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Dez
01
Liisa
© Manfred Schröder

Liisa war alt und sehr einsam. Zwar gab es viele Menschen in dem Haus, in dem sie lebte, doch außer einem flüchtigen Lächeln, welches ihr manchmal im Flur entgegenkam, war Liisa für sie wie ein welkes Blatt, das bald vom Baume fallen würde.

Sie empfing nichts und konnte auch nichts geben. Trotzdem lauschte sie auf die Schritte des Postboten und blickte gespannt und voller Sehnsucht auf den Schlitz in der Tür; dass eine Botschaft, wie ein Frühlingsvogel, ins Zimmer geflogen käme. Doch die Schritte gingen vorüber und sie wandte sich schweigend ab.

Eines Tages zog ein Lächeln über ihr faltiges Gesicht. Sie wusste jetzt, wem sie schreiben würde. Und sie wusste auch, dass sie immer eine Antwort bekäme. Noch am selben Tag kaufte sie Tinte und Feder und kostbares weißes Papier. Es sollten keine gewöhnlichen Briefe sein.

Es war Frühling geworden; und wenn sie nach draußen blickte, bemerkte sie seit langer Zeit wieder, wie schön die Welt war.

Und am nächsten Morgen, die Sonne schien durch das geöffnete Fenster, nahm sie Tinte, Feder und das blütenweiße Papier und schrieb in kleiner und behutsamer Schrift ihren ersten Brief.

"Liebe Liisa ..."

Sie schrieb über ihre kleinen Freuden und Sorgen, über ihre Katze, die vor Kurzem gestorben war und an der sie so gehangen hatte. Über ihren Sohn im fernen America, der sie einlud, ihn und seine Familie zu besuchen. Auch dass sie jetzt eine Freundin habe, mit der sie oft im Park spazieren gehe.

Es wurde ein langer Brief, den sie, als sie ihn zu Ende geschrieben hatte, sorgfältig faltete und in einen Umschlag steckte. Sie brachte ihn noch am selben Tag zur Post.

Seit jenem Tage wartete sie voller Ungeduld in ihrem Zimmer. Und wenn sie die Schritte des Postboten vernahm, öffnete sie die Türe, um den Brief persönlich in Empfang zu nehmen.

P.S.: Liisa Perhonen ist vor Kurzem gestorben. In mir ist nicht nur Trauer, sondern auch große Scham.

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