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Dez
01
Augenblicke
© Manfred Schröder

Das Gras hatte längst die Höhe überschritten, wo man noch von einem gepflegten Rasen hätte sprechen können. Dazwischen gelbliche Pflanzen, von denen Liisa nicht wusste, wie sie hießen. Auch durch den Schotterboden, der den Weg vom Gartenzaum zum Haus bedeckte, wucherte es grün hervor. Es war noch früh am Morgen, doch die Sonne wollte heute wohl alles wieder gutmachen, was sie die letzten Tage versäumt hatte. Am wolkenlosen Himmel strahlte sie, von einem leichten Wind gemildert, schräg über die Birken, die in einer Dreiergruppe im Garten standen, herab.

Eine Zeitlang stand sie unschlüssig am Fenster und schaute hinaus. Sich noch eine Tasse Kaffe kochen oder doch die unbequeme Arbeit mit dem Rasenmäher beginnen, dessen Messerbalken fast jede Schärfe verloren hatten. Sie entschied sich für eine Tasse Kaffee, zumal es auch Zeit war, Jukka zu wecken und ihm das Frühstück zuzubereiten.

Erst beim dritten Klopfen gegen die Tür seines Zimmers hörte sie ein ärgerliches "Ja, ja ..."

"Ich koche jetzt deinen Brei."

Jukka gab nur etwas Brummendes von sich.

"Wenn du nicht kommst, musst du ihn kalt essen, verstehst du?"

Sie wartete erst gar keine Antwort ab und ging in die Küche. Bald hörte sie das vertraute Zischen des Wassers, welches in den Filter tropfte.

Während der Brei im Topf brodelte, dachte sie daran, dass Jukka den Rasen mähen könnte. Er hatte Sommerferien und genug Zeit für seine eigene Freizeitgestaltung. Meist saß er vor dem Computer und spielte irgendwelche Spiele, die ihr manchmal Schrecken einjagten. An anderem schien er kein Interesse zu haben. Zuweilen trieb er sich mit seinen Freunden aus der Nachbarschaft irgendwo herum und kam erst spät nach Hause. Jukka war zehn und schien unaufhörlich zu wachsen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er ihr aus den Händen glitt. Doch ihr fehlte die Kraft, dem Einhalt zu gebieten. Vielleicht wollte sie etwas gutmachen, was sein Vater mit seinem ewigen Genörgel und Handgreiflichkeiten Jukka angetan hatte. Jetzt war er gegangen, doch sie war noch immer hilflos.

Nachdem sie ihren Kaffee getrunken hatte, erhob sie sich und klopfte wieder an Jukkas Tür. "Der Brei ist fertig. Nimm dir Beeren aus dem Eisschrank. Ich bin im Garten."

Er sagte etwas, das sie nicht verstand.

Die Standuhr in der Diele schlug neun und sie ging nach draußen. Sie wollte es doch mit dem Gras versuchen. Aus dem Schuppen nahm sie den Handrasenmäher und ging zur Holzbank um noch eine Zigarette zu rauchen. An ihren nackten Beinen fühlte sie ein weiches Reiben. Miiri, die Katze machte sich schmeichelnd bemerkbar und blickte sie aus ihren runden Augen an. An ihrem rechten Ohr klebte Blut. Sie musste wohl wieder in der Nacht mit einem Rivalen um das Revier gekämpft haben. Liisa streichelt sie nur einmal über den Rücken und ließ dann von ihr ab. Ihr Blick ging über die Felder, die vor ihr lagen. Kein Korn wogte da im leichten Sommerwind. Es waren Kartoffeläcker, die sich flach bis zum Horizont ausdehnten. Im Herbst würde sie den Bauern wieder helfen um etwas Geld dazu verdienen. Der Lohn im nahen Lebensmittelgeschäft, wo sie als Verkäuferin arbeitete, reichte so eben zum Leben. Zum Glück gehörte das Häuschen ihr. Sie sah auf den Rasenmäher und wollte sich erheben. Doch dann wusste sie, dass sie nichts tun würde. Auch Jukka nicht. Wenigstens nicht heute. Man brauchte einen neuen Rasenmäher.

Von der Tür her hörte sie seine Stimme. "Es ist kein Käse da."

In ihren Ohren war es die unzufriedene Stimme seines Vaters.

"Ja, ich weiß. Doch geh ins Geschäft und kaufe was." Ohne sich umzudrehen, wusste sie, wie er jetzt dastand. Mit hochgezogenen Unterlippen und mit zusammengebissen Zähnen. "Oder du musst warten, bis zum Abend. Wenn ich von der Arbeit komme."

Sie hörte seinen Fußtritt gegen die Tür. Sie schloss die Augen. Der Wind strich sanft über ihr Gesicht. Die Berührung tat ihr gut und sie wünschte, dass dieser Augenblick zur Ewigkeit werden würde. Doch nur einen Moment war ihr dieser Zustand gegönnt. Dann überfiel sie ein Schrecken, eine Angst, derer sie sich nicht zu wehren wusste und der sie hilflos ausgeliefert war. Es war die Angst vor dem Leben. Ein Frösteln durchzog sie und ihr Blick wurde starr. Dann löste sich alles in ihr. Sie verbarg ihren Kopf in die Hände und Tränen stürzten aus ihren Augen. Ihr Körper wurde vom Schluchzen hin und her gerüttelt. Sie bemerkte nicht den Nachbar, der über die Hecke mit fassungslosem Blick zu ihr herüberschaute, und gewahrte auch Jukka nicht, der jetzt hilflos neben ihr stand.

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