Unser Buchtipp
Als Karl zum Fenster hinaus schaute© Michael RotherAls Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus. Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Karl hatte heute zum ersten Mal seit drei Jahren Freigang. Dieser neigte sich langsam zu Ende. Um acht Uhr Abends musste Karl wieder zurück sein. Zurück bedeutete zurück in der geschlossenen Abteilung des Psychiatrischen Krankenhauses der Stadt Frankfurt. Noch drei Stunden, dann war es wieder vorbei mit der Freiheit. Wie lange noch? Wenn die Therapie bei Karl einen guten Verlauf nehmen sollte, hatte er noch weitere zwei Jahre vor sich. Und der heutige Tag war ein ganz entscheidender. Heute musste es gut laufen, Karl durfte sich nichts zu schulden kommen lassen. Und bisher ging es auch gut. Karl war ziellos durch die Innenstadt gelaufen. Am Anfang machten ihn die Menschen etwas nervös. Er fragte sich, ob sie vielleicht ahnen würden, woher er kam, welche Vorgeschichte er hatte. Er merkte aber, dass sie viel zu geschäftig waren, um ihn zu beachten. Er sagte sich, man kann es ihm ja auch gar nicht ansehen. Er war unauffällig gekleidet, war rasiert, hatte einen kurzen, sportlichen Haarschnitt. Sein Gesicht war ein Durchschnittsgesicht. Mit diesen Erkenntnissen wurde er innerlich ruhiger und fing an, gelassen in der geschäftigen Menge mitzuschwimmen.
Erst mal wollte Karl sich Kleidung kaufen. Immer nur die Sachen tragen, die ihm seine Eltern mitbrachten, das ging ihm langsam auf die Nerven. Mit Anfang dreißig wollte er sich selbst seine Sachen aussuchen.
Außer seinen Eltern hatte ihn keiner in den letzten drei Jahren besucht. Sie hatten sich alle abgewendet nach dem Ereignis vor drei Jahren. Er konnte das verstehen. Er hätte sich selbst nicht anders verhalten. Anfangs wollte er auch nicht mehr er selbst sein. Dies wäre aber nur mit Selbstmord möglich gewesen. Und diesen konnte er nicht durchführen, dafür wurde er zu gut bewacht. Er war auch viel zu apathisch gewesen, um einen Plan dazu auszuhecken. Er siechte nur noch dahin, sein natürliches Ende abwartend. Langsam hatte er aber seinen Lebenswillen wieder gefunden. Das verdankte er auch seinen Eltern und Christof, seinem Therapeuten, die ihn alle drei weiterhin mit Respekt behandelten, trotz der grauenhaften Tat, die er begangen hatte. O.k., bei Christof gehörte es zum Job, seine Patienten entsprechend zu behandeln. Aber bei seinen Eltern? Er konnte froh sein, dass wenigstens seine Eltern ihn nicht verlassen hatten. Er wusste nicht, ob er sich so solidarisch gegenüber seinem Sohn verhalten hätte, wenn dieser die gleiche Tat wie er begangen hätte. Seine Eltern hatten sich auch Zeit gelassen mit ihrem Besuch. Zuerst war es ihm egal gewesen, dann dachte er, er hätte es nicht anders verdient, schließlich verstand er es. Sie mussten selber erst einmal verstehen lernen, was ihn zu dieser Tat veranlasst hatte, sich mit den eigenen Schuldgefühlen auseinandersetzen. Erst dann wurde ein Besuch sinnvoll. Seine Eltern waren intelligent genug, dies zu verstehen.
Wie konnte es also zu solch einer Tat kommen. Er war behütet aufgewachsen, war ein guter Schüler, hatte Freunde. Gut, gegenüber Mädchen war er immer schon schüchtern gewesen, hatte sich in ihrer Gegenwart ohnmächtig gefühlt. War es dieses Gefühl von Ohnmacht gewesen, das ihn dazu getrieben hatte, zu dieser Menschen verachtenden Tat?
Sheryll schaute aus dem Fenster des Zuges und genoss die wärmenden Strahlen der entspannenden Frühlingssonne. Endlich gelang es ihr, nachdem sie noch die restlichen E-Mails in ihrem Laptop gelesen hatte, abzuschalten und nicht mehr an das Projekt zu denken,. Es war das erste Projekt, bei dem sie die Projektleitung innehatte. Sie hatte lange auf dieses Ziel hingearbeitet. Und als ihr damals dieses schreckliche, grauenvolle Ereignis in der Nähe von Frankfurt wiederfahren war, war es auch dieses Ziel, das ihr geholfen hatte, wieder aufzustehen, Mut zu fassen für die Bewältigung des Traumas. Und jetzt war es so weit. Und dann führt sie der Weg ausgerechnet nach Frankfurt! Zuerst dachte sie, sie packe das nicht, ein Projekt in Frankfurt zu leiten. Aber sie merkte, dass die Erinnerung daran ihr Grauen fast verloren hatte. Und passieren konnte Sheryll das überall wieder.
Das war ihr klar. Das war es ja auch, was bei ihr anfangs ständig Panikattacken auslöste und sie erst langsam wieder lernen musste, sich ohne ohnmächtige Angst in der Öffentlichkeit zu bewegen. Sie war Thomas, ihrem Mann, unendlich dankbar dafür, dass er so viel Verständnis und Geduld für sie aufbrachte. Zu Beginn hatte er sie immer begleitet, wenn sie den Mut aufbringen konnte, auf die Straße zu gehen. Er hatte ihr selber Mut zugeredet, hatte sie aufgesucht, wenn sie sich heulend in ihr Bett verkroch, hatte ihr geduldig zugehört, wenn sie ihm herzzerreißend schluchzend ihre Verzweiflung offenbarte. Sie hatte sich an ihn klammern dürfen, wenn sie die Angst überfiel.
Körperliche Nähe, geschweige denn Sex waren ihr am Anfang völlig unmöglich. Er wartete geduldig darauf, dass es ihr möglich wurde, sich ihm zu nähern und bereit wurde für die nächsten Schritte. Sie durfte sich ihm zeigen, wie sie war, er hörte dennoch nicht auf, sie zu lieben. Wo würde sie wohl heute sein, ohne ihn? Sicher nicht auf dem Weg nach Frankfurt!
Nachdem Karl sich seine Klamotten gekauft hatte, ging er in einen Buchladen, um ein bisschen herumzustöbern. Zuhause, also in der Klinik, war nur ausgewählte Lektüre erlaubt. Er suchte in der Taschenbuchabteilung, Taschenbücher waren günstiger, und er konnte sie leichter hereinschmuggeln. Er hatte früher gerne gelesen, Hesse, Auster. Irving fand er auch nicht schlecht, bis auf die erotischen Passagen, nicht weil er sie anstößig fand, sondern weil er dann wieder seine Ohnmacht spürte, die ihn wütend machte. Besonders schlimm wurde es, wenn er an seine gescheiterten Annäherungsversuche Mädchen und später auch Frauen gegenüber dachte. Warum musste er sich auch immer so blöd anstellen, vor lauter Nervosität. Und die Mädchen hatten sich lustig gemacht über ihn. "Diese dummen Gören" hatte er sich öfters gedacht, früher.
Nachdem er sich für ein Buch entschieden hatte, ging er in ein Cafe, das sich in der Innenstadt befand, um etwas zu essen und zu lesen. Er hatte das "August" gewählt wegen dem schönen Blick auf den alten Turm, auch wenn es ein bisschen teurer war. Aber heute war ja schließlich ein besonderer Tag.
Er bestellte sich Rigatoni mit Käse überbacken dazu eine Apfelschorle, Alkohol war nicht erlaubt. Daran hielt er sich auch. Er wollte kein Risiko eingehen und seine Sinne beisammen halten. Beim anschließenden Milchkaffee fing er dann zu lesen an. In dem Buch ging es um einen Mann, der seine ganze Familie bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte, schlimmste Schuldgefühle bekam, an dem Ganzen fast zerbrach, sich dem Alkohol hingab und ihn schließlich ein Stummfilm, den er im Halbdelirium im Fernsehen sah, aufgrund der lustigen Szenen zurück ins Leben brachte. Der Mann war ihm sympathisch, er konnte mit ihm fühlen. Irgendwie tröstete ihn die Geschichte. Es geht also auch noch schlimmer, dachte er sich. Es gibt also auch dann noch Hoffnung. Und diese Hoffnung war es auch, die ihn wieder ins Leben zurückgeholfen hatte und die Solidarität seiner Eltern, die ihn nicht aufgegeben und verdammt hatten.
Nach ein paar Monaten in der Klinik, in denen er viele Einzelsitzungen mit Christof hatte, begann ein neuer Therapieabschnitt. Julia, eine junge Therapeutin, wurde hinzugezogen. In der Konfrontation mit ihr tauchte dann wieder das Gefühl seiner Ohnmacht Frauen gegenüber auf, zumal, da Julia recht attraktiv auf ihn wirkte. Zu Beginn war er ihr gegenüber sehr verstockt. Auch schämte er sich sehr. "Was wird sie wohl von mir denken, dass ich ein Scheusal bin, ein Verbrecher, ein Ungeheuer? Damals war ich es auch." Mit ihrer freundlichen und sensiblen Art schaffte es Julia aber Schritt für Schritt, sein Vertrauen zu gewinnen. Er verhaspelte sich manchmal wieder, wenn er mit ihr sprach. Aber sie reagierte nicht höhnisch auf ihn, sondern mit Verständnis. Dies linderte seine Wut. Die Sitzungen mit ihr gaben ihm zunehmend Selbstvertrauen. Und Schritt für Schritt änderte sich sein Frauenbild. Später sollte er dann auch noch an einer Gruppentherapie teilnehmen, in der auch Frauen anwesend waren. Dies sollte ihm weiter helfen, seine Einstellung und schließlich auch seine Beziehung zum weiblichen Geschlecht zu normalisieren. Aber noch war er nicht so weit.
Sheryll war endlich in Frankfurt angekommen. Mit großer Nervosität und großem Bangen hatte sie diesem Augenblick entgegengesehen. Das erste Mal seit drei Jahren betrat sie Frankfurt, seit damals, als ihre Welt zusammenzubrechen schien.
Aber es ging. Sie spürte eine leichte Beklommenheit, aber von Panikattacke keine Spur. Sie atmete hörbar auf. Die letzten Sonnenstrahlen zeigten sich noch, und so beschloss sie, in die Innenstadt zu gehen, ein nettes Restaurant zu suchen, etwas zu Abend zu essen, um dann schließlich ins Hotel zu gehen. So sperrte sie ihren Koffer und ihren Laptop erst einmal in ein Schließfach im Bahnhof und machte sich auf den Weg.
In der Fußgängerzone ging sie an ein paar Cafes vorbei und schaute durch die Fenster hinein. Sie kam auch an einem Cafe gegenüber vom alten Turm vorbei und blickte hinein. Kein Tisch schien frei zu sein. Es waren viele Gäste drinnen, auch ein junger Mann, der in einem dicken Buch las. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, wusste aber nicht woher. Sie setzte ihren Weg fort, da das Cafe voll zu sein schien, ohne weiter über ihn nachzudenken.
Er schaute vom Gelesenen leicht betäubt von seinem Buch auf, da er einen Schatten am Fenster bemerkte. Dort draußen stand eine junge Frau, die sich gerade zum Weggehen umwandte, so dass er nur kurz ihr Gesicht und dann ihr Profil sehen konnte. Plötzlich schreckte er aus seiner Versunkenheit hoch. Das war sie, er spürte einen tiefen Stich in seiner Brust. Das Adrenalin schoss ihm durch den Körper. Ohne zu wissen, was er eigentlich wollte, legte er einen Zwanziger auf den Tisch und ging nach draußen, um ihr zu folgen. Er konnte gerade noch erkennen, wie sie ein Restaurant ein paar Türen weiter betrat. Er wollte schon hinterhergehen, doch dann zögerte er. Was sollte er da? Sich an einen Tisch in ihrer Nähe setzen und sie beobachten. Nein, am Ende bemerkte und erkannte sie ihn noch. Sollte er zu ihr gehen und sich ihr zu Erkennen geben? Auf keinen Fall! Wie würde sie reagieren? Am Ende würde sie anfangen zu schreien und ihn zu beschimpfen, und das vor den Augen aller Gäste. Und was sollte er ihr überhaupt sagen? So beschloss er, erst einmal weiter zu gehen.
Sheryll setzte sich an einen freien Tisch und bestellte ein Hacksteak und Rotwein. Sie hatte richtig Hunger bekommen. Im Zug gab es ja nichts Richtiges, außerdem viel zu teuer. Bevor das Essen kam, schrieb sie erst mal eine SMS an Thomas. Sie hatten ausgemacht, dass sie sich meldete, wenn sie in Frankfurt angekommen war. Thomas war beim Abschied etwas besorgt gewesen. Sie konnte es ihm nicht verübeln.
Telefonieren wollte sie im Restaurant nicht, also schrieb sie ihm. Sie fühlte sich wohl, etwas müde, hungrig. Aber sie freute sich auf die morgige Konferenz. Bei dem Gedanken an den nächsten Tag durchfuhr sie ein leichtes Kribbeln. "Ja, so ist es gut", dachte sie, "morgen kann ich zeigen, was ich kann." Sie verputzte ihre Mahlzeit mit ungezügeltem Appetit und bestellte sich zum Abschluss einen Kaffee. Nachdem sie die Rechnung bezahlt hatte, ging sie raus und machte sich auf den Weg zum Bahnhof, um ihr Gepäck zu holen. In einer dunklen, einsamen Gasse hörte sie Schritte hinter sich. Sie bekam Gänsehaut, sie fröstelte plötzlich. Dann atmete sie tief durch und dachte sich: "Komm, es ist alles in Ordnung. Du brauchst keine Angst zu haben. Es ist früher Abend, mitten in der Stadt, was soll da passieren. Ich werde nicht mehr überfallen, nie mehr!" Die Schritte kamen näher, sie erzeugten ein leises, schauriges Echo in der schmalen, dunklen Gasse, dann ein Räuspern, sie drehte sich um.
Karl ging durch die Gassen und grübelte. "So ein dummer Zufall, ich geh jetzt zurück und mache mir keine weiteren Gedanken mehr über sie." Dann dachte er wieder, ob er sie nicht doch ansprechen sollte und fragen, wie es ihr denn nun gehe und dass es ihm leid tue. Aber er hatte Furcht, sich zu erkennen zu geben. Schließlich wusste er nicht, wie sie reagieren würde. Auch hatte er Angst vor sich selber. Schließlich wäre das die größte Herausforderung für seine Nerven seit drei Jahren. Der heutige Tag war schon sehr anstrengend gewesen, seit drei Jahren zum ersten Mal wieder draußen. Wie würde er reagieren, wenn sie zum schreien anfangen würde. Würde es wieder zu einer Kurzschlussreaktion kommen wie damals, würde er wieder durchdrehen und sie schlagen und vergewaltigen? Er wusste es nicht.
Als er wieder zum Restaurant kam, schritt sie zufällig gerade aus der Tür und schlug den Weg vor ihm ein. Unschlüssig ging er einfach hinter ihr her. In einer dunklen Gasse entschloss er sich dann doch, sie anzusprechen, ohne groß darüber nachzudenken, was er ihr sagen würde, einfach aus einem Impuls heraus. Er räusperte sich und sprach mit leiser aber noch hörbarer Stimme: "Hallo."
Als sie ihn erkannte, wollte sie schreien. Aber dieser blieb ihr im Hals stecken. Sie wurde blass, bleich. Ihr wurde schwindlig, alles drehte sich. Sie wollte weglaufen, aber ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie blieb ohnmächtig stehen. Als er sie so sah, fiel er auf die Knie und flüsterte mit feucht werdenden Augen zu ihr: "Es tut mir leid. Es tut mir schrecklich leid! Bitte verzeih mir."
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