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Wenn Kinderwünsche wahr werden

© Enrico Andreas Brodbeck


Als der Mensch das Rad erfand, stand ihm ein Grundmodel zur Verfügung, das ihm die Möglichkeit bot, der naturgegebenen Fortbewegung neue Akzente zu setzen. Mit dem Bau der hölzernen Fahrradmaschine durch den Franzosen "Comete de Sivrac" schuf der Mensch ein Gefährt mit dem er der Mobilität weiteren Vorschub leistete. Doch bis zum modernen Damenfahrrad von "Swift" vergingen 135 Jahre.
So lange wollte ich nicht warten, denn meine Kinderwünsche waren klar umrissen.
Nach meiner erfolgreichen Rollerphase hatte ich das dringende Bedürfnis die Fähigkeiten des Fahrens auf einem anderen Gebiet zu erproben. Ein Fahrrad musste her! Ich hatte eine genaue Vorstellung wie das geeignete Gefährt auszusehen hatte. Klein, kompakt und blau. Ein Kinderfahrrad. Da zur Erfüllung eines Wunsches einige Zeit verstreichen konnte, lernte ich, dass der geeignete Zeitpunkt zum Wünschen vor Weihnachten oder Geburtstag war. Leider liegen beide Termine bei mir so nah bei einander, dass die Ausbeute an Geschenken weniger üppig ausfiel.
Zum 4. Geburtstag bekam ich neben einigen brauchbaren Gegenständen auch ein paar Stützräder geschenkt. Da ich die Stützräder keinem bekannten Spiel zuordnen konnte bestand auch kein all zu großes Interesse sich damit zu beschäftigen. Meine Eltern wussten um meinen sehnlichsten Wunsch und rieten mir, einen Wunschzettel an das Christkind zu schreiben. Da ich der Buchstaben aber noch nicht mächtig war, malte ich in meiner kindlichen Ansicht meine Wunschvorstellung auf ein großes Zeichenblatt. Hätten meine Eltern damals einen ausgeprägten Sinn für moderne Kunst gehabt, sie könnten meine abstrakten Schmierereien heute als avantgardistischen Kunststil verkaufen und ein Vermögen damit verdienen. Stattdessen hatte sich das Christkind meiner Kunstfähigkeiten angenommen und mir zum Dank ein Geschenk gemacht.
Bis zu Heiligen Abend waren es noch ein paar Tage. Für diesen Festakt praktizierten meine Eltern eine Zeremonie, die ich eher als Folterinstrument empfunden habe. Am besagten Abend aßen wir rechtzeitig zu Abend. Dann folgte das traditionelle: "Wir warten auf das Christkind." Ungeduldig saß ich in der Küche und wartete auf ein Zeichen. In diesem Fall war es der liebliche Klang des Weihnachtsglöckchens, dass nach Aussage meiner Eltern nur vom Christkind geläutet werden konnte. Es dauerte eine Weile, bis ich den ersehnten lieblichen Klang vernahm. Zusammen mit meiner Mutter betrat ich andächtig und voller Anspannung das Wohnzimmer in dem mein Vater auf uns wartete. Der Glanz der vom Weihnachtbaum ausging überwältigte mich. Eine Vielzahl von Wachskerzen brannten auf den Ästen, die zusätzlich mit Christbaumkugeln und reichlich Lametta geschmückt waren. Vor dem Weihnachtsbaum, der auf einem kleinen Tischchen stand, befand sich ein größeres Paket das meine volle Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Bevor die Bescherung ihren Höhepunkt erlangte wurden erst Weihnachtslieder gesungen. Es nahm kein Ende. Eine Strophe folgte der nächsten und weil wir so harmonisch miteinander sangen, stimmte meine Mutter immer wieder ein neues Lied an. Danach wurde der Plattenspieler betätigt und mit sanfter Hintergrundmusik wurde die Bescherung vollzogen. Mit vereinten Kräften lüfteten mein Vater und ich das Geheimnis unter dem großen Karton. Ein Wunsch war in Erfüllung gegangen, denn ein glänzend blaues Kinderfahrrad stand vor mir.
Wenn einem Autofahrer einmal der Sprit ausgegangen war, spottete der Volksmund im allgemeinen: "Wer sein Auto liebt der schiebt!" In den ersten Frühlingswochen gab ich der Volksseele genügend Anlass sich auf die Volksweisheit zu berufen. Da ich noch nicht alleine mit dem Fahrrad fahren konnte, schob ich es voller Stolz unsere Straße rauf und runter. Diese Vorgehensweise rief meinen Vater auf den Erziehungsplan. In einer Gemeinschaftsarbeit montierte er mit mir jenes Geschenk an das Fahrrad, das wenig Beachtung von mir erhalten hatte. Um es präziser auszudrücken; Er montierte und ich sah interessiert zu. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, denn vor mir stand ein wahrlich intelligentes Fahrrad, das in der Lage war ein ungeschicktes Kind zu tragen ohne umzufallen. In den folgenden Wochen fuhr ich nur noch mit meinem neuen Fahrrad. Die anderen Kinder in der Straße und deren Spiel interessierten mich vorerst nicht. Das war ja alles nur Kokolores, wie mein Vater immer zu sagen pflegte für Dinge, die nicht wichtig waren. An einem Samstagmorgen machte sich mein Vater an meinem Fahrrad zu schaffen. Eine Änderung vielleicht, um die Fahreigenschaften zu verbessern?
Durch das stufenweise höher stellen der Stützräder sollte ein Kind das Fahren mit dem Fahrrad ohne Stützräder schrittweise erlernen. So die angaben des Herstellers.
Das Verstellen der Stützräder war für mich keine Beeinträchtigung. Ich lernte das Hilfsmittel zuschätzen und war gewillt nie mehr darauf zu verzichten. Als die Höhenverstellung eher Anlass zum Umkippen gab, kam meine artistische Ader zum Vorschein. Die Nachbarn amüsierte die Darbietung mehr als meinen Vater, der eigentlich mit einem Erfolg nach ein paar Wochen gerechnet hatte. - Pusteblume! - Mittlerweile war mir das Hilfsmittel lieb und recht und mein Vater ging über zu Plan B. Väter haben in solchen Situationen immer einen Plan B. Es wäre ja gelacht, wenn der Bengel das Fahren ohne Stützräder nicht erlernen würde. So der Wortlaut meines Vaters. In dem Ton klang ein wenig Unverständnis für meine akrobatische Leistung die ich mittlerweile mit graziler Haltung auf dem Fahrrad darbot. Ob der Hang zur Artistik nun von Papas Seite oder von Mamas Seite stammte war egal, denn nun würden andere Seiten aufgezogen die einen hundertprozentigen Erfolg garantierten.
Während mein Vater ein paar Tage später erneut an den Stützrädern schraubte, war ich in dem Glauben, dass er sie erneut verstellen würde. Beim Abmontieren hatte ich dann doch Bedenken über die Richtigkeit dieser Maßnahme. Seine Erklärung und die aufmunternden Worte nahm ich aufmerksam zur Kenntnis. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich mir sicher: "Väter können lügen ohne rot zu werden!" Als er mich und mein Fahrrad in Richtung Straße schob zweifelte ich an der Richtigkeit des Vorhabens. Nach der simplen Erklärung meines Vaters, war das Fahrradfahren nur ein optimales Zusammenspiel von Bewegung und Gleichgewicht. Demnach sollte mein Treten in die Pedale und die daraus resultierende Bewegung des Fahrrades, in Verbindung mit meinem Gleichgewichtssinn eine kontinuierliche gradlinige Vorwärtsbewegung hervorrufen. Nach dieser simplen Gleichung sollte ich eigentlich selbstständig fahren. Tat ich aber nicht!
Die folgenden Tage blieben mir in schmerzhafte Erinnerung und mein Vater wird sie als trainingsreichste Zeit in seine Memoiren erwähnen. Für ihn galt es, die Erklärung in die Tat umzusetzen. Voller Überzeugung und mit einer großen Portion Mut saß ich erhobenen Hauptes auf dem Sattel und trat zuversichtlich in die Pedalen des Fahrrades. Als Sicherheitsaspekt lief mein Vater prustend neben mir her und hielt angestrengt meinen Sattel. Nachdem er den Sattel vorsichtig losgelassen hatte und abrupt stehen blieb, fiel ich einem natürlichen Gesetz zur Folge einfach um. Die Gesetzmäßigkeit der Gravitation hatte mich lange Zeit in ihrem Bann. Die Stürze waren allesamt spektakulär und hätten in der Wertung mindestens eine 9,5 bis 10 erhalten, wenn dies ein Pflichtprogramm für angehende Stuntkids war.
Auf Grund meiner unzähligen Stürze und den leichten bis mittelschweren Blessuren die ich davon trug, befürchteten meine Eltern das ich mit der Zeit Schaden nehmen könnte. Auch mein Vater hatte unter dieser sonderbaren Gegebenheit zu leiden. Das ständige nebenherlaufen verlangte von ihm ein erhebliches Potential an Ausdauer. Meinem Vater sei an dieser Stelle ein dickes Lob gegeben. Heute weiß ich, dass Eltern für die Zeit des Erziehens und des Lernens sehr viel Ausdauer und Geduld benötigen.
Für meine Eltern war diese Zeit nicht einfach. Aber wie es mit allen Dingen im Leben nun einmal so ist, es braucht seine Zeit. Meine Zeit kam auch und ein weiterer Wunsch ging in Erfüllung. Als ich endliche ohne fremde Hilfe und Hilfsmittel Fahrrad fahren konnte, war ich für eine gewisse Zeit sehr glücklich. Ebenso, meine Eltern. Aber Kinderwünsche versiegen nie.

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