Väinämöinen
© Manfred Schröder
Es war Frühling. Jukka lief durch das feuchte, mit Tauperlen bedeckte morgendliche Gras, das sich an seine nackten Füße schmiegte. Der Wind roch nach frischer Erde und Schilf am See. Ein Zug wilder Schwäne flog über ihn dahin und fiel ins Land. Er kletterte auf einen der großen Steine, auf denen früher Riesen gesessen hatten. So jedenfalls hatte es ihm Urho erzählt. Uralt war er und hatte sie bestimmt noch gekannt. Der Junge liebte diesen Platz. Und wenn er auf dem Rücken lag und Wolken am Himmel über ihn hinwegzogen, zog er mit ihnen bis ins Nordland. Doch jetzt stand er aufrecht und sein Blick ging über den See; über weite Felder bis zu den Wäldern, wo Ilmarinen noch immer die Esse schlägt. Und es gibt Menschen, die den Klang auch heute noch hören, den an manchen Tagen der Wind herüberträgt.
Ihn überfiel die Lust zum Singen. Den alten Väinämöinen herauszufordern. Den alten Urzeitsänger. Die Freude in seinem Herzen hinauszutragen in den sonnendurchfluteten Morgen. Er hob seine Arme und eine helle Stimme schwebte in der Luft. Sie stieg höher und eine Lerche antwortete mit übermütigem Schall. Der Wettgesang lockte Bär und Fuchs, Wolf und Hase aus Höhle und Bau.
Jukka blickte zum See, dessen Ufer weißfedrig geschmückt war. Plötzlich teilte sich das Wasser, schäumte auf und aus den Fluten entstieg Väinämöinen, der Urzeitsänger. Groß erhob er sich und an Bart und Haar hing der Tang des Sees. Er gewahrte Jukka und kam auf ihn zu.
"Nun, wer hat mich da gerufen? Hat an meinem Ohr gekitzelt? Den alten Sänger in mir wach gemacht?"
Da stand nun Jukka. Ja, er hatte ihn herbeigesungen. Wollte sich mit ihm messen. Nun, wo dieser vor ihm stand, brachte er keinen Ton hervor.
Doch Väinämöinen lachte. "Hör, Milchbart. Hast mir einen großen Schrecken eingejagt mit deinem Lied. Und weiß nicht recht, darauf zu antworten. So lasst uns denn gemeinsam zum großen Gesang anheben."
Jukkas Augen wurden wieder hell und klar. Seine Brust atmete frei und ein erster hoher Klang entflog seinem Mund. Dann fiel Väinämöinen ein. Mit Tönen uralt und tief.
Die Bauern auf den Feldern, richteten sich auf. Der Teig der Bäuerin blieb an ihren Fingern kleben. Und der Fischer vergaß seine Netze auszuwerfen.
Eine Stimme drang an Jukkas Ohr. Er öffnete die Augen. Vor dem großen Stein stand Aino.
"Was machst du da und stehst mit erhobenen Armen und schaust Löcher in die Luft?"
Er rieb seine Augen.
"Väinämöinen ..."
Aino lachte hell auf.
"Hast wieder geträumt von Väinämöinen. Doch komm herunter und lasst uns Fangen spielen. Und vergiss den alten Rauschebart!"
Jukka stand noch einen Augenblick und dachte nach.
"Na, komm schon!", rief Aino zum zweiten Male.
Dann lachte auch Jukka und sprang vom Stein. Aino rannte davon und Jukka lief ihr nach. Wenn er glaubte, sie greifen zu können, schlug sie wie der Hase einen Haken und Jukka fasste ins Leere. Aino lachte und das heitere Spiel begann von vorne. Endlich ließ sich Aino auf den Boden fallen und Jukka warf sich neben sie. Er blickte in zwei blaue Augen, die wie ein See waren und zum Schwimmen einluden. Er legte seinen Kopf auf ihre junge Brust. Aino lächelte und fuhr mit der Hand über sein dunkles Haar.
*
Väinämöinen = Hauptheld des finnischen Nationalepos Kalevala
Ilmarinen = Schmied. Ebenfalls eine Hauptfigur des Kalevala
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