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Sommerwind

© Klaus Herrgen


Verschlafen blinzelte Markus in die Sonne, die ihm zu dieser frühen Stunde mild ins Gesicht schien. Er war allein. Wer stand am Samstag schon so früh auf und ging dann bis hier her? Vielleicht schlenderten ein paar Urlauber, die man wegen der Taxe Kurgäste nannte, auf der Promenade und warteten darauf, dass der Bäcker sie an seine frischen Brötchen ließ. Doch bis hier heraus würde jetzt keiner durch den Sand stapfen. In der letzten Strandkorbreihe waren Markus und die Möwen unter sich; nur der Hufschlag und das Schnauben eines Pferdes mischten sich für einen Moment unter das Kreischen der Vögel, die den Frühaufsteher immer wieder neugierig beäugten. Eine Reiterin ließ ihren Schimmel in leichtem Galopp am Wassersaum entlang laufen. Markus konnte diese aristokratische Figur mit den Augen begleiten. Er hatte freie Sicht; vor ihm nur Sand und Sonne, eingerahmt von Meer und Dünen. Wollte man vom einzigen Ort der Insel bis hierher gelangen, so musste man sich zunächst seinen Weg zwischen den Sandburgen und Strandkörben am Hauptstrand suchen.
Dort ballte sich das Urlaubsleben. Kurhaus, Verkaufsbuden, Umkleidekabinen und Wasserwacht, alles nahebei. Dann kam der Strand für die Lenkdrachen, die den Hunden Angst machten, die sich dafür am anschließenden Strandabschnitt nichts verkneifen mussten und herumrasend und kläffend Unerschrockenheit demonstrierten. Diese Hindernisse und der weite Weg durch den Sand sorgten dafür, dass es um Markus herum beschaulich blieb. Schon als er klein war und mit seiner Oma auf diesem Eiland die Ferien verbrachte, lockte ihn dieses Paradies. Doch es blieb ihm verschlossen. Lieber kämpfte die Großmutter beim Umkleiden mit dem Sommerwind, als dass sie sich paradiesische Freiheiten erlaubt hätte. Jetzt, wo er allein war, durfte Markus die Badehose schonen.
Anfangs war das ungewohnt, aber nachdem er sich gestern dem Wind und der Sonne überlassen hatte, fühlte er sich sicher in seiner Haut und ganz eins mit der Natur. Bis zum Montag könnte er sich gleichmäßig und nahtlos bräunen und dann würden die freien Tage zwischen Schulabschluss und Ferienjob schon wieder vorbei sein. Ein kurzer Sommer. Markus blickte auf die Wellen, die beständig heranrollten, ihren Kamm hoben und sich am Sandstrand brachen. Das Meer hatte unendlich Zeit, und an diesem einsamen Morgen bot es sein Schauspiel extra für ihn. Gern gab er sich diesen Eindrücken hin. Er schaute von seinem Buch auf und sog die Atmosphäre in sich ein. Seewind fegte Sand über den Strand. Alles wehte hier nach Osten. Die gesamte Insel wanderte allmählich in diese Richtung. Was Meer und Wind dem Westen nahmen, lagerte sich im Osten an. Während er dem vorbeiwehenden Sand nachblickte, stellte eine Frühaufsteherin ihre Campingtasche vor der letzten Strandkorbreihe ab.
Hier wollte sie offensichtlich ihr rotes Strandzelt aufstellen, das sie in einem durchsichtigen Plastiküberzug verpackt unter dem Arm trug. Wie alt mochte sie sein? Der Kategorie "Große Schwester" war sie wohl nicht mehr zuzuordnen, eher zählte sie in die Altersgruppe "jüngere Freundin der Mutter". Nachdem die so Klassifizierte ihre sieben Sachen abgelegt hatte, wandte sie sich dem Aufbau ihrer Strandmuschel zu. Entweder war das Zelt noch unbenutzt, oder es war nicht richtig verpackt worden. Der Überzug saß jedenfalls so stramm, dass sie Gestänge und Plane kaum herauszuziehen vermochte. Als ihr das schließlich nach großer Anstrengung gelang, ergriff der Wind sogleich die Verpackung und wehte sie ein Stück über den Strand.
Sie ging hin, um sie aufzuheben. Noch bevor sie sich danach bücken konnte, nahm der Wind, als wollte er sie zum Narren halten, die Tüte wieder auf und fegte sie ein Stück weiter. Einmal machte sie dieses Spiel noch mit. Aber es fehlte der rechte Einsatz, der richtige Biss. So konnte das nichts werden. Das erkannte Markus rasch. War es Ritterlichkeit, Hilfsbereitschaft oder einfach nur Instinkt? Er stürzte aus seinem Strandkorb - hatte sie ihn eigentlich schon bemerkt? - und jagte dem nach Osten entfliehenden Beutel nach. Man durfte im Spurt nicht innehalten, um sich nach ihm zu bücken, dann würde er entkommen. Nein, man musste versuchen, im vollen Lauf den Fuß auf den Flüchtigen zu stellen, nur so ließ er sich ergreifen. Der Wettstreit mit dem Wind forderte das Letzte, verlangte vollen Einsatz. Alle Muskeln waren angespannt, alle Glieder gestrafft. Auch das eine! Mann, oh Mann! Als er sich nach der Jagdtrophäe bückte, war das Problem nicht zu übersehen. Was tun?
Er konnte es doch seinem Namensvetter, dem Markus-Löwen, nicht gleichtun, der mit starrem Schweif, beständig nach Osten blickend, auf seiner Piazza verharrte. Er durfte so nicht stehen bleiben. Er musste sich umwenden. Die Frau wollte ihre Tüte wiederhaben und wunderte sich vielleicht schon, warum er nicht zurückkam. Was würde eine Frau an seiner Stelle machen? Eine Frau würde nie in eine solch peinliche Situation geraten. Bei denen war alles so schön verborgen - unter Verputz und reizend verziert. Was tun? Vor allem musste ihm rasch eine Lösung einfallen, sonst würde alles noch komplizierter. Sollte er sich nun umwenden und tun als sei nichts? Vielleicht würde sie erschrecken und Angst haben, so allein mit ihm. Unsinn! Die hat doch gesehen, wie sich diese Situation entwickelt hat. Die war doch kein Kind mehr und musste wissen, wie die Natur so arbeitet. Er konnte sich doch jetzt nicht mehr auf den Bauch fallen lassen und einen Krampf vortäuschen.
Lächerlich! Was tun Frauen, wenn es peinlich wird? Rasch durchwühlte er seinen noch nicht so umfangreichen Erfahrungsschatz. Sie tun gar nichts, oder besser, sie tun so, als sei nichts und erwarten, dass man mitspielt. Gut, ist doch das Einfachste! Er umklammerte den Beutel, wandte sich um, und ging so entspannt wie möglich auf die Wartende zu. Höflich reichte er ihr seine Beute. Sie sah ihm freundlich ins Gesicht. Er hatte sich nicht getäuscht.



Eingereicht am 07. Mai 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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