Das Schicksal und wie es unser Leben bestimmt
© Sandra Hübel
Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Karl nahm noch einen weiteren Schluck von seinem Kaffee und warf noch einen letzten Blick auf den Alten Turm. Warum hatte er so ein eigenartiges Gefühl heute? Etwas Bedeutendes würde in den nächsten Stunden noch passieren aber was? Gedankenverloren strich er sich durch sein volles, blondes Haar.
"Alles in Ordnung bei dir?" Erschrocken fuhr Karl zusammen und wandte sich schließlich der Stimme zu. In der Türe stand seine Sekretärin und gute Freundin Monika. Sie sah heute wieder mal umwerfend aus, fand er und die Tatsache, dass sie bereits verheiratete war, ließ ihn bedauernd ausseufzen.
"Mir geht es gut. Wahrscheinlich habe ich nur zu viel heute gearbeitet. Der Stress in letzter Zeit macht mich einfach fertig." "Vielleicht solltest du dir einmal frei nehmen und wegfahren. Immerhin sind deine letzten, freien Tage schon eine Weile her." Wieder wandte sich Karl dem Turm zu. Die Sonne war mittlerweile weiterhin gesunken. "Du hast Recht. Ich werde heute einfach mal früher nach Hause gehen. Immerhin bin ich bereits seit 7 Uhr hier." Bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte, nahm er sein Jackett und seine Aktentasche und verließ das Büro. Den Gang passierte Karl mit schnellen Schritten und trat durch eine riesige Glastüre ins Freie. Die Luft war trotz der herbstlichen Jahreszeit warm und ließ ihn an vergangene Sommer denken. Mit diesen Erinnerungen kam auch wieder Sarah in seinen Sinn. Seine Sarah. Wieso hatte dieser Unfall letztes Jahr passieren müssen? Sie war doch noch so jung gewesen. Seit ihrem Tod fühlt er sich einsam und verlassen. Wenn er sie doch niemals in dieser Erregung wegfahren hätte lassen. Warum hatten sie sich an jenem schicksalhaften Tag wegen so was Unwichtigen wie einem Treffen mit ihren Eltern streiten können? Sie war schließlich aus der gemeinsamen Wohnung geflüchtet und war mit dem Auto fort gefahren. Die ganze Nacht war sie nicht nach Hause gekommen und als sie am nächsten Morgen noch immer nicht wiederkam, war er krank vor Sorge. Um 10 Uhr hatten dann zwei Polizeibeamten bei ihm angeläutet und ihm von ihrem Tod erzählt. Die darauf folgenden Wochen waren eine Tortour für ihn und nur mit Mühe hatte er es geschafft, einen Tag nach dem anderen zu bewältigen.
Dieser Unfall war jetzt 1 Jahr her. Seitdem hatte Karl ein Einsiedlerleben geführt, doch er wollte diese intensiven Gefühle, die er damals hatte, wiederhaben. Doch würde er je wieder eine Frau wie Sarah finden?
Sherylls Gedanken beschäftigten sich mit den Skizzen zu ihrem neuen Kunstwerk. Sie war von Beruf Künstlerin, wie sie es sich bereits als Kind gewünscht hatte. Ihre Eltern waren von ihrem Beschluss entsetzt gewesen, doch das war ihr egal. Es ging immerhin um ihr Leben und was sie daraus machen wollte. Wäre es nach ihren Eltern gegangen, dann würde sie wohlmöglich in einem Anwaltsbüro sitzen und sich mit Klienten herumschlagen.
Bei dieser Vorstellung musste sie lächeln. Nein, das wäre sicher nichts für sie gewesen. Sie liebte ihre Freiheit, die Spontaneität einfach in eine andere Stadt oder ein anderes Land zu fahren und den Leuten ihre Kreationen zu zeigen. Sie fand es also nicht weiter schlimm, dass ihr Agent ihr einen Job in Frankfurt beschafft hatte. Ohne Bedenken war sie also in den Zug gestiegen und freute sich bereits darauf, in der Umgebung eines alten Turmes eine moderne Skulptur zu gestalten.
Der Zug hielt schließlich und überrascht stellte Sheryll fest, dass sie von ihren Gedanken so sehr in Anspruch genommen worden war, das sie gar nicht bemerkt hatte, dass sie bereits am Ziel angekommen war. Sie nahm schnell ihren kleinen Handkoffer, klemmte sich einige Skizzen unter ihren Arm und verlies den Zug. Die Luft roch anders als bei ihr daheim und die Umgebung wirkte auch anders, doch spontan entschied sie sich, dass er ihr hier gefallen würde.
Wohin sollte sie jetzt fahren? Ins Hotel oder vielleicht gleich an dem Ort, wo sie in nächster Zeit arbeiten würde? Sheryll war noch nie eine Frau gewesen, die Zeit zum Ausruhen brauchte. Energiegeladen, hektisch, unruhig, dies waren alles Begriffe, die sie gut beschrieben. Aber das störte sie nicht. So war sie einfach. Wer mit ihr nicht umgehen konnte, der musste sich nicht mit ihr reden.
Ein Taxi stand zufällig am Straßenrand und diese Chance nutzte sie. Der Fahrer, ein schon älterer Mann mit stämmigen Körper und ergrauten Haaren, begrüßte sie freundlich und nachdem Sheryll ihr Ziel angegeben hatte, nickte er nur und die Fahrt begann.
Ein kleiner Junge schrie auf. Karl erschrak, schaffte es aber noch im letzten Moment dem Fahrrad, das auf ihm zukam, auszuweichen. Anstatt einer Entschuldigung erhielt er von dem Jungen einen unfeinen Fluch. Er wollt etwas entgegnen, doch da war dieser bereits um die nächste Ecke verschwunden. "Auch egal", sagte er zu sich. Das hatte er sich immerhin selber zuzuschreiben, da er in Erinnerung schwelgend durch die Straßen ging.
Es war mittlerweile fast dunkel und die Straßenlaternen wurden eingeschaltet. Er hatte gar nicht geachtet, in welche Richtung er gegangen war, doch nun erstreckte sich vor ihm ein Park und in einiger Entfernung ragte der Alte Turm mächtig und Furcht einflössend hinter einigen Bäumen hervor. War dies ein Zeichen? Sollte er sich dem Schicksal fügen und direkt darauf zugehen? Karl resignierte und ging weiter. Wahrscheinlich war er der einzige Mensch, der im Dunkeln durch den Park ging und nicht einmal wusste, wieso er das tat.
Direkt vor dem Turm blieb er stehen. Was machte er hier? Wieso hatte er das Gefühl gehabt hierher zu kommen?
Während Karl versuchte darüber nachzudenken, nahm er eine Bewegung im Augenwinkel war. Als er sich in die Richtung umwandte, sah er eine kleine, zierliche Gestalt auf dem Boden hantieren. Durch das spärliche Licht konnte er nichts Genaueres erkennen. Sollte er lieber gehen? Unschlüssig was er tun sollte, stand Karl da und beobachtete.
Sheryll war in ihre Arbeit vertieft und bemerkte nicht den Mann, der sich hinter ihr befand. Die Ideen in ihrem Kopf verdoppelten sich von Minute zu Minute und sie konnte gar nicht erwarten, morgen mit der Verwirklichung anzufangen. Sollte sie lieber mit Ton oder mit Metall arbeiten? Doch zuerst sollte sie lieber ins Hotel fahren und ihren Koffer auspacken.
Flink sprang Sheryll auf und erkannte in diesem Moment, dass jemand hinter ihr stand. Durch den Schwung und den Schock verlor sie ihr Gleichgewicht und wäre beinahe gestürzt, wenn eine harte, männliche Hand ihren Oberarm nicht gepackt hätte.
Nachdem der Schrecken überwunden war, gelangte ihr Temperament wieder an die Oberfläche. "Was fällt Ihnen ein mich so zu erschrecken? Sie Ungetüm!"
Unschlüssig, ob er über diese Bemerkung verärgert oder amüsiert sein sollte, weil er gerade als Ungetüm bezeichnet worden war, starrte er sie an. Trotz ihrer zierlichen Körpergröße und der Tatsache, dass sie sich im Dunkeln in einem Park mit einem Mann alleine befand, hatte sie die Courage ihm entgegenzutreten und ihn zu beleidigen. Das war mutig und er schätzte dies an einer Frau. "Erstens heiße ich Karl und zweitens sollten Sie wenigstens dankbar sein, dass ich Sie anstatt fallen zu lassen, davor bewahr habe." "Wenn Sie mich nicht so erschreckt hätten, dann wäre es dazu gar nicht gekommen."
Ihre Augen, das erkannte er erst jetzt, hatten die Farbe eines Eiskristalls. Jetzt erst erkannte Karl, dass er sie noch immer festhielt und ihr viel zu nahe war. Sofort lies er ihren Arm los und trat einen Schritt zurück. "Es tut mir leid." Diese drei Worte meinte er wirklich so, dass erkannte Sheryll und ihr Zorn verschwand so schnell, wie er gekommen war. Sie konnte nie jemanden lange böse sein, besonders nicht, wenn man sie mit so traurigen Augen ansah, wie dieser Mann vor ihr. "Ist schon in Ordnung. Es ist ja nichts passiert. Fangen wir einfach noch einmal von vorne an. Mein Name ist übrigens Sheryll und ich bin hier, weil ich zu arbeiten habe." "Um diese Uhrzeit?" "Jep, ich wollte mir einmal einen ersten Eindruck verschaffen." Sie merkte, dass er sie mit ungläubiger Miene ansah. Aha, also ein Skeptiker dieser Mann. Doch damit hatte sie öfters kämpfen, da die Menschen ihre Art zu arbeiten nicht verstanden. War sie halt hier auf dem Boden gehockt und hatte in die Erde gemalen, schließlich hatte sie keinen Stift bei der Hand gehabt.
Karl machte einen weiteren Schritt zurück. "Dann will ich Sie nicht länger stören. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei der Durchsetzung ihres Projektes." Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sie einen Moschusduft an sich hatte, der seine Sinne in Aufruhr versetzte. Seit Sarah war ihm das nicht mehr passiert. Er musste hier schnell weg, bevor er sich in etwas verrannte, dass nicht sein sollte. Bevor sie ihm antworten konnte, ging er in die Richtung des Ausganges.
"Warten Sie!" Sherylls Stimme drang an sein Ohr und er blieb mit dem Rücken zu ihr stehen. "Was wollen Sie denn?" Leichte Ungeduld war hörbar. Sheryll wusste selber nicht genau, wieso sie ihn aufgehalten hatte, aber jetzt konnte sie es auch nicht mehr rückgängig machen. Er hatte etwas an sich, dass sie berührt hatte. Also setzte sie ein Lächeln auf. "Ich bin erst heute hier in diese Stadt gekommen und kenne mich hier noch nicht so sehr aus. Hätten Sie vielleicht Lust mit mir auf eine Tasse Kaffee zu gehen? Dann können wir auch ein wenig miteinander reden."
Karl wusste, dass er ablehnen sollte. Diese Frau hatte etwas an sich, dass ihn ins Verderben stürzen könnte, wenn er nicht aufpasste. Doch zu seiner eigenen Überraschung hörte er sich selber sagen: "Sehr gerne".
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Eingereicht am 23. November 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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