig herauf. Im Gedränge konnte er zunächst nichts erkennen. Als sich der Bahnsteig allmählich leerte, sah er sie am anderen Ende, eine kleine mollige Frau mit einer Zeitung in der Hand, die aufgeregt winkte. Er schwang sich wieder auf sein Rad und umkurvte die letzten Reisenden, die dort noch standen.
Klaus war schon ausgestiegen, als ihm auffiel, dass er den wärmenden Schal vergessen hatte. Also zurück ins Abteil, der Schal lag zum Glück noch auf dem Sitz. Er zog ihn eng um den Hals, draußen war es windig. Frohgemut sprang er wieder auf den Bahnsteig... von dem Radfahrer, der ihn zu Boden riss, nahm er nur einen Schatten war. Als er wieder zu sich kam, beugte sich die kleine mollige Frau über ihn. "Ganz ruhig bleiben, gleich kommt ein Krankenwagen." Der junge Mann mit dem Rad stand zitternd daneben, er blutete aus der Nase und alles war ihm fürchterlich peinlich. Sicher musste er nun eine Strafe zahlen und Frau Maybaum würde ihm kein Trinkgeld mehr geben. Nicht auszudenken, was der Chef Montag sagen würde. Dann kam die Bahnhofspolizei, der Krankenwagen, die Personalien wurden aufgenommen und Klaus auf eine Trage gehoben. "Machen Sie sich keinen Kopf, wahrscheinlich nur ein paar Prellungen", beruhigten ihn die Sanitäter. "Wissen Sie was, wir gehen jetzt eine heiße Schokolade trinken. Die Zeit habe ich noch", Frau Maybaum hakte den verdutzten und immer noch zitternden Karl unter und zog ihn in die hell erleuchtete Bahnhofshalle. "Ach Mensch, Sie erinnern mich so an meinen Enkel. Der ist auch so ein kleiner Wilder. Ich heiße übrigens Sheryll." Klaus sah ihnen von der Krankentrage aus nach, ein junger Mann mit Rastalocken, der mit wackligen Schritten ein verbeultes Mountainbike schob, und eine ältere mollige Frau in rosafarbenem Kostüm mit einer Zeitschrift in der Hand.
Was aus den beiden wurde, überließ Klaus zukünftig der Phantasie anderer. Kaffee und Kuchen gab es nun im Wohnzimmer und einen Turm hat Klaus nie mehr bestiegen.



Eingereicht am 25. Oktober 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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