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Mord im Bürgerpark
© Tommy Lachmann
Der Bürgerpark lag nur scheinbar verlassen in der Dunkelheit, in die sich heute nicht einmal der Mond sein fades Licht zu schicken getraute. Schwarze Wolken hatten den Himmel verdeckt, hingen fast bis in die Kronen der hohen Bäume und machten den Park noch dunkler, als er es zu dieser nächtlichen Stunde ohnehin war. Allen Einwohnern des idyllischen Städtchens war das abendliche Treiben zwischen den Dirnen und ihren Freiern im Bürgerpark bekannt. Daher machte der sittsame Bürger am Abend und besonders bei Nacht
einen weiten Bogen um dieses verruchte Fleckchen dieser Stadt.
Niemand bemerkte daher an diesem finsteren Abend die dunkle Gestalt, die durch die Büsche geschlichen war und sich einen Platz in der Nähe des Pavillons gesucht hatte. Ein Mann, der nun wie versteinert hinter einer dicken Buche saß. Nur eine der drei Bänke vor dem Pavillon war von einem Pärchen besetzt. Ein Pärchen, das diese Bank etwas später zwecks ihres erotischen Geschäftes dann belegte.
Wie vor Wochen war es auch heute das gleiche Spiel, das den dunkel gekleideten Mann hinter dem Baum so reizte. Gebannt starrte er auf diese Szene, bis sich das Pärchen nach getätigtem Geschäft erhob, sich unvermittelt trennte und jeder von ihnen wortlos in eine andere Richtung verschwand.
Die dunkle, kräftige Figur, die mit dem Baumstamm verwachsen schien, kannte den Rückweg des Mädchens genau. Mit jedem Schritt, den das Mädchen ihm näher kam, spürte er das stärker werdende Beben seines Körpers. Der Mann hatte auf diesen Moment gewartet und die unerträgliche Spannung schien seinen Körper zu schütteln. Seit Tagen schon hatte er dieses Mädchen auf der Straße und im Park beobachtet. Einmal sogar hatte er sie vor dem Park angesprochen, nett mit ihr verhandelt und so ihren Namen erfahren. Ihr Angebot
jedoch hatte er freundlich bedauernd ausgeschlagen und war weitergegangen.
"Ingrid", murmelte er jetzt in sich hinein, "Ingrid, was wird nur dein Zuhälter dazu sagen? Gleich hast du dein unsittliches Lotterleben hinter dir!" Alles lief genau so ab, wie es auch einige Wochen zuvor mit dem Mädchen Heidi geschehen war. In der nächsten Sekunde würde Ingrid dicht an ihm vorübergehen, da sie zurück auf die Straße wollte, wo sie mit ihren Kolleginnen flanierte und auf neue Kundschaft wartete. Als das Mädchen endlich den Baum passierte, ging alles rasend schnell. Wie ein
gehetztes wildes Tier sprang der Mann aus seinem Versteck, ergriff von hinten mit beiden Händen die Kehle des Mädchens, um es am Schreien zu hindern. Das Mädchen zappelte im Todeskampf wie eine Gazelle in den Fängen eines Löwen. Ihre panische Angst verschaffte diesem Mann Hochgenuss und seine starken Fäuste verhinderten jeden Laut aus ihrer Kehle. Kraftvoll riß er das Opfer herum und als er in die entsetzten Augen des Mädchens sah, drückte er ihr lustvoll die Kehle zu. Es dauerte nur Sekunden, bis ein kaum vernehmbares,
letztes Stöhnen aus Ingrids Mund ihr Leben beendete und ihr Körper leblos auf den Boden sackte. Nachdem der Mann den schlaffen Körper des Mädchens minutenlang lustvoll betastet hatte, verschwand er mit riesigen Schritten, als sei der Leibhaftige hinter ihm, zwischen den Bäumen und Büschen, ohne dass jemand zunächst etwas von diesem Vorfall bemerkte. Ähnlich hatte auch Heidis Leben vor einigen Wochen geendet. Nur war dieser Mord an einer anderen Stelle des Parkes geschehen.
XXX
Kriminaloberkommissar Wolfgang Franke, der seit einigen Jahren seinen Dienst im hohen Norden des Landes versah, machte mit seiner Frau Katja einen dreitägigen Besuch in dem kleinen idyllischen Städtchen in Niedersachsen, seinem Heimatort.
"Ich freue mich riesig auf Angelika und Dieter", hatte Wolfgang zu Katja vor der Abfahrt gut gelaunt gesagt. Beide besuchten so oft wie möglich ihre Heimatstadt. Hier hatten sie ihre Jugend verlebt, sich kennen gelernt und schließlich geheiratet. Ihr Freund Dieter Hanke, der als Trauzeuge fungiert und mit Wolfgang gemeinsam die Polizeischule absolviert hatte, war als tüchtiger Kriminalbeamter in ihrer alten Heimat geblieben. Heute waren Katja und Wolfgang seine Gäste. Dieter und seine Frau Angelika
freuten sich auf einen gemütlichen gemeinsamen Abend mit ihren alten Freunden, während Katja und Wolfgang sich zunächst für einen ausgedehnten Stadtbummel losgeeist hatten.
"Es ist schön, wieder mal durch unsere alten, vertrauten Straßen zu laufen", begeisterte sich Katja, "findest Du nicht?" - Wolfgang jedoch sah gebannt auf die andere Straßenseite und konnte seinen Blick nicht von einer seltsamen Gestalt lösen, die allein des Weges kam. - "Was ist los, was hast Du denn?" Katja war neugierig geworden.- "Den da drüben kenne ich genau, aber ich weiß nicht woher", sagte Wolfgang. - "Ja", nickte Katja, "jetzt, wo Du es sagst, kommt
der mir auch bekannt vor. Weißt Du was", sie überlegte angestrengt, "irgendwie erinnert der mich an unsere Hochzeit vor 15 Jahren." - "Wieso unsere Hochzeit?", fragte Wolfgang verwundert. - "Ich weiß es ja nicht, es ist nur so eine Idee, aber ich kenne ihn auch ganz genau und glaube, dass er auf unserer Hochzeit war", sagte Katja. - "Aber ich kann ihn nicht unterbringen", grübelte Wolfgang, "wenn nur dieser schleppende Gang und die Glatze nicht wären." -
"Komm", meinte Katja forsch und erwartungsvoll, "den sehen wir uns genauer an!" Sie überquerten die Straße, stießen auf den Passanten und sahen sich gegenseitig in die Augen. Der Fremde zeigte keine Regung, doch Wolfgang stieß einen Laut der Verblüffung aus: "Mensch Kati, das gibt es doch gar nicht! Weißt Du, wer das ist?" - Katja überlegte, konnte sich jedoch noch immer nicht erinnern und schüttelte den Kopf: "Nein, wer ist es denn nun?" Der Fremde guckte verständnislos
und war stehengeblieben. "Das ist Peter - mein Bruder!!" - "Was denn ...", Katja sah ungläubig auf den Fremden, "das soll Peter sein?" - "Peter?", fragte Wolfgang den Fremden und als der andere bestätigend nickte, war er sich nun ganz sicher. "Peter, wo kommst Du denn her? Wo warst Du denn die ganze Zeit? Warum hast Du Dich nie gemeldet? All die vielen Jahre?"
Fragen über Fragen, doch Peter konnte nicht eine dieser Fragen beantworten. Fast tonlos sagte er: "Tut mir leid, ich kenne Sie leider beide nicht! - Aber woher wissen Sie meinen Namen?"
Wolfgang war erschüttert. "Peter, wieso kennst Du denn Deinen eigenen Bruder nicht?", fragte er enttäuscht. "Mein Bruder?" Peters Blick wurde etwas interessierter. "Der Autounfall damals", stammelte er dann, "dieser verdammte Autounfall hat mir mein Gedächtnis völlig zerstört." Er machte jetzt ein Gesicht, als litte er Höllenqualen.
Peter war immer ein Sonderling gewesen und hatte schon als Kind oft von einer Auswanderung gesprochen. Irgendwann war er dann zur See gefahren und etwas später wie vom Erdboden verschwunden. Niemand in der Familie hatte mehr etwas von ihm gehört. Dann hatte man ihn vergessen wie einen verlorenen Sohn.
Nun stand er plötzlich vor Wolfgang und Katja in seinem Heimatort auf der Straße! Aber in welch einem Zustand! Er konnte sich nur schleppend bewegen, das linke Bein war steif, der Kopf fast haarlos und voller Narben. Peter zeigte ein seltsames Verhalten, war bewegt über dieses Treffen und schien zu leiden, dass er Bruder und Schwägerin nicht erkannte. Peter hatte weder jemals eine eigene Familie noch eine Frau gehabt und wurde daher von niemandem wirklich vermisst.
"Wo wohnst Du denn und wovon lebst Du eigentlich?", fragte Wolfgang seinen Bruder bewegt. "Ich war sehr lange im Krankenhaus und lebe jetzt in einem Heim für alleinstehende Männer", erzählte Peter traurig, "und ich habe eine kleine Invalidenrente vom Staat." - "So geht das ja nicht", sagte Wolfgang und steckte seinem Bruder verstohlen einen Hundertmarkschein zu, was Katja verständnisvoll ohne Einwand duldete. Dann tauschte man die Adressen aus, verabschiedete sich etwas
bedrückt und versprach Peter fest, sich bald wieder bei ihm zu melden und sich um ihn zu kümmern.
XXX
Abends saßen Katja und Wolfgang endlich bei ihren Freunden Dieter und Angelika gemütlich am Kamin. Sie schwelgten in Erinnerungen und es gab eine Menge zu erzählen. Natürlich kamen auch die beruflichen Erfahrungen unter Kollegen nicht zu kurz.
"Was ist denn eigentlich aus dem Fall Heidi Köster und Ingrid Kreuzer geworden", fragte Wolfgang interessiert, "alle Zeitungen waren doch voll von diesen Morden an den zwei Prostituierten im Bürgerpark."
"Die diesem merkwürdigen Würger zum Opfer gefallen waren? - Nun", erklärte Dieter, "wir konnten diese beiden Fälle, die ja nun bereits 11 Jahre zurückliegen, niemals aufklären".
"Merkwürdig", meinte Wolfgang, "Ihr seid doch sonst ganz tüchtige Jungs! Es ist schon recht eigenartig, dass es danach nie mehr zu einem dritten Fall kam". - "Ja", nickte Dieter, "das ist wirklich erstaunlich, die ganze Stadt war in Aufruhr, und auch wir von der Polizei rechneten fest mit weiteren Morden. Doch es geschah nie mehr etwas." - "Wie abgerissen", wiegte Wolfgang seinen Kopf, "das ist doch eigentlich recht unwahrscheinlich." - "Tja, die
Fingerabdrücke dieses wahnsinnigen Täters, der nicht einmal Handschuhe trug, sind zwar deutlich und liegen uns vor", berichtete Dieter, "doch den Täter haben wir trotzdem nie gefasst. Er ist in keiner Kartei zu finden. - Vielleicht hat er sich ja zu Dir in den Norden abgesetzt!!", beendete Dieter lachend seine Erzählung. - "Möglich ist alles", meinte Wolfgang beiläufig, "gebt mir doch die Unterlagen und Fingerabdrücke mal offiziell zur Einsicht mit. Wäre toll, wenn wir ihn doch noch
erwischten!" - "Das wäre zu schön um wahr zu sein", sagte Dieter, "aber um ehrlich zu sein, ich glaube es nicht."
XXX
"Wie wär´s, Wolfgang, wenn wir mal in unseren alten Familienalben blätterten?" fragte Katja als sie wieder zu Hause waren. "Möglicherweise können wir Peter doch helfend unter die Arme greifen". - "Ja", nickte Kriminaloberkommissar Wolfgang Franke erfreut, "wenn Peter diese vielen Bilder von früher sieht, besteht vielleicht die Möglichkeit, dass er sich doch wieder an uns und dadurch an seine Vergangenheit erinnert". - "Das müssen wir unbedingt versuchen", rief
Katja engagiert.
Es wurde ein trauter Familienabend. Katja hatte einen alten Pappkarton auf dem Schoß, wühlte in den Bildern und hielt plötzlich lachend zwei alte vergilbte Personalausweise aus dem Jahr 1947 in den Händen. "Hier", sagte sie, "von dir und Peter. Es waren Eure ersten Ausweise. Sieh´ nur, damals drückte man den Daumen noch auf´s Tintenkissen und machte den Abdruck rechts direkt neben das Bild" sagte sie und strahlte vergnügt.
"Ja, an diese Zeit kann ich mich noch gut erinnern. Was waren wir stolz auf unsere ersten Ausweise", lachte Wolfgang.
"Vergleich doch mal Eure Fingerabdrücke mit denen des Täters", scherzte sie herzlich lachend. - "Na, Du hast vielleicht Ideen", schmunzelte Wolfgang, "aber gut, gib mal her. Wir haben ja sonst nichts zu tun!" Er hatte bald alle möglichen Utensilien hervorgeholt und machte sich vergnügt ans Werk. Plötzlich wurde er kreideweiß. "Na", lächelte Katja, "bist Du nun doch der Täter?" - "Nein", sagte Wolfgang mit einer Stimme, die sie nicht an ihm kannte, "nicht
ich, sondern mein Bruder Peter ist der Mörder!" Katja war mit offenem Mund stehen geblieben und sah auf Wolfgang als sei er nicht mehr ganz richtig im Kopf. "Das kann doch nicht wahr sein", sagte sie betreten, "bist du dir da sicher?"
"Ganz sicher allerdings bin ich erst morgen, wenn ich eine genauere Untersuchung gemacht habe, nach dem Dienst versteht sich, denn die Kollegen …aber ich denke ..." Der Abend war gelaufen, die Stimmung auf dem Tiefpunkt und den beiden war die Lust auf weitere alte Bilder gründlich vergangen.
Katja wartete den ganzen nächsten Tag ungeduldig auf Wolfgang. "Na und", fragte sie gespannt, kaum dass die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, "was ist denn nun?" - "Peter, der ewige Frauenhasser", nickte Wolfgang fast tonlos, "das ist die Lösung! Er war es einwandfrei und wurde nur nie gefunden, weil er nachts in das Auto gelaufen war. Der schwere Unfall war seine Rettung! Im Krankenhaus und später in einem Pflegeheim sucht man höchst selten nach einem wahnsinnigen Mörder!
Verdammt!!!"
Wolfgang und Katja sahen sich entsetzt an und schwiegen. Nach einer Weile fragte Katja ängstlich: "Und? Was wirst du tun?" - Wolfgang zuckte hilflos mit den Schultern und sagte unsicher: "Du weißt doch was ich zu tun habe." - Katja sah ihm tief in die Augen, nahm seine Hände und hauchte: "Ist er nicht schon genug gestraft? - Er weiß es doch auch gar nicht mehr!"
Nein, der Fall "Bürgerpark" wurde tatsächlich niemals aufgeklärt. Das Geheimnis blieb in der Dunkelheit zwischen den alten Bäumen …
Eingereicht am 30. Oktober 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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