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Späte Erkenntnis
© Katia Ben Suss
Susan schlug die Augen auf, doch es bot sich kein gewohntes Bild, genau genommen bot sich ihr gar kein Bild. Zunächst dachte sie, sie sei eben noch gar nicht aufgewacht und ihre Augen wären noch immer fest verschlossen - doch dann wurde ihr bewusst, dass ihre Lider sich bewegten und ihre Augäpfel suchend in den Augenhöhlen hin und her glitten. Ihre Pupillen wollten krampfhaft einen Reiz empfangen, ein winziges Licht erhaschen und dem Gehirn mitteilen, dass alles in Ordnung war.
Aber es war ganz und gar nichts in Ordnung hier. Ein beklemmendes Gefühl stieg in der alten Frau hoch, kroch die müden alten Beine entlang und schleppte sich über den gesamten hageren Unterkörper, bis es schließlich den Hals erreichte und pulsierend in ihrem Kopf ein jähes, aber explosionsartiges Ende fand.
Es war ein ihr nicht unbekanntes Gefühl - doch noch schlimmer als diese Erkenntnis, war jene, nicht zu wissen wo sie war und wie sie dort hin gelangt war. Susan hatte keinen blassen Schimmer wie spät es war oder was sie getan hatte bevor sie in diesem dunklen Hier und Jetzt verzweifelt die Augen geöffnet und wieder geschlossen hatte bis ihr klar wurde, dass sie von völliger Dunkelheit umgeben war.
Eine zittrige Hand der alten Frau wanderte ein Stück über den glatten Untergrund, auf dem sie lag, der andere Arm war durch ihr eigenes Gewicht unter ihrem Körper eingeklemmt und fühlte sich an, wie ein starres Stück Holz. Überhaupt war sie in einer sehr unbequemen Art und Weise zum Liegen gekommen, denn ihre Glieder schmerzten fast noch mehr als ihr Kopf. Abgelenkt durch die wirren Gedanken, die sich in ihrem Kopf überschlugen, wurde sich ihrer Schmerzen, die ihren gesamten Körper durchzogen, erst langsam bewusst.
Durch die Steigerung der Schmerzintensität mit anmaßender Schnelligkeit, schwoll in ihrem Körper aber bald ein stummer, gellender Schrei nach Befreiung der alten Glieder an.
Susan versuchte ihre taube Hand unter ihrem Körper hervor zu ziehen, eine angenehmere Lage einzunehmen und somit dem flammenden Inferno ihrer Glieder etwas Einhalt zu gebieten.
Ein derber, fauliger, abgestandener Geruch legte seinen Mantel über ihr Gesicht und für einen Augenblick dachte die Alte, eine Hand über ihrem faltigen Antlitz gespürt zu haben. Die Luft war dick und schwer und ließ ihren Atem auf der Suche nach Sauerstoff, noch ein wenig schneller gehen.
Sie lag nun rücklings auf dem harten, kühlen Boden und wurde sich über die Enge des Raums kläglich bewusst - kaum ein Meter trennte die rechte von der linken Seite, ihre Beine hatten ebenfalls eine Begrenzung gefunden- blieb nur noch der Kopf und das, was über ihr lag.
Keuchend hob sie den Arm mit ausgestreckter Hand und stieß gegen eine Decke.
Ihr gesunder Menschenverstand machte der sich ausbreitenden Panik in ihrem Kopf Platz und ließ der Vermutung, sie läge in einem Sarg - lebendig begraben, mehrere Meter tief unter der Erde, freien Lauf.
Wie konnte das bloß geschehen sein? Warum konnte ihr alter Kopf, der so viele Erinnerungen beherbergte, ihr nicht sagen was sie zuletzt getan hatte?
War sie tot? Sollte das alles gewesen sein? In einen behelfsmäßigem Sarg geworfen und verscharrt wie einst die Aussätzigen in schlichten Kisten ohne jegliche Zeremonie beseitigt? Und wer konnte das zugelassen haben? War sie allein oder hatte sie jemanden an ihrer Seite, der sie durch ihre letzten Jahre begleitete?
Unzählige Fragen woben in ihrem Kopf ein riesiges Spinnenetz aus Angst und Verwirrung.
Die Kehle wurde ihr eng als sie zu einem Schrei ansetzte und lediglich ein leise pfeifendes Geräusch verließ ihre Lippen. Doch dann nahm sie alle Kraft und Wut, die man neben der Panik angesichts der auswegslosen Situation aufbringen konnte, zusammen:
Ihr Körper pulsierte und jagte das Adrenalin wild durch die Arterien und zurück durch die porösen Venen.
In Hoffnung auf Hilfe explodierte sie in einem entsetzlichen Schrei der durch Mark und Bein ging, falls ihn jemand gehört hatte. Sie schlug und trat um sich mit der Kraft, die ihr alter Körper noch zum Einsatz bringen konnte. Die umher rauschenden Hormone in ihrer Blutbahn ließen die Schmerzen auf ein erträgliches Maß sinken und gaben ihr zu dies noch die nötige Energie um ihrem tobenden Anfall eine angemessene Lautstärke zu verleihen.
Mit weit aufgerissenem Mund lag sie strampelnd wie ein Säugling in der absoluten Dunkelheit und wollte der Welt zeigen, dass sie noch nicht bereit war zu sterben - auch wenn sie nicht wusste wer sie war und wo sie war, wollte sie nicht kampflos hinnehmen, dass jemand sie begrub solange ihr Herz noch Kraft zu schlagen hatte. Niemand konnte ihr das antun, das durfte einfach nicht wahr sein!
Nach einigen Minuten, verließen sie die Kräfte und Susan beruhigte sich ein wenig. Sie hatte vor, nur einige Sekunden zu verharren und dann gleich wieder loszulegen - doch ihr gemarterter Körper wollte ihr diesen Dienst nicht erweisen. Mit pochendem Herz lag die alte Frau in ihrem Gefängnis und scharrte an den Seitenwänden, um sich nicht der allumgebenden Stille hinzugeben.
Plötzlich griff sie in etwas klebriges, das sich unmittelbar neben ihrem Körper befand. Es war fast von schleimiger Konsistenz uns schien schon ein wenig des ursprünglichen Flüssigkeitsgehalts verloren zu haben.
War es Blut? Ihr eigenes vielleicht? - Sie war sich keiner Verletzung bewusst, doch sie griff instinktiv an ihr Hinterhaupt und fand auch dort diese klebrige Masse. Als sie die Stelle abtastete, empfand sie diese zwar als überaus schmerzhaft, aber sie konnte keine offene Wunde ertasten. Langsam führte sie ihre Hand an die Nase. Sie erwartete einen leicht metallischen oder aber auch gar keinen Geruch und war nicht wenig überrascht, Erdbeeren zu riechen.
Erdbeeren!
Der plötzliche Sauerstoffstoß, den ihr Gehirn bei ihrem Getobe erhalten hatte, brachte auch ihre Gedanken und Erinnerungen wieder auf Trab: Sie sah sich selbst am Herd stehen vor einem Topf Erdbeermarmelade.
Natürlich! Sie bereitete jedes Jahr für den Winter einen Vorrat an Erdbeermarmelade zu und lagerte sie unten im - Keller, auf dem wackeligen Regal über der alten Gefriertruhe.
Susan benutzte sie nur über den Winter wenn sie besonders viele ihrer Freunde und Verwandten einlud und Speisen schon vorbereitete.
Wie oft hatte sie Phil - ja PHIL! Ihr Mann, natürlich! Wie oft hatte sie ihn schon gebeten, das Brett doch zu fixieren, da ihre alten Gelenke nicht mehr die Kraft aufbrachten einen Schraubenziehen zu drehen?
Suchend griff sie in der Truhe - nicht Sarg - blind umher, doch sie fand kein Brett oder ähnliches, mit dem sie hätte Lärm machen können. Wahrscheinlich hatte es sich nur auf einer Seite gelöst und einige Gläser waren herabgeglitten als sie gerade dabei war die Truhe für den Winter auszuwischen und .... Sie bekam eine dicke Glasscherbe zu fassen - wie sich herausstellte war es die Hälfte des Marmeladenglases, welches ihr auf ihr Hinterhaupt geschlagen, sie in die Bewusstlosigkeit befördert und ihres Gedächtnisses
beraubt hatte.
Erleichtert huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und selbst die Tatsache, dass sie sehr viel Sauerstoff für ihren Anfall verbraucht hatte ließ ihre Hoffnung nicht schwinden. Sie fühlte sich sehr müde und ihr Atem war flach geworden, ihre Haut war heiß und feucht.
Nur Ruhe bewahren dachte sie, als sie anfing mit der Scherbe an die Wand zu klopfen. Phil würde sie bestimmt bald finden und hier rausholen. Er würde bald kommen,...
Doch ein seltsames Gefühl beschlich sie, als sie versuchte sich an seine letzten Worte zu erinnern...
"Leb wohl, Susan ..."
Eingereicht am 24. September 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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