Ein blühender Garten
© Christine Kühnel
Ich kann mich genau daran erinnern, dass es ein Sommertag war. Vermutlich ein Wochenende. Ich absolvierte damals ein freiwilliges Praktikum in einem Heim für geistig Behinderte. Gerade war ich vom Dienst heimgekommen, hatte einen Marsch von einer dreiviertel Stunde über glühenden Asphalt und Hitze stauende Felder hinter mir, war verschwitzt, müde und entsetzlich hilflos. In dem Jahr, in dem ich dieses Praktikum machte, war ich nahezu jeden Tag traurig und bedrückt, lernte Leid kennen wo ich mir bisher nicht
die Mühe gemacht hätte welches zu vermuten und versuchte nun naiv Buße dafür zu tun, indem ich versuchte ausnahmslos das zu ändern was nicht zu ändern war. Der Schichtdienst störte meinen Biorhythmus und meine sozialen Kontakte. Das Ausmaß der einzelnen Erkrankungen warf einen Schatten auf meine halbwegs heile Welt. So lag ich fast jeden Mittag oder jede Nacht, je nachdem wann ich Dienst gehabt hatte, auf meinem Bett und starrte an die Decke, dabei bemitleidete ich mich selbst am meisten.
So auch an diesem Tag, an dem eine unerträgliche Hitze ihr übriges tat. Als ich mich erhob um den Ventilator anzumachen, hörte ich meine Hündin Fanny gedämpft bellen. Mir war nicht einmal aufgefallen, dass sie mir bei meiner Heimkehr nicht wie üblich entgegen gelaufen kam um mich zu begrüßen. Dabei bedeutete dieses kleine Ritual mir sehr viel, es war eines der wenigen Dinge, auf die ich noch meinte mich freuen zu können. Ich lief in der Wohnung umher in dem Glauben, dass sie in einem der Zimmer eingesperrt war,
als ich durch das weit geöffnete Küchenfenster ein dumpfes Geräusch und leises, melodisches Pfeiffen hörte. Mein Vater arbeitete im Garten und hatte Fanny vermutlich mitgenommen. Als ich mich dem Fenster genähert hatte, wehte von draußen eine leichte, kühle Brise hinein, die betörend nach Sommerblumen, frisch bewässerter, umgegrabener Erde und einem Hauch von verbranntem Holz duftete. Der Garten lag an der Rückseite des Hauses und lag größtenteils ständig im Schatten. Trotzdem schaffte es mein Vater immer ihn
zum Blühen bringen. Etwas, was keiner von der hässlichen, von Steinen durchzogenen Einöde für möglich gehalten hätte, die der Fleck hinter unserem Haus gewesen war, bevor mein Vater die Ärmel hochgekrempelt hatte um ihn zum Leben zu erwecken. Schon in seiner Jugend hatte er im Garten seiner Eltern gearbeitet um nach deren Tod seinen kleinen Bruder und sich am Leben zu halten, später als er eine eigene Familie gegründet hatte und tagelang ununterbrochen arbeitete, zog er auf einem kleinen Stück Erde bei seiner
Arbeitsstätte Zwiebeln, Tomaten und Paprika.
In jenem Sommer war das jedoch alles schon sehr lange her, er war Rentner und die Notwendigkeit die früher in seinem Leben bestanden hatte einen Garten zum Überleben zu pflegen, hatte seiner Liebe dazu keinen Abbruch getan. Er hatte eine kleine Oase zwischen den schattigen Hinterhöfen geschaffen, die sonst größtenteils nur als Parkflächen dienten und verbrachte jede Minute, die er aufbringen konnte dort, in seinem blühenden Garten.
Ich kann nicht sagen, was an diesem Tag anders gewesen ist. Vielleicht war ich einfach nur sehr verletzlich, aber als ich aus dem Fenster blickte, Fanny im Schatten der Himbeersträucher im Gras liegen sah und meinen Vater, der schwungvoll in seinem blauen Gartenanzug ein Beet harkte, erfasste eine kalte Angst mein Herz: Der Gedanke, dass dieser Anblick, der so wunderschön und vertraut war, eines Tages nur noch eine Erinnerung sein würde. Der Druck auf meiner Brust wurde so groß, dass ich glaubte innerlich zu
zerreißen. Alles Erdenkliche in meinem bisherigen Leben, was mir entsetzlich und ungerecht vorgekommen war machte nun diesem einen Gedanken platz. In diesem Moment sah mein Vater auf und ich entdeckte unter seinem weißen, dichten Haarschopf in dem gebräunten Gesicht ein strahlendes Lachen, als er mich sah und mir zuwinkte. Dieser Augenblick hat sich tief in mein Herz gebrannt. Am nächsten Tag ging ich das erste Mal mit ein wenig mehr Leichtigkeit zur Arbeit und fand das, was man Leben nennt, nicht mehr ganz so
erdrückend. Am Nachmittag schnappte ich mir diejenigen von den Bewohnern, die ich zu einem Abenteuer überreden konnte und wir suchten uns einen kleinen Fleck mit Erde, gruben herum, rupften heimlich aus anderen Beeten Blumen, gruben sie in unsere eigenen ein und waren glücklich. Das machten wir fortan so oft der Sommer es noch hergab und ich sammelte, ohne zu murren, am Ende solcher Tage zufrieden die völlig mit Erde beschmutzten Kleidungsstücke ein. Wenn ich sie in die großen Säcke stopfte, die zur zentralen
Wäscherei gingen, malte ich mir aus, wie die Wäscherinnen schimpfend den Kopf schüttelten und freute mich, dass wir ihnen Grund dazu gegeben hatten. Ich begann zu jener Zeit den Unterschied zwischen dem, was ich verändern konnte und dem, was ich hinnehmen musste ein wenig klarer zu sehen. Sogar jetzt, viele Jahre später besuche ich so oft ich kann das jährliche Sommerfest der Einrichtung und die meisten der Bewohner mit denen ich damals meinen Sommer verbrachte, erkennen mich wieder und erinnern sich gerne an
mein Praktikumsjahr, dass ich mit ihnen verbringen durfte.
Ich pflege inzwischen das Grab meines Vaters mit der gleichen großen Liebe, mit der er Zeit seines Lebens all seine Gärten gepflegt hat und hoffe, dass er auf mich hinab sieht, gemeinsam mit der kleinen, schwarzen Fanny, deren Körper inzwischen für immer im Schatten unter den Himbeersträuchern liegt. Ich wähne sie beide in einer besseren Welt, in der sie wissen, dass dieser Anblick irgendwann einmal nur noch eine Erinnerung sein wird.
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