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Frau Twist ist ganz wo anders

© Susanne Hagedorn-Menge


Sie ist spät dran, Eva wird schon auf sie warten. Margret hastet den Flur entlang. Zum Glück hält der Aufzug in dem Moment, als sie davorsteht. Ihr läuft ein Schauer über den Rücken, als sie sieht, wie voll er ist, aber die Leute machen ihr freundlich Platz und sie schlüpft in eine Ecke. "Auch nach unten?" Dröhnt ein dicker, älterer Herr und drückt auf den großen "E" Knopf. In seiner Glatze spiegelt sich das Deckenlicht, das sieht lustig aus und ein schüchternes Lachen hüpft in Margret hoch. Mit einem dumpfen Geräusch setzt der Lift auf, die Tür öffnet sich und die Leute strömen heraus. Vor ihr liegt, schneebedeckt, ein großer Parkplatz. Es ist eisig kalt, der Schnee glitzert und die Chromteile der Autos blitzen im gleißenden Sonnenlicht. Margret hält sich schützend ihre Hand über die Augen. Panik steigt in ihr hoch": Wo ist sie hier? - Ziellos läuft sie über den Platz. In ihren Beinen tobt ein stechender Schmerz und sie spürt ihr Herz rasen.` Wo ist der Kindergarten? - Wo ist Eva?` Kurz hinter dem Parkplatz entdeckt Margret einen Schutthügel. Erleichtert steuert sie darauf zu. Das ist sicher der Bombenschutt, hinter dem die Notbaracke des Kindergartens liegt.
Sie spürt eine bleierne Schwere als sie weiterläuft und in ihrer Brust fühlt es sich an als würde eine Faust ihren Atem zusammenpressen.
Keuchend schleppt sie sich den Weg entlang zum Schutthügel. `Woher kommen nur all diese Schmerzen, diese Schwäche`. Sie fühlt sich als sei es gar nicht ihr Körper in dem sie da steckt. Als Margret am Schutthügel ankommt ist sie vor Entsetzen wie gelähmt. Da ist kein Kindergarten! `Wo ist Eva? ! Es ist bitter kalt, Eva friert doch immer so schnell.` Alles ist so anders hier, riecht anders, Maschinen dröhnen um sie her. Nur die Kälte ist geblieben. Durch den Lärm hört sie jemanden ihren Namen rufen.
Eine Frau läuft winkend auf sie zu. Margret bleibt stehen, hoffentlich kann die ihr sagen, wie sie zum Kindergarten kommt. Die Fremde erreicht sie atemlos und ergreift ihre Hand.
"Frau Twist - sie holen sich noch den Tod hier draußen, kommen sie schnell ins Haus."
Margret weicht zurück Sie mag nicht, dass die Fremde sie anfasst. Sie will sie nach dem Kindergarten fragen - aber die Worte fallen ihr nicht ein.
"E… Eva" - stammelt sie stattdessen. "Eva... Eva!". Ihr bricht der Schweiß aus - sie findet die Worte nicht - jetzt haben die Worte sie auch noch verlassen! Vor Kälte und Panik zittert sie am ganzen Körper.
Die Frau umfasst ihre Schultern. Mit der anderen Hand tippt sie auf so einem kleinen Ding rum. Die Kälte zieht in Margrets Körper wie ein eisiger Tod. Sie spürt, dass da nicht mehr viel Zeit ist, sie muss Eva schnell finden. In ihrer Verzweiflung reißt Margret sich los und stößt die Frau beiseite.. Dabei fällt der das Ding aus der Hand und zerbricht auf einem Stein. Sie bückt sich nach den zerstörten Teilen, als sie sich wieder aufrichtet hat sie Tränen in den Augen.
"Ich bin es doch - Bärbel. Frau Twist, ich muss jetzt meine kleine Tochter abholen, ich bin schon viel zu spät dran. Bitte! - gehen Sie mit mir ins Haus!"
Margret ist erleichtert, die Frau hat also auch Sorgen um ihr Kind.
Tröstend streichelt sie der Fremden die Hand. Jetzt kommen auch die Worte wieder.
"Zusammen suchen?", fragt sie leise lächelnd.
Bärbel sieht Frau Twist genervt an "Aber das geht doch nicht, sehen sie..." sie hält inne - überlegt kurz: `Warum eigentlich nicht? Verwirrt wie Frau Twist im Moment ist, geht sie sicher nicht mit ins Haus. Sie kann mit dem kaputten Handy weder ihre Kollegen rufen, noch kann sie Frau Twist hier allein stehen lassen. Der Kindergarten ist nicht weit und vielleicht beruhigt sie sich während der Fahrt`.
" Also gut - einverstanden, kommen Sie mit."
Sie hakt die alte Frau unter, die bereitwillig mit ihr geht.
Ganz still sitzt Margret auf dem Rücksitz. Sie genießt das gleichmäßige Motorengeräusch. Häuser mit sauberen Vorgärten ziehen an ihr vorbei, aber das nimmt Margret nicht wahr. Sie fühlt, wie mit der aufkommenden Wärme die Verzweiflung schwindet, ihr Herz wird ruhiger. Bald, ganz bald wird sie bei ihrer Eva sein. `Jetzt wird alles gut, mein Liebes. Mama ist gleich bei dir und dann wird dir wieder warm.`
Vor dem Kindergarten wartet Jana noch als einzige mit der Erzieherin.
Sie ähnelt einem bunten Ball, wie sie mit ihrer roten Daunenjacke und der gelben Mütze auf Bärbels VW zuhüpft.
"Mensch Mama, bist du wieder spät," empört öffnet die Kleine die Wagentür und sieht überrascht Frau Twist auf dem Rücksitz..
"Warum hast du eine Oma mitgebracht?",
"Das ist Frau Twist, weißt du, damals in dem großen Krieg, von dem dir Opa mal erzählt hat, da ist ihre kleine Tochter gestorben. Heute ist Frau Twist sehr alt, aber manchmal glaubt sie, dass sie noch jung ist und ihre Tochter noch lebt und jetzt sucht sie sie hier." Erklärt Bärbel.
Jana klettert neben Margret in ihren Kindersitz.
"Aber du bist doch eine Oma, Omas haben doch gar keine kleinen Kinder mehr!" Belehrt Jana sie. Die strahlt, als sie Jana sieht und gibt ihr die Hand. Vertrauensvoll lächelt das Kind die Alte an und lässt sich die Hand halten. Als sie losfahren kuschelt sich die Kleine an die Rückenlehne und sieht nachdenklich zu Margret hoch.
"Hhmmm - duhuu Mama - manchmal, wenn ich ganz ganz traurig bin, dann denk ich mir, dass ich ganz wo anders bin, und dann ist es nicht mehr so schlimm. Vielleicht ist die Oma jetzt auch ganz wo anders und will nicht mehr zurück." Durch den Rückspiegel lächelt Bärbel das ungleiche Paar auf dem Rücksitz an, sie sieht dabei etwas traurig aus.
"Ach Jana, mein Schatz, bestimmt hast du Recht, Frau Twist ist jetzt sicher ganz wo anders."
Als sie wieder auf dem Parkplatz ankommen, ist Margret in dem warmen Auto fest eingeschlafen. Lächelnd hält sie Janas Hand in der ihren.

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