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Eingereicht am
26. März 2007

Nicht nur Liebe geht durch den Magen

© Christine Mai

Sie rutschte mit nassen Füßen über das Parkett und rammte mit ihrem linken Knie den Marmortisch, ehe sie endlich das vibrierende Handy zu fassen bekam. Ihr Herz sank, als sie die Nummer erkannte.

"Hallo Mutter", schnaufte sie in den Hörer.

"Ich wollte gerade auflegen." Vorwurf. Der ewig gleiche Vorwurf. "Wo warst du?"

"Ich habe eben geduscht. Ich muss zur Arbeit."

"Unsinn, das meine ich doch nicht. Wo warst du gestern Abend?"

"Gestern Abend? Ich war im Kino."

"Mit wem?" Natürlich, die Frage hatte sie erwartet. Belinda hatte keine Lust zu lügen.

"Mit Thomas." Sie lauschte der Stille.

"Selbst schuld", kam die schnippische Antwort. "Ich habe es dir oft genug gepredigt, lass die Finger von diesem Nichtsnutz. Er wird dich wieder betrügen, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Glaubst du im Ernst, er hat sich geändert? Wie lange warst du mit ihm verheiratet?"

Belinda betrachtete die Pfütze zu ihren Füßen. "Warum rufst du eigentlich an?" fragte sie kühl.

"Warum ich - ach so. Meine Bestellung aus der Apotheke, wann bekomme ich die endlich? Oder denkst du, dass sich meine Rattenplage von alleine erledigt?"

Belinda unterdrückte ein verächtliches Auflachen. Ihre Mutter rief nur an, wenn sie etwas von ihr brauchte. Eine tote Ratte vor ihrem Haus hatte sie in Panik versetzt und Belinda hatte umgehend in der Apotheke Rattengift bestellen müssen. "Habe ich längst geholt. Nach der Arbeit bringe ich es vorbei." Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie auf. Danach blieb sie für Minuten nachdenklich stehen. Noch wusste sie nicht, was in ihr überwog: der Ärger und die Beschämung über die Bevormundung durch ihre Mutter oder die Angst, sie könne Recht haben mit ihrer Vermutung, dass Thomas ihr nicht treu bleiben würde. Bilder aus der Vergangenheit wurden lebendig.

Zehn Jahre waren sie verheiratet gewesen, als Belinda ihren Mann mit einer fremden Frau im Bett erwischte. Sie war so enttäuscht, so verletzt. Jahrelang hatte sie den Gerüchten nicht glauben wollen. Doch als nun ihre heile Welt wie eine Seifenblase zerplatzte, warf sie ihn hochkant aus der Wohnung.

Monatelang blieb er verschollen, sah und hörte sie nichts von ihm. Aber jetzt, vor einer Woche erst, tauchte er wieder auf, bezirzte sie, umwarb sie, schickte ihr Blumen. Gestern hatte sie sich erweichen lassen und seinem Drängen nachgegeben. Sie gingen ins Kino, danach lud sie ihn zu einem Kaffee zu sich nach Hause ein. Er war erst morgens um sechs gegangen. Belinda hatte es genossen. Sie wollte, dass Thomas wieder zu ihr zurückkehrte, sie hoffte darauf. Tief in ihrem Inneren meinte sie zu spüren, dass sie ihrem Mann vertrauen konnte.

Natürlich kam sie zu spät zur Arbeit. Die Küchenmannschaft war schon konzentriert am Werk, schließlich lockten die "Köstlichen Kartoffelwochen" von Jahr zu Jahr mehr Gäste in das Restaurant.

"Na endlich" empfing sie ihr Kollege Steffen, als sie, die Schürze halb umgebunden, hereinstolperte. "Der Chef ist schon ganz nervös."

Sie griff nach dem gewaschenen Gemüse und begann routiniert Karotten, Lauch, Sellerie und Kartoffel in kleine Würfel zu schneiden.

"Meine Mutter hat mal wieder genervt", antwortete sie leise. "Du weißt doch, ich war mit Thomas im Kino…"

"Ich hoffe, du weißt, was du tust", meinte Steffen beiläufig. "Glaubst du, er hat sich geändert?"

"Ach, halt doch die Klappe." Belinda wurde wütend. Musste sich jeder als Mahner und Beschützer aufspielen? War sie nicht alt genug, um zu wissen, was sie tat? Sie biss sich auf die Unterlippe, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken.

Natürlich hatte sie Zweifel, wer hätte die nicht. Aber sie wollte, wollte, wollte daran glauben, dass es diesmal gut gehen würde. Die vergangene Nacht konnte kein Strohfeuer gewesen sein. Die Treueschwüre und Reue, die Entschuldigungen ihres Mannes waren echt gewesen. Ganz sicher hatten sie noch eine Chance.

Das Mittagsgeschäft lief an. In der Küche herrschte Hochbetrieb. Für kurze Zeit vergaß sie alle Sorgen. Doch dann -

Der Oberkellner eilte direkt zu Belinda und drückte ihr einen Bestellbon in die Hand. "Zwei mal Suppe für Tisch vier", sagte er und fügte verschwörerisch hinzu: "Weißt du, dass dein Mann draußen sitzt? Er ist übrigens nicht alleine."

"Thomas?" Belindas Kopf fuhr hoch, ihr Herz klopfte plötzlich bis zu Hals, ihr Mund wurde trocken. "Thomas ist hier? Wo?"

Er sah sie mitleidig an und gab ihr den nächsten Bestellbon.

"Tisch drei. Auch zweimal die Suppe als Vorspeise."

Sie zerknüllte beide Bons in den Händen und versuchte, Haltung zu zeigen. Es konnte einen harmlosen Grund für Thomas' Hiersein geben. Bestimmt war es ein Geschäftstermin. Jemand von der Bank oder so. Aber dennoch beschlich sie leiser Zweifel. Er konnte nicht wissen, dass sie hier war. Es war eigentlich ihr freier Tag und sie hatte nichts davon erwähnt, dass sie als Krankheitsvertretung abkommandiert war. Nein, nein, bestimmt war alles völlig harmlos.

Angstvoll krampfte sich ihr Magen zusammen. Wie in Trance ging sie zur Tür und starrte in den Gastraum. Da war er. Thomas saß seitlich an der Wand. Sie erkannte deutlich die kurzen dunklen Haare, die randlose Brille auf der markanten Nase, den attraktiven Dreitagebart. Er hielt Händchen mit einer blonden, gut aussehenden, fremden Frau. Es war das letzte, an das sich Belinda deutlich erinnerte, bevor sich roter Nebel um ihr Bewusstsein legte. Stimmen wirbelten in ihrem Kopf durcheinander.

"Dein Mann sitzt draußen", der Oberkeller, gespielt mitleidig.

"Ich hoffe, du weißt, was du tust", ihr Kollege Steffen, warnend.

"Er wird dich wieder betrügen", ihre Mutter, hämisch.

Der rote Nebel hüllte sie ein, niemand außer Belinda schien ihn zu bemerken. Das einzige, was sie klar und deutlich sah, waren ihre Hände. Ihre Hände, die mechanisch weiterarbeiteten. Die in der Handtasche das Rattengift hervorkramten und drei der kleinen unschuldig aussehenden Pillen im Mörser zu Pulver zerrieben. Die vier Portionen der Suppe anrichteten und á la Belinda dekorierten: geschnitzte Rosen aus einer rohen Kartoffel für die Damen, geschnitzte Zigarren für die Herren. Die das Gift in einem der zigarrenverzierten Teller unterrührten, kurz bevor sie nach dem Kellner klingelten.

"Hier", sagte sie zu dem Azubi, der heute im Service aushalf. "Diese beiden für Tisch vier, die anderen für Tisch drei."

Das Herz dröhnte ihr in den Ohren. Übelkeit überrollte sie wie eine Welle. Sie presste beide Hände vor den Mund und stürzte tränenblind in die Personaltoilette, wo sie sich heftig übergab.

Minutenlang stand sie am Waschbecken und starrte in ihr kalkweißes Gesicht. Ihr Kopf war völlig leer. So fand sie Steffen.

"Mensch", schrie er, "da bist du ja endlich. Komm schnell, wir brauchen Hilfe, ein Gast ist zusammengebrochen!"

Er prallte bei ihrem Anblick zurück. "Großer Gott", fragte er erschrocken, "was ist mir dir? Gehst es dir nicht gut?" Er nahm sie am Arm, um sie zu stützen. Diese fürsorgliche Geste brach den Bann, der Belinda gefangen hielt. Der rote Nebel wich zurück, ihr Blick wurde klar, die Erinnerung an das, was sie getan hatte, kehrte schlagartig zurück.

"Lass nur, es geht mir gut."

Sie war vollkommen ruhig. Die Wirkung des Giftes war nicht mehr zu stoppen. Der Notarzt würde zu spät kommen und Thomas sterben. Das Bewusstsein, die Initiative ergriffen zu haben, befriedigte sie und erfüllte sie mit Genugtuung. Sie machte sich keinerlei Sorgen um die Zukunft. Gut, sie würde Verzweiflung und Trauer heucheln müssen. Aber es würde natürlich herauskommen, denn sein Tod würde untersucht und das Rattengift in seinem Blut gefunden werden. Sie hatte als einzige ein Motiv. Sie musste es getan haben. Doch es war ihr vollkommen egal.

"Los, komm!" Steffen schob sie durch die Tür in den Gastraum.

Sie war mit wenigen Schritten an Tisch drei und verlor endgültig alle Farbe aus ihrem Gesicht.

Thomas sah sie an. Überraschung und Schuldbewusstsein spiegelten sich in seinen Augen. Er brachte kein Wort heraus.

Dann drang verzweifeltes Schluchzen an Belindas Ohr. Es kam von der Frau am Nebentisch.

Belinda hatte den falschen Mann umgebracht.

Karin Reddemann: Gottes kalte Gabe Dr. Ronald Henss Verlag ISBN 3-9809336-3-6 Karin Reddemann
Gottes kalte Gabe

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ISBN 978-3-9809336-3-6

kleine mysteriöse Welten, in denen es sowohl gruselig und unheimlich zugeht als auch ironischwitzig und ein wenig erotisch. Und fast immer raffiniert überraschend.
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