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Sommerfest in Klein-Hollstedt
© Tommy Lachmann
Das große Sommerfest, welches zu den alljährlichen Höhepunkten in Klein-Hollstedt zählte, war in vollem Gange. Das Festzelt bebte vor Stimmung und es herrschten bereits um 21 Uhr Jubel, Trubel, Heiterkeit. "Freut euch des Lebens", spielte die Dorfkapelle, aber hinter dem Zelt lag eine Leiche. Eine Leiche, die darauf wartete, entdeckt zu werden, denn es waren höchstens drei Stunden seit ihrem Ableben vergangen. Es war die Leiche eines verhältnismäßig jungen Mädchens, es war Dorle Abelmann - - - die Tochter
des Bürgermeisters.
Dorle war zwar nie eine auffällige Schönheit gewesen, aber sie hatte eine tolle Figur und über jenen Charme verfügt, der viele Herzen öffnet. Kein Wunder also, dass es ihr im Laufe ihrer 26 Lebensjahre gelungen war, drei jugendliche Köpfe zu verdrehen.
Holger, Lars und Kai waren ihr in den letzten Jahren sehr zugetan gewesen und alle drei hatten sich auch ihrer Gunst erfreuen dürfen. Jeweils nicht lange allerdings und vor allem nacheinander versteht sich, aber gerade diese Tatsache schien Dorle zum Verhängnis geworden zu sein. Mit Holger, ihrem ersten Liebhaber, hatte die Beziehung eben mal 18 Monate gedauert, bis ihr klar geworden war, dass er wohl doch nicht der Richtige für sie war. Sie hatte den Jungen regelrecht abserviert. Doch Holger galt im Dorf als
recht rabiat und hatte Dorle diese Art schwer verübelt. Nein, sie hatte dem Jungen nicht ungestraft ihre kalte Schulter gezeigt, denn Holger hatte ihr dafür einige saftige Ohrfeigen verabreicht. Trotzdem ließ er Dorle danach nicht in Ruhe und versuchte weiterhin sein Glück bei ihr, was allerdings ihre Kälte ihm gegenüber nur verstärkte.
Nach einer weiteren Beziehung mit Lars von immerhin zwei Jahren, gehörte dann auch dieser zu den abgewiesenen Liebhabern. Lars hielt nicht viel von Treue und hatte dieses Verhältnis nie richtig ernst genommen und als diese Beziehung in die Brüche gegangen war, hatte sich sein Bedauern in Grenzen gehalten.
Nach einigen Monaten der Trennung von Lars war dann schliesslich Kai auf Dorles Bildfläche erschienen und ihr neuer Favorit geworden. Es schien eine gute Beziehung zu sein und es war im Dorf allgemein der Eindruck entstanden, dass sich die beiden endlich gesucht und gefunden hatten. Doch der Schein trog, denn zum Erstaunen aller Freunde und Bekannten, beendete Dorle nur nach einigen Wochen auch dieses Verhältnis. Kai, der sich ehrlich um seine Dorle bemühte, hatte nun schon nach kurzer Zeit nicht mehr im Rennen
gelegen. Am Nachmittag hatte man Dorle und Kai zwar noch zusammen gesehen, doch einige Beobachter wussten später zu berichten, dass sich Dorle sehr hochnäsig gezeigt und den verzweifelten Kai arg verhöhnt habe. Dennoch waren sie beide später im nahegelegenen Wäldchen verschwunden und man hatte sie danach aus den Augen verloren.
XXX
Holger und Lars hatten an der langen Theke im Festzelt gerade noch einen Platz bekommen. Die beiden Mädels am Zapfhahn zapften was das Zeug hielt und das Bier floss in Strömen. Einen besseren Umsatz hätte sich Jürgen Strobel, der Junior aus der "Posthorn-Kate", der bei allen Dorffestlichkeiten stets als Schankwirt fungierte, gar nicht wünschen können. Er reichte den beiden Freunden schon ihr drittes großes Bier.
"Na", sagte Holger, der seine glücklichen Zeit mit Dorle noch nicht vergessen hatte, "hast du schon wieder eine neue Braut im Auge?" "Weiber", winkte Lars abfällig mit seiner Hand durch den Raum, "Weiber, sieh sie dir doch an. Es lohnt sich nicht. Wenn ich will, habe ich mindestens zehn an jedem Finger, aber ich sage dir, es lohnt sich nicht!" - "Stimmt", schimpfte Holger, "denk doch an Dorle......" - "Ja", lachte Lars, "sie hat uns doch
beide nur verschaukelt. Ich lache mich tot darüber, aber du leidest doch noch immer wie ein Hund, oder?" - "Nee", schüttelte Holger den Kopf, "hier im Zelt ist genügend anderes Potential, lass uns also die Augen offen halten!" Lars wußte genau, dass Holger noch immer litt und seine hochtrabenden Worte nicht ehrlich gemeint waren.
Es dauerte nicht lange, da gesellte sich auch Kai zu ihnen. Er war - im Gegensatz zu seinen beiden trinkfesten Freunden - sehr wortkarg, was ihm den Spott der beiden einbrachte, denn sie wussten längst, dass Kai nun bei Dorle auch endgültig abgeblitzt war. Jürgen, der Wirt, brachte auch ihm ein Bier, dann lächelte er die drei Freunde an und meinte: "Lasst man Jungs, die Dorle war für euch alle drei eine Nummer zu groß. Nur gespielt hat sie mit euch. Da muss wohl schon ein ganz anderer Kerl kommen, der ihr
zeigt wo es langgeht! Vergesst lieber die Weiber, die machen nur Kummer und Sorgen! - Die nächste Runde geht auf mich!"
"Du hast gut reden, Jürgen", sagte Kai, "du ziehst bald in die Welt und hast ganz andere Abenteuer vor dir als unsereiner hier auf dem Dorffest!" -
"Tja, Glück muss man eben haben", warf sich Jürgen stolz in die Brust, "aber auch für euch hält das Schicksal sicher noch einiges Glück in der Hand!" - "Um Australien beneide ich dich wirklich, Jürgen", sagte Lars etwas neidisch, "da würde ich auch gern mal hin. Du hast mehr Glück als Verstand, alter Junge!"
Jürgen war sehr aufgekratzt, denn er hatte vor, für längere Zeit nach Australien zu reisen, wohin ihn sein alter Onkel eingeladen hatte. "Wenn du richtig Glück hast", sagte Holger, "dann erbst du auch noch den ganzen Krempel von deinem alten Onkel." - "Ja", freute sich Jürgen, "das steht echt zu befürchten." Lars grinste verschmitzt: "Ich habe gehört, es ist eine riesige Erbschaft. Warum nimmst du uns eigentlich nicht mit?" - "Hättet ihr denn Lust dazu, nach
Australien zu kommen?" Jürgen hatte diese Frage überraschend gestellt und die drei Jungen sahen sich erstaunt an. Holger fragte entgeistert: "Ist das wirklich dein Ernst?" - "Warum denn nicht", wiegte Jürgen seinen Kopf, "wenn es tatsächlich mit meiner Erbschaft klappen sollte, lade ich euch drei nach Australien ein. Da wäre dann Platz genug und ihr könntet bleiben solange ihr wollt!" - "Das nenne ich ein Angebot", strahlte Lars, "Jungs, ist das eine Sache?"
- "Anruf genügt", sagte jetzt auch Kai, "wir kommen sofort!" - "Versprochen", nickte Jürgen freundlich. - "Wann geht denn deine Reise los, Jürgen", fragte Lars. - "Übermorgen", erklärte Jürgen, "wenn der ganze Rummel hier vorbei ist. Für übermorgen habe ich bereits meine Flugtickets". - "Mann, du Glücklicher", murmelte Kai, "und was wird aus der "Posthorn-Kate"? - "So alt sind meine Eltern noch nicht", antwortete Jürgen,
"und bis ans Lebensende hatte ich nicht vor, in Australien zu bleiben. Nein, mein zu Hause wird immer hier sein. Besonders später im Alter."
XXX
Der Tanzboden im Zelt bebte unter der schweren Last der Tanzenden und die Stimmung hatte seinen Höhepunkt erreicht, als ein Tusch der Kapelle vorerst das laute Stimmengewirr im Festzelt beendete. Rolf Abelmann, Dorles ältester Bruder, war mit seinem Schäferhund Harry in das Zelt gestürmt und bat verzweifelt um Ruhe. Es dauerte eine ganze Weile, bis es etwas leiser wurde und die Menschen erstaunt auf Rolf sahen.
"Was ist denn los? Der ist ja noch ganz nüchtern", rief Lars laut, "komm erst mal richtig rein und nimm einen mit uns zur Brust!" Rolf aber war ganz weiß im Gesicht und hatte Harry fest an der Leine. "Draußen", sagte Rolf gequält, "draußen....draußen liegt Dorle!" - "Wer liegt da draußen?", rief jemand. "Laß sie liegen", wurde eine andere Stimme laut, "es ist ja noch nicht kalt!" - "Wieso liegt Dorle draußen? Soll sie doch lieber reinkommen
und einen mit uns saufen", hörte man eine tiefe Männerstimme sagen. "Was ist mit ihr", fragte wieder jemand, "oder ist sie schon so besoffen?" Man hörte Gekicher. Obwohl Rolf sehr leise sprach, hörte fast jeder seine Worte: "Dorle ist tot." - "Wooo ist sie"; fragte Lars erschrocken, "wo und wie hast du sie gefunden?" - "Nicht ich", sagte Rolf tonlos, "sondern Harry, hier mein Hund, hat die tote Dorle hinter dem Zelt aufgespürt!"
Vorbei war das Vergnügen. Einer anfänglichen Aufregung folgte alsbald betretenes Schweigen. Einige Männer hatten Dorle inzwischen hereingetragen in der Hoffnung, dass es sich doch nur um eine harmlose Ohnmacht bei ihr handele, doch ein Blick auf ihren leblosen Körper zeigte selbst einem Laien, dass hier nichts mehr zu machen war. Holger, Lars und Kai betrachteten erschrocken den toten Körper ihrer einstigen Geliebten und waren fassungslos. Es waren eine Menge Dorfbewohner, die Dorle gut kannten und mehr zu ihr
als zu den drei Jungen standen.
Holger nahm Lars und Kai beiseite und fragte betreten: "Ist euch wirklich nichts aufgefallen an Dorle?" - "Was meinst du", sah ihn Kai verwundert an. "Sicher meint er das Herz", sagte Lars, "das hat sie ja gar nicht bei sich!" - "Das Herz?" Kai zeigte einen erschrockenen Gesichtsausdruck.
Dorle trug immer, egal zu welcher Kleidung, ein talergroßes Herz aus Elfenbein an einer goldenen Kette um ihren Hals. Ohne dieses Herz kannte sie eigentlich niemand. Und dieses Herz war jetzt verschwunden.
Das Sommerfest hatte zwar ein jähes Ende gefunden, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Polizei aus dem nahegelegenen Kreisstädtchen angerollt war. Das Zelt wurde geräumt und die Leiche ins gerichtsmedizinische Institut der Stadt gebracht.
Holger und Lars, die natürlich gleich zu den Verdächtigen zählten, hatten ein bombenfestes Alibi. Kai dagegen, der zuletzt mit Dorle gesehen worden war, erregte sehr das Interesse des zuständigen Kripomannes. Aber auch hier löste sich der Verdacht auf, als Jürgen Strobel berichtete: "Nein, Dorle war noch eine halbe Stunde nach ihrem Waldspaziergang wieder hier im Zelt und hat nach Kai gefragt". - "Wissen sie, wohin sie anschließend gegangen ist", fragte der Kriminaloberkommissar. - "Dorle
hat dann mit einer Freundin, der Monika Berger, das Zelt verlassen und Kai ist unmittelbar danach bei mir am Tresen aufgetaucht," erklärte Jürgen.
Dorles Freundin Monika war schnell gefunden und hatte ausgesagt: "Ich bin nur wenige Meter mit Dorle gegangen, sie hat fürchterlich auf alle Männer geschimpft und sich dann rasch von mir verabschiedet".
Niemand von den Verdächtigen kam also infrage und so begann die routinemäßige Suche nach dem großen Unbekannten, dem rätselhaften Mörder. Das konnte Tage und Wochen dauern, denn die Polizei tappte nun erstmal im Dunkeln.
XXX
Eine dichte Wolkendecke lag unter dem Flugzeug. Die Maschine zog ruhig ihre Bahn in 11000 Metern Höhe und Jürgen Strobel lehnte sich in seinem Sessel zurück. Versonnen dachte er jetzt an seine Jugend und die schöne Zeit in seiner Heimat Klein-Hollstedt. Besonders die letzten Tage mit Dorle Abelmann hatten sein ganzes Leben verändert. Wie hatten sie sich gemocht und wie sehr hatten sie von einer gemeinsamen Zukunft in Australien geträumt. Nein, Holger, Lars und Kai waren für Dorle wirklich nicht das Gelbe vom
Ei gewesen. "Seit wir beide ein Paar sind", hatte sie Jürgen zärtlich geflüstert, "gibt es keinen anderen mehr für mich", und sie hatten beide mächtig über die drei Jungen gelacht. "Jürgen, du bist mein Ideal", hatte sie geschwärmt. Doch ihre Liebe sollte vorerst geheim bleiben, da Dorle nach der Trennung von Kai die bösen Zungen der Dorfbewohner fürchtete.
Nun aber war sie am vorletzten Abend, ausgerechnet am Abend des großen Sommerfestes, zu ihm ins Zelt gekommen, um ihm mitzuteilen, dass sie sich alles noch einmal gründlich überlegt habe und er wohl auf Dauer doch nicht der Richtige für sie sei.
"Dann habe ich dir also doch nie mehr bedeutet als deine anderen drei Kindsköpfe", hatte Jürgen wie von Sinnen geschrien, "du bist ja das letzte Flittchen!" Sein Toben war im Lärm der Music-Boxen untergegangen und niemand hatte etwas von dem Streit der beiden mitbekommen. Aus heiterem Himmel hatte Dorle jetzt auch Jürgen mit ihrer plötzlichen Entscheidung überrascht, die er dann nicht verkraften konnte. Aus und vorbei also - für ihn war das unfassbar. "Bitte, überlege es dir doch noch
einmal genau", hatte er sie verzweifelt angefleht, mit ihm zu kommen. "Soll denn alles Lüge gewesen sein? Wir lieben uns doch und wollten gemeinsam......". Aber es hatte nichts geholfen. Genau wie bei Holger, Lars und Kai, blieb Dorle nun auch bei Jürgen hart und unerbittlich. "Du bist so krank", hatte Jürgen immer wieder enttäuscht gerufen. Trotzdem war sie ihm während dieses Gespräches noch hinter das Zelt an seinen Lieferwagen gefolgt, wohl um ihn etwas zu besänftigen. "Bitte,
bitte", sagte Jürgen immer wieder und griff ihr in seiner Verzweiflung plötzlich beschwörend an den Hals und drückte, als könne er sie so überzeugen, unendlich lange zu, bis er erschrocken feststellte, dass Dorle plötzlich nicht mehr atmete. Dann war ihr Körper schwer geworden und seinen Händen entglitten. Voller Panik hatte er, nach allen Seiten sichernd, ob er von niemandem beobachtet worden war, den leblosen Körper von seinem Transporter weg gezogen und auf die Grasnarbe hinter dem Zelt gelegt.
So jedenfalls hatte er sich seine Zukunft in Australien nicht vorgestellt. Aber was blieb ihm nun übrig? Niemand im Dorf ahnte etwas von seiner großen Liebe zu Dorle. Es würde nun allein sein Geheimnis bleiben. Traurig zog Jürgen Strobel ein hübsches Bild Dorles aus der Tasche, legte es in ein viereckiges silbernes Etui und packte das talergroße Herz aus Elfenbein mit dem zerrissenen Goldkettchen dazu. "Wenigstens etwas nehme ich von dir mit", murmelte er lautlos, legte sich in seinem Sitz zurück und
versuchte, etwas zu schlafen. Aber die salzigen Tränen, die unaufhörlich über seine Wangen kullerten, verhinderten diesen Schlaf. Sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe. Was sollte er jetzt allein in Australien? Jürgen spielte mit dem Gedanken, mit der nächsten Maschine zurückzufliegen und sich der Polizei zu stellen. Doch nach dem Zwischenstop in Singapur und als die Maschine nach Stunden endlich in Sidney landete, hatte er diesen Plan längst verworfen. Die "Posthorn-Kate" in Klein-Hollstedt war jetzt so
weit weg und sollte noch lange warten........
Eingereicht am 16. November 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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