Das Strukräuberchen oder Meinem Vater, in Liebe gewidmet
© Claudia Dal-Pos
Tief im dunklen Tann, im Wald, da wo es am dunkelsten und stillsten ist und wo die Bäume so dicht stehen und so tief bis auf den Boden gewachsen sind, dass Menschen nicht mehr durchkommen können, wo sogar Tiere sich ducken und kriechen müssen, wo es geheimnisvoll ist und selbst die Natur lauscht, dort, ja dort wohnt das Strukräuberchen. Kennst Du das Strukräuberchen? Nein, wie solltest Du es kennen. Eigentlich habe ich selbst nicht geglaubt, dass es das Strukräuberchen gibt, denn nur mein Vater nannte mich so
als Kind. Es war wohl ein lieber Ausdruck für "Strauchdiebchen". Immer, wenn wir im Wald waren und Pilze suchten, kroch ich wie ein kleiner Strauchdieb unter die dichtesten Büsche und robbte hierhin und dorthin, tauchte dann wieder auf wie ein kleiner Kobold, die Haare und die Kleider voller Tannenzweige, Spinnweben und Blätter. "Mein kleines Strukräuberchen", sagte er dann immer liebevoll und lachte.
Als ich noch ein kleines Mädchen war, so im Alter von 8 oder 9 Jahren, gerade so, wie Du jetzt, ging ich oft mit meinem Vater in den Wald. Im Herbst ist Pilzzeit und mein Vater kannte sich bestens mit den Pilzsorten aus. Viele Nachbarn und Bekannte guckten uns mitleidig an, wenn wir das erzählten und fürchteten um unser Leben. Aber bis heute ist uns kein giftiger Pilz ins Haus gekommen und das wird wohl auch so bleiben. Was man einmal gelernt hat, vergisst man eben nicht so leicht. Besonders, wenn es einem in
Liebe vermittelt wird. Meine Lieblingspilze waren immer die Steinpilze und sie sind es auch heute noch. Nicht, dass ich sie besonders gerne esse, nein, das muss gar nicht sein. Sie schmecken zwar prima, aber der wirkliche Spaß ist das Suchen. Und das Finden. Und wie ich suchte! Und wie ich fand! Mit leuchtend roten Backen tauchte ich aus dem tiefsten Gebüsch auf, wenn es so war und mein Vater eilte schnell hinzu, um den Pilz gebührend zu bewundern und ihn dann vorsichtig abzuschneiden. Auch das will gelernt sein.
Denn so einen Pilz rupft man nicht einfach aus, dann ist die Wurzel mit draußen und es wird dort nie wieder ein Pilz wachsen. Nein, man schneidet ihn sauber am Stängel direkt über der Erdoberfläche ab. "Die Wurzel bleibt drin. Dann kommt ein neuer Pilz und auch die Tiere im Wald haben etwas davon. Die Natur hat ihr Recht und muss respektiert werden", sagte mein Vater immer. Ich bekam schließlich mein eigenes, etwas stumpfes Taschenmesser und durfte die Pilze dann ebenso sorgfältig alleine abschneiden.
Wir sammelten sie in einem Korb, damit sie atmen konnten und nicht matschig wurden und trugen ihn stolz nachhause zu meiner Mutter, die dann die Arbeit damit hatte. Pilze putzen, verlesen, diverse Würmer und Spinnen abklauben, klein schneiden und ein schmackhaftes Mahl daraus zubereiten.
Eines Tages fand mein Vater einen neuen Weg. Er führte in einen uns bisher unbekannten Wald, der sehr groß und sehr tief war. Dunkle riesige Tannen standen dicht beisammen, auch Laubbäume und Sträucher gab es dort und dazwischen fanden sich kleine Lichtungen, die mit Moos und Gras bewachsen waren. Mein Vater schlug vor, dass wir uns in zwei Richtungen bewegten, wobei er mir einschärfte, immer in Rufweite zu bleiben, so dass er mich nicht verlor. Ab und zu rief er meinen Namen und ich rief zurück, damit wir uns
nicht zu weit voneinander entfernten.
Nach ein paar Schritten fand ich schon den ersten großen Fliegenpilz neben anderen kleinen Arten, die ich nicht kannte und folgte begeistert der Spur von Pilzen. Ich bemerkte nicht, dass ich mich immer tiefer in den Wald hinein bewegte. Ich sah eine Kreuzspinne, um die ich einen großen Bogen machte, weil sie ihr Netz zwischen zwei Bäume gesponnen hatte, bewunderte es jedoch gebührend aus der Entfernung. Auf einem großen Baumstumpf wuchs ein interessanter Baumpilz, der wie ein Gesicht aussah und ich betrachtete
ihn lange. Eine Weile folgte ich aufgeregt einem Eichhörnchen, das hoch in den Baumwipfeln über mir von Ast zu Ast tobte. Etwas weiter kam ich an eine Grube, in der sich Laub und allerlei Äste befanden, außerdem der Kadaver eines toten Hasen. Ich überlegte, wie der Hase wohl gestorben war und beschloss, meinen Vater zu fragen. Dabei fiel mir auf, dass mein Vater mich länger nicht gerufen hatte und so rief ich ihn. Ich rief einmal, zweimal, zehnmal, aber ich erhielt keine Antwort. Da bekam ich Angst. Ich rannte
kopflos in verschiedene Richtungen und suchte und rief. Pilze, ja sogar Steinpilze, die dort standen, beachtete ich nicht. Ich wollte nur meinen Vater finden. Es war etwas dämmerig dort und roch nach Moos und Tannengrün und ich stolperte über eine Baumwurzel und blieb verdutzt sitzen. Ein paar kleine Tränen suchten sich den Weg über mein Gesicht und ich saß einsam dort und hatte Angst und dachte, was wohl passieren würde, wenn mich niemand fände und die Nacht hereinbräche. Ob wohl Füchse oder andere Tiere hier
hausten und mich finden würden? Erschöpft schloss ich die Augen und weinte ein bisschen. Nach einer Weile hörte ich ein zaghaftes Stimmchen. "Warum weinst Du denn? Hast Du Dich verlaufen?" Ich öffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines kleinen, verhutzelten Männleins, welches verschmitzt zwinkernd zwischen meinen Füßen stand. "Wer bist Du denn?" staunte ich. "Ich bin das Strukräuberchen" lächelte das Männlein stolz. "Hüter aller Pflanzen und Tiere hier im Wald. Ich gebe
Acht, dass die Ordnung des Waldes nicht gestört wird und räume hinter den Menschen her, die hier so achtlos ihren Unrat fallen lassen. Ach, eine nie endende Plage." Nach diesen Worten seufzte das Männlein und sah mich gequält an. Ich schämte mich ein wenig, denn auch ich hatte gelegentlich ein Bonbonpapier oder ein Taschentuch fallen lassen, wenn mein Vater nicht hingesehen hatte. "Hast Du Dir wehgetan?" fragte das Männlein besorgt. "Nein" sagte ich. "Ich habe mich verlaufen und
meinen Vater verloren. Jetzt sitze ich hier und habe Angst, dass mich niemand findet." Ich schluchzte ein wenig, denn ich tat mir ein bisschen selber leid.
"Ach", antwortete das Männlein vergnügt, "wenn es mehr nicht ist. Im Wald verläuft man sich nicht so einfach. Man kann der Spur eines Flusses folgen oder eine Lichtung suchen. Man kann schauen, in welcher Richtung die Bäume mit Moos bewachsen sind und vieles mehr. Man kann sogar die Tiere fragen, aber manche sind schüchtern und reden nicht gerne. Hast Du denn das nicht in der Schule gelernt?" "Nein", antwortete ich. "Dort lerne ich lesen und schreiben, aber leider nicht viel
über den Wald. Und schon gar nichts über Dich."
"Das ist ja die Höhe!" schimpfte das Männlein erbost. "Da unterschlagen sie wohl wieder einmal, dass es mich gibt, die Menschen!" Das Männlein brummelte in seinen Bart und ich befürchtete, es verärgert zu haben. "Woher soll man denn wissen, dass es Dich gibt?" fragte ich zaghaft. Da lächelte das Männlein schlau. "Nur Menschen, die der Fantasie einen Platz in ihrem Herzen einräumen, lernen uns kennen. Die anderen wissen ein Leben lang nichts von uns oder von den Dingen, die wirklich
im tiefen Wald geschehen." Ich dachte über diese Worte nach und wurde sehr müde. "Schlaf ein bisschen", ermunterte mich das Männlein. "Und wenn Du wieder wach bist, zeige ich Dir, wie Du aus dem Wald herausfindest. Dann suchen wir auch Deinen Vater. Mach Dir keine Sorgen. Es wird Dir kein Leid geschehen."
Ich schloss die Augen und schlief ein. Ein großer Käfer krabbelte über meine Hand, aber ich bemerkte es nicht. Erst, als mich jemand an der Schulter berührte, wurde ich wach und schreckte hoch. Vor mir stand mein Vater mit ernstem Gesicht. "Hast Du mich nicht rufen hören?" fragte er und sah schrecklich besorgt aus. "Ich habe den halben Wald nach Dir abgesucht, aber Du warst verschwunden. Dabei warst Du gar nicht weit von mir weg. Du bist wohl gestolpert und hingefallen. Darüber musst Du einschlafen
sein. Ich bin so froh, dass ich Dich gefunden habe. Komm, lass uns nachhause gehen."
Mein Vater nahm mich fest an die Hand und wir traten den Heimweg an. Unterwegs erzählte ich ihm aufgeregt von dem Männlein und versicherte ihm, dass mir das Strukräuberchen den Weg nach Hause gezeigt haben würde, nachdem ich ausgeschlafen hatte.
Mein Vater hörte sich die Geschichte wortlos an und antwortete schließlich, ich sei wohl eingeschlafen und habe schön geträumt. Aber er sah mich nicht an, als er das sagte und ich bemerkte ein seltsames Lächeln auf seinem Gesicht. So, als ob er genau wüsste, wovon ich sprach…
Ob ich mir das alles nur eingebildet habe? Vielleicht. Oder habe ich es wohl geträumt? Bestimmt sogar. Möglich wäre es. Aber ist das wichtig? Ist es nicht denkbar und auch ein wunderschöner Gedanke, dass Wesen, die wir nur im Märchen vermuten, tief im Wald, da wo sie wunderbar hinpassen würden, zwischen großen alten Eichen oder Tannen, unter Baumstümpfen oder zwischen Gräsern leben und wundersame Dinge tun? Oder denkst Du, dass es das Strukräuberchen gar nicht geben kann? Aber es ist mir begegnet und seitdem
glaube ich, dass im Wald, ja bestimmt auf der Welt überhaupt, mehr Dinge existieren, als wir uns vielleicht vorstellen können. Also verliere Deinen Glauben nicht an Elfen und Feen, Einhörner und Zauberer und Wichtel, sprechende Tiere, den Weihnachtsmann und das Christkind und all diese unglaublich schönen Dinge. Gib Deiner Fantasie eine Chance, bewahre Dir Deinen kindlichen Glauben und vergiss niemals, Dein Herz immer zu öffnen für die kleinen Wunder, die Dir ganz leicht begegnen können, eines Tages, wenn Du
es am wenigsten erwartest.
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