Die Straße
© Judyta Smykowski
Tiefe Risse im Asphalt. Gefüllt mit einer braunen Brühe aus Matsch und saurem Regen. Brüchiger, teils unebener Kantstein. Mal betongrau, mal rot geziegelt.
Zäune, die mehr oder weniger im Beton verankert sind. Grün, Weinrot, Braun, Schwarz. Gelegentlich mit Rostflecken übersäht. Mal mit stacheligen Spitzen, mal musterhaft abgerundet.
Gepflegte Rasenflächen, fein säuberlich ohne jegliches Unkraut, Stiefmütterbeete, gepflegt, allerdings mit einigen verwelkten, abgestorbenen Blüten dazwischen. Schönheitsfehler eben.
Ausnahme sind -natürlich- wilde Grasflächen mit wuchernden Sträuchern. Feine Damen und Herren kümmern sich halt.
Die Behausungen. Mal ein penibel gepflegtes Einfamilienhaus, mit Fensterdekoration; natürlich passend zur Jahreszeit und farblich perfekt abgestimmte Gardinen mit Schleifen und Spitze. Schick muss es sein.
Mal eine alte, dreckig-beige Baracke, Holzfensterrahmen, deren weißer Anstrich immer mehr abblättert. Schwarzer Rauch bahnt sich den Weg durch den Kamin zum Schornstein, verleiht der frischen Luft eine graue Note.
Vergilbte Gardinen. Ein mit Vogelkot übersäter Briefkasten, zerkratzt, mit einem beinahe unlesbaren Namensschild darauf.
Die Bewohner. Lebensgeschichten mit tragischem, erfolgreichem, unglücklichem, erfülltem oder nicht erfülltem Verlauf. Schicksal eben.
Von der einfachen Kassiererin des Supermarkts, bis zum erfolgreichen, korrupten Makler, der sein protziges Leben genießt. Dazwischen gibt es natürlich noch allerlei Anderes.
Die Bewohner haben mehr oder weniger Ahnung über die Existenz des Anderen. Doch das unerschütterliche Jammern über ihre Lage hat sie alle geprägt.
Egal, ob es Wehwehchen wie ein Pickel auf der Stirn, eine unbezahlte Rechnung oder eine Last von mehreren Tausend Euro Schulden sind. Katastrophen im menschlichen Leben. Das Leid des Einen ist für den Anderen unverständlich, eine banale Sache.
Den Fokus über ihren Horizont und ihre Welt ausbreiten? Warum denn.
Doch sie glotzen sehr wohl, sei es der Besuch des Einen, der Großeinkauf des Anderen oder eine geänderte Dekoration. Begaffen und begafft werden. Genaustes Durchleuchten der Taten und Gewohnheiten des Nachbarn.
Keine zwischenmenschlichen Beziehungen.
An den Samstagabenden hört man sich gegenseitig.
Man hört den lauten Fernseher, der ein Fußballspiel zeigt, man hört den Plattenspieler mit einer Wagner Oper, man hört den Gesellschaftsabend mit lautem Gelächter, man hört eine verzweifelte, allein erziehende Mutter mit ihrem Sohn, der keine Grenzen wahrnimmt und akzeptiert.
Im dämmernden Licht des Mondes blitzt die Brühe in den Rissen des Asphalts auf.
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